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Heino Speer :: 30. September 2012
Für eine eingehende Beschäftigung mit der österreichischen Rechtsgeschichte des 16. bis 18. Jhs., insbesondere mit der Geschichte des Privatrechtes ist in der zweiten Hälfte des vorigen Jhs. Dr. Carl Graf Chorinsky, zuletzt Präsident des Oberlandesgerichtes Wien († 1897)1, eingetreten. Ihm und seinen Mitarbeitern verdanken wir eine umfangreiche Sammlung lithographierter Mitteilungen und Abschriften betreffend neuere österreichische Rechtsquellen, die sog. Sammlung Chorinsky2. Besonders wichtig sind die Abschriften der Landesordnungsentwürfe für Österreich unter und ob der Enns aus dem 16. und 17. Jh.3 Diese Abschriften sollten eine Vorstufe zu einer textkritischen Ausgabe der Entwürfe darstellen; eine solche Edition bildet noch immer ein Desiderat der österreichischen Rechtswissenschaft.
Es handelt sich um vier Landesordnungsentwürfe für Österreich unter der Enns, den "Zeiger in das Landrechtsbuch" oder "Institutum Ferdinandi I." von 1528 (= Zeiger), den Entwurf Püdler von 1573, den Entwurf Strein-Linsmayr von 1595 und die "Kompilation der vier Doktoren" von 1654 (= Kompilation) sowie um die Landtafel für Österreich ob der Enns von 1609 (= Oe. Ltf.). Während Tirol schon im 16. Jh. seine Landesordnung erhielt, kamen Österreich unter und ob der Enns über das Entwurfsstadium nicht hinaus; die kaiserliche Sanktion blieb den Entwürfen versagt. Nur Teile der Kompilation der vier Doktoren wurden als selbständige Gesetze publiziert. Theodor Motloch4, ein Mitarbeiter Chorinskys, hat im Artikel "Landesordnungen (geschichtlich) und Landhandfesten (I. Österr. Ländergruppe)"5 [Seite: 614] die österreichische Kodifikationsgeschichte vom 16. bis 18. Jh. eingehend dargestellt6.
Die österreichischen Landesordnungsentwürfe haben in der Literatur nicht die verdiente Beachtung gefunden und wurden bei privatrechtsgeschichtlichen Untersuchungen nur selten verwertet7.
Herangezogen wurden diese Entwürfe bzw. die sonstigen Materialien zur österreichischen Gesetzgebung des 16. und 17. Jhs. in ihren Untersuchungen und Werken von Joseph v. Wörth8, C. Chorinsky9, R. v. Canstein10, Ernst Rabel11, Alexander Gál12, Robert Bartsch13, Egon Weiß14, Fritz Wisnicki15, Max Rintelen16 und in jüngster Zeit von G. Wesener17 und Wilhelm Brauneder18.
Die Landesordnungsentwürfe für Österreich unter und ob der Enns sind in zweifacher Hinsicht als Quellen für die österreichische Rechtsgeschichte, insbesondere die Privat- und Prozeßrechtsgeschichte von Bedeutung. [Seite: 615]
1. Die Entwürfe haben, abgesehen von Teilen der Kompilation der vier Doktoren19, nicht die kaiserliche Sanktion erlangt; der Landesordnungsentwurf für Österreich unter der Enns von 1573 (Entwurf Püdler) und der Entwurf für Österreich ob der Enns von 1609, die obderennserische Landtafel, haben aber in der Gerichtspraxis und in der Rechtsliteratur große Beachtung gefunden, so daß man von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung sprechen kann20
2. Die Landesordnungsentwürfe stellen zum Großteil keine Rechtsneuschöpfungen dar, sondern weitgehend Aufzeichnungen des in Österreich geltenden Rechtes. Sowohl das altösterreichische Gewohnheitsrecht, der Landesbrauch, als auch das gemeine Recht, die "geschriebenen, kaiserlichen Rechte" finden in den Entwürfen ihren Niederschlag. An Hand der einzelnen Entwürfe läßt sich der allmähliche Romanisierungsprozeß in materieller wie formeller Hinsicht schön verfolgen. Am stärksten ist der Einfluß des römisch-gemeinen Rechtes naturgemäß in der Kompilation der vier Doktoren (Mitte des 17. Jhs.)21.
In den Entwürfen wird häufig auf den althergebrachten Landsbrauch und auf die geschriebenen Rechte hingewiesen bzw. auf die Abweichungen der beiden voneinander22, so daß sich zumeist leicht feststellen läßt, ob ein Rechtssatz dem österreichischen Landesbrauch oder dem gemeinen Recht zuzurechnen ist. Die Entwürfe sind insoferne mit der in Österreich gepflegten Differentienliteratur vergleichbar23. Die üblichen Formulierungen in den Entwürfen lauten: "Der gemain landsprauch unsers furstenthumbs Österreich ist ..." (Zeiger III 10 § 2); "dem Landsbrauch nach"; "dem wissentlichen Landsbrauch nach"; "Und wiewohl bei denen geschribnen rechten versehen ..., so ist doch dem lantbrauch nach ..." (Püdler II 4 § 28); "... so ist doch solchem der uralte landsgebrauch und löblich herkhomen zuwider" (Oe. Ltf. V 6 § 1)24. [Seite: 616]
Max Rintelen hat in seinem wertvollen Beitrag zur Festschrift für A. Steinwenter25 das Verhältnis von Landsbrauch und gemeinem Recht im Privatrecht der altösterreichischen Länder26 eingehend untersucht und dargestellt, insbesondere auf Grund der juristischen Literatur der Zeit. Primär galt in Österreich der Landesbrauch, das gemeine Recht galt nur subsidär27. Wenn es aber die Rechtssicherheit verlangte, mußte der Landesbrauch den geschriebenen Rechten weichen28. Bekannt ist der Satz Bernhard Walthers (Traktat V c. 2/2): "Dan wa ein Landsbrauch zweiflig und ungewiß ist, soll yederzeit dem geschribnen Rechten nach erkennt werden".
Eine Durchsicht der Landesordnungsentwürfe und anderer Rechtsquellen bestätigt diese Prinzipien.
Nach dem "Zeiger in das Landrechtsbuch" ist die subsidiäre Geltung der geschriebenen Rechte noch eingeschränkt durch die Forderung, daß sich diese in Einklang befinden müssen mit dem löblichen Gebrauch und der Gewohnheit des Erzherzogtums und dem Grundsatz gleichen Rechtes und der Vernunft29. Der Gedanke der Geltung des römisch-gemeinen Rechtes imperio rationis klingt hier an30. Der Zeiger (I 3 § 4) gibt für den Landmarschall und die Beisitzer des Landrechtes31 folgende Anordnung: "Dann si sollen richten nach [Seite: 617] der ordnung und den gesazten dits landßrechtpuechs, die aber nit nach der redner oder gwalttrager auslegung wie si alle ding inen zu vortail teutschen, sonder wie die zu fürderung des rechten, gemaines nutz und die partheien am wenigsten zu belaidigen verstanden worden. Und sollen deshalben landmarschalch und beisitzer ausserhalb dits landßrechtpuechs auf andere geschribne recht nicht aufsehen noch achtung haben, dann allain in sachen und händlen, wo khain außgetrukht recht oder gesetzt hierin begriffen wär. Doch in denselben auch nit mer noch anderst dann nach löblichem geprauch und gewonhaiten dits erzherzogthumbs und so vil si die erberkhait und pillichait geleiches rechtens und ursach der vernunft weiset und bewegt".
Nach dem Entwurf Strein-Linsmayr32 sollte primär die Landesordnung gelten; wenn diese nichts bestimmte, der "gemein übliche Gebrauch", und wenn solcher ungewiß war, die "gemeinen geschriebenen kaiserlichen Rechte".
Im selben Sinne bestimmt die Landtafel für Österreich ob der Enns (III 14 § 12), daß bei Fehlen einer besonderen Abrede "üblicher Landsgebrauch und Gewohnheit" maßgebend sein sollen, bei Mangel derselben die "allgemeinen geschriebenen Rechte"33.
Die subsidiäre Geltung des gemeinen Rechts wird auch ausdrücklich ausgesprochen in Art. 16 ("Welchermassen zu erkenen") der innerösterreichischen Regierungsinstruktion vom 1. Juni 159734. Diese Bestimmung geht zurück auf die niederösterreichische Regierungsinstruktion vom Jahre 154535.
Art. 16 Abs. 1 lautet36: "Unser statthalter, canzler und regenten sollen in obbeschribnen und in allen andern sachen, die iner und ausserhalb rechtens [Seite: 618] für si komen, auf anlangen der parteien oder von amtswegen nach irem höchsten vleiß handlen und erkenen, was recht ist, also das si ir erkantnus tuen sollen nach obberierten unsern und unsers haus Österreichs, auch aines jedes lands freihaiten oder alten löblichen landsgebreuchen und wo aber die freiheiten oder die alten löblichen landgebreuch nit verhanden wären, als dann nach den gemeinen geschribnen rechten sprechen und erkenen bei dem aid, den si uns geschworen haben, und in summa alle sachen mit dapferkait und seinem bestendigen wesen handlen und regiern".
Die subsidiäre Geltung des römisch-gemeinen Rechts bringt für das 17. Jh. Nic. v. Beckmann in seiner "Idea juris statutarii et consuetudinarii Stiriaci et Austriaci cum jure Romano collati" (Graecii 1688), einem Werk der Differentienliteratur, im Art. Possessio (S. 345) zum Ausdruck37: "... darum ich dann billich, generaliter meinen Schluß also mache: daß so offt nichtes (1.) in der hochlöblichen Steyrischen Land-hand-fest, (2.) nichts in der Steyrischen Gerichtsordnung, (3.) nichts in der Land-Gerichts-Ordnung, und (4.) nichts in der Policey-Ordnung, und in den andern kleinen Steyrischen Rechten, als Berg-Rechts-Büchlein, Bergwercks-Ordnung, Zehend-Ordnung, pupillar-ordnung, etc. oder jure consuetudinario, specialiter contra jus R. verordnet, und contra jus R. geändert ist, so werden alle die übrigen Rechts-Sachen, juxta jus commune, und die allgemeine Kayserl. Rechten, regulariter decidiret, worbey es dann billich verbleibet, cum jura R. ex tribus rivis, vel fontibus. (puta: honeste vivere, neminem laedere, et suum cuique tribuere) fundatis, in jure naturae, et gentium naturali, quasi fluxu rationabiliter fluant, seque ad omnes humanas actiones, tam civiles, quam criminales, prudentissime extendant, et per consequens, in ipsa ratione naturali, et aequitate, regulariter se fundent, et ob id jura R. in tota Europa merito vigeant etc". Das jus consuetudinarium geht nach Beckmann dem jus commune nur dann vor, wenn es "specialiter contra jus R. verordnet, und contra jus R. geändert ist". Beckmann sieht die Geltung des römischen Rechtes dadurch gerechtfertigt, daß sich dieses regelmäßig auf die ratio naturalis und aequitas gründet.
Die Geltendmachung des Landesbrauchs wurde mit dem Erstarken des gemeinen Rechts immer mehr erschwert38. Im 16. Jh. war die Stellung des [Seite: 619] Landesbrauchs noch günstig. Die niederösterreichische Regierung verlangte noch keineswegs stets einen Beweis des Landesbrauchs von der den Landesbrauch geltend machenden Partei, sondern stellte allenfalls von Amts wegen Erhebungen über das österreichische Gewohnheitsrecht an39. In diese Zeit fällt auch die Anlegung des Consuetudinariums, einer Aufzeichnung des Landesbrauchs (seit 1554), und des Motivenbuches, einer Entscheidungssammlung (seit 1550), bei der niederösterreichischen Regierung40. Die Anlegung dieser Bücher geht wahrscheinlich auf eine Initiative des niederösterreichischen Regimentsrates und späteren Regierungskanzlers Bernhard Walther zurück41. Beide Werke sind leider nicht erhalten. J. B. Suttinger zitiert Consuetudinarien- und Motivenbücher sehr häufig in seinen Consuetudines Austriacae (1. Aufl. 1716, 2. Aufl. 1718)42.
Während man im 16. Jh. eine bloße Bescheinigung des Landesbrauches anerkannte, verlangte man im 17. Jh. vollen Beweis, sofern der Landesbrauch nicht notorisch war. Dies war er dann, wenn er im Motivenbuch oder Consuetudinarium der niederösterreichischen Regierung, in einem Landesordnungsentwurf oder bei einem anerkannten Schriftsteller wie Bernhard Walther, J. B. Suttinger oder Nicolaus von Beckmann überliefert war43.
Die Landesordnungsentwürfe und juristischen Autoren berufen sich mitunter auf die "natürliche Billigkeit"44. Diese Vorstellung tritt also schon lange vor den Naturrechtskodifikationen auf45. [Seite: 620]
Die Bedeutung der einzelnen Landesordnungsentwürfe für die rezeptions- und privatrechtsgeschichtliche Forschung ist unterschiedlich. Es muß daher auf die Entwürfe im einzelnen eingegangen werden.
Nachdem bereits unter Maximilian I. Reformbestrebungen aufgetreten und ein Plan zur Aufzeichnung des Privatrechtes entwickelt worden war46, entstand unter Ferdinand I. für Österreich unter der Enns der Entwurf einer Landesordnung in drei Büchern, der sog. "Zeiger in das Landrechtsbuch" oder "Institutum Ferdinandi I.", vollendet 152847.
Dieses Werk stand stark unter humanistischem Einfluß48. Es zeigt sich das Bestreben nach Worttreue der Übersetzung, wobei es oft zu künstlichen Wortbildungen kommt (z. B. Erfinder für Inventar, unterredliches Urteil für Interlokut)49. Der romanistische Einfluß ist sehr stark bemerkbar50. Für die Rechtspraxis ist dieses Werk ohne Bedeutung geblieben51. Wie Motloch52 mit Recht feststellt, hat dieser Entwurf die gestellte Aufgabe der Fixierung des Landesbrauchs nicht gelöst. [Seite: 621]
Die Vorrede zum I. Buch enthält rechtstheoretische Erörterungen; es wird eingegangen auf die Beweggründe zur Schaffung des Landrechtsbuches; die Begriffe Gerechtigkeit, Recht, "Gebot des rechten", "Teilung des rechten", Gesetz und Gewohnheit53 werden erläutert.
Der Verfasser des Landrechtsbuches ist unbekannt. Chorinsky54 hat die Vermutung ausgesprochen, daß es denselben Verfasser habe wie die Wiener Stadt- und Stadtgerichtsordnung Ferdinands I. von 152655; diese dürfte aber nicht das Werk eines einzigen Mannes sein56
.Das I. Buch des Zeigers handelt von den Gerichtspersonen beim landmarschallischen Gericht, das II. Buch vom Verfahren (1. Tit. "Von dem gericht und seiner ordnung")57; das III. Buch behandelt das Privatrecht in 18 Titeln58.
Eine Übereinstimmung mit der Bayerischen Landrechtsreformation von 151859 ist weder in der Gliederung noch inhaltlich festzustellen.
Der Verfasser des Zeigers lehnt sich oft sehr enge an römisch-rechtliche Definitionen und Rechtssätze an. Die Definition von "Gebrauch und nutz"60 ist eine Übersetzung der Definition des Ususfructus von Paulus (Dig. 7, 1, 1).
Zeiger III 5 § 11 enthält die römisch-rechtliche Bestimmung, daß ein Haussohn, der sein Reisegeld, sein viaticum, zum Darlehen gibt, vom Gericht Hilfe erlangen solle (Ulp. Dig. 12, 1, 17).
Zeiger III 5 § 15 normiert dem römischen Recht entsprechend, daß derjenige, der einem anderen ein Darlehen zum Bau oder zur Ausbesserung eines Gebäudes [Seite: 622] oder zum Kauf eines Grundstückes gibt, von Rechts wegen ein stillschweigendes Pfandrecht daran habe ("ainen haimblichen Satz"), das privilegiert sei61".
Die Bestimmung des Senatus Consultum Macedonianum (Verbot von Gelddarlehen an Haussöhne) findet sich im Zeiger III 6 § 1062:
Der Zeiger nimmt mitunter Bezug auf den "gemeinen Landsbrauch des Fürstentums Österreich” (III 9 § 2). Mehrfach wird bewußt vom römischen Recht abgegangen. So sieht der Zeiger (III 12 § 17) einen höheren Pflichtteil der Nachkommen vor (bei vier oder weniger Kindern die Hälfte, bei mehr als vier Kindern drei Viertel des gesetzlichen Erbteils) als das römisch-gemeine Recht: "Wiewohl die geschribnen khaiserlichen recht ain maß geben, was die eltern iren erben in den geschäften ires guets zuezustellen schuldig sein, so haben wir doch erwogen ..."63.
Die Gerhabschaft (Vormundschaft) über Knaben soll mit 18 Jahren endigen, bei Mädchen mit 14 Jahren64.
Das Landrechtsbuch Ferdinands I. ist vor allem von Bedeutung als ein Werk des juristischen Humanismus in Österreich65. Der Verfasser (bzw. die Verfasser) besaß eingehende Kenntnisse des römischen Rechtes, das er geschickt verwertete. Der Landesbrauch wird relativ wenig berücksichtigt66. In der Gerichtspraxis hat dieses Werk kaum Beachtung gefunden, so daß ihm für die Rezeptionsgeschichte keine allzu große Bedeutung zukommt67.
Von weit größerer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die "Landtafel oder Landesordnung des Erzherzogtums Österreich unter der Enns" von 1573, der [Seite: 623] Entwurf Püdler68, so benannt nach seinem Verfasser, dem niederösterreichischen Regimentsrat Dr. Wolfgang Püdler. Püdler hatte in Padua studiert (1549), wurde 1553 Professor des kanonischen Rechtes und Mitglied des Doktorenkollegiums in Wien, 1567 Regimentsrat; er war ein Vertreter des mos Italicus, der Methode der Kommentatoren69.
Püdler verwendete für seinen Landesordnungsentwurf neben den "geschriebenen weltlichen und geistlichen Rechten" und gemeinrechtlicher Literatur "etliche deutsche Bücher, Landesordnungen, Gerichtsordnungen und Statuten, ferner das Generalienbuch bei der n.-ö. Kanzlei und das Konsuetudinarium bei der n.ö.- Regierung, endlich die Kirchbergerschen oder Waltherschen Traktate". Besonders die Traktate Bernhard Walthers hat Püdler, wie er selbst anführt, sehr stark herangezogen. Seine vier Bücher sind, wie er sagt, nichts anderes als "ein gewünschter summari begriff des ganzen kaiserlichen rechtens und der hieländischen landbreuch"70.
Der Entwurf Püdler besteht aus vier Büchern (Prozeßrecht, Kontrakte, Erbrecht, jura incorporalia)71; er ist sehr umfangreich und leidet an einer allzustarken Kasuistik.
Dieser Entwurf stellt weitgehend eine bloße Aufzeichnung des in Österreich unter der Enns geltenden Rechtes und keine Neuschöpfung dar. Püdler beruft sich zu wiederholten Malen auf den althergebrachten ("überuralten") Landsbrauch, dessen fortdauernde Geltung er allerdings als romanistisch geschulter Jurist entweder mit ausdrücklicher Konfirmation des Landesfürsten oder mit Immemorialpräskription begründet72. Dieser Entwurf ist von [Seite: 624] größter Bedeutung als Erkenntnisquelle des altösterreichischen Gewohnheitsrechtes73.
In starkem Maße hat er gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt und ist von der Gerichtspraxis und Rechtsliteratur stark beachtet worden74. Das sog. "Jus consuetudinarium Austriacum", das öfters zitiert und fälschlich Bernhard Walther zugeschrieben wurde, z. B. von B. Finsterwalder75, ist nichts anderes als der Entwurf Püdler76.
Die erste Überarbeitung des Entwurfes Püdler stammt von dem niederösterreichischen Regimentsrat und Reichshofrat Dr. Melchior Hofmayr aus den Jahren 1584 bis 158677. Diese Bearbeitung ("Landtafel des Erzherzogtums Österreich unter der Enns") sollte aus drei Teilen bestehen (I. Von den Personen, II. Von allerlei Kontrakten und anderen Handlungen, III. Von den Aktionen oder Klagen) und somit dem Institutionensystem folgen. Infolge des frühen Todes des Verfassers (1586) blieb dieser Entwurf fragmentarisch. Vom I. Teil sind sechs Bücher vorhanden, vom II. Teil nur drei Titel des I. Buches (Vom Kaufe, Einstandsrechte und Scherm, Bestandrechte)78.
Eine weitere Umarbeitung der Landesordnung (Landtafel) für Österreich unter der Enns erfolgte durch die Mitglieder des protestantischen Herrenstandes Reichart Strein Freiherrn von Schwarzenau und Hertenstein79 und [Seite: 625] Dr. Johann Bapt. Linsmayr zu Weinzierl80. Reichart Strein war Sprecher des protestantischen Herrenstandes, ein bedeutender Geschichtsforscher und durch seine vielfältigen Amtsgeschäfte sehr in Anspruch genommen. Er selbst hat nur am I. Buch der Landesordnung mitgearbeitet81; die Ausarbeitung des Werkes erfolgte durch Dr. Linsmayr82.
Dieser Landesordnungsentwurf von 1595 (Entwurf Strein-Linsmayr)83 umfaßt sechs Bücher (I. Gerichtspersonen und Zivilprozeß, II. Kontrakte, III. Testamentarisches Erbrecht, IV. Intestaterbrecht, V. Jura incorporalia und Lehensrecht, VI. Strafrecht)84. Auch diesem Entwurf blieb die kaiserliche Sanktion versagt85.
Im Nov. 1615 wurden die unterbrochenen Beratungen wieder aufgenommen und ihr Ergebnis in den vom Syndicus der Landschaft Dr. Christoph Hafner konzipierten Additiones et notae (zum Entwurf Püdler) zusammengefaßt86. Seit dem Jahre 1630 fehlt jeder Beleg für eine Fortsetzung dieser Kodifikationsarbeiten87.
Die Umarbeitung durch Strein und Linsmayr zeichnet sich gegenüber dem Entwurf Püdler, der als Grundlage diente, durch ihre knappe und präzise Ausdrucksweise und generalisierende Methode aus; sie stellt gesetzgebungstechnisch einen großen Fortschritt dar. Die Titeleinteilung ist weitgehend übernommen. Inhaltlich lassen sich gegenüber dem Entwurf Püdler keine allzu großen Änderungen feststellen88. [Seite: 626]
Die Bedeutung dieses Entwurfes für die Rechtspraxis war viel geringer als die des Entwurfes Püdler; dies ergibt sich schon aus der weit geringeren Anzahl von Handschriften89. Der Entwurf Püdler, auch bezeichnet als "Jus consuetudinarium Austriacum" (s. o. bei Anm. 76), wurde weiter in der Praxis herangezogen.
Bis zur Mitte des 17. Jhs. ruhte die Kodifikationstätigkeit. Die Macht der Stände, die bisher die Gesetzgebungsarbeiten vorangetrieben hatten, war stark geschwächt90. Der Dreißigjährige Krieg wirkte naturgemäß hemmend91. Die Macht des Landesfürsten war inzwischen so gestiegen, daß von einer Landesordnung nur eine Festigung seiner Stellung zu erwarten war.
Der Anstoß zur Wiederaufnahme der Gesetzgebungstätigkeit ging aus vom Landmarschall für Österreich unter der Enns, Georg Achaz Grafen zu Losenstein, der im Jahre 1650 mit einem Plan hervortrat, der durch den österreichischen Kanzler Dr. Johann Matthias Prickhelmayer beeinflußt war. Zur Beseitigung der bestehenden Rechtsunsicherheit empfahl der Landmarschall die Aufrichtung einer Landesordnung, damit sich das Land nicht einzig und allein dem Gutdünken der Doktoren und Rechtsgelehrten unterwerfen müsse. Dem neu zu wählenden Ausschuß sollten vier Doktoren beigezogen werden, welche die vorliegende Landtafel zu bearbeiten hätten92. Es handelte sich hierbei um den niederösterreichischen Regimentskanzler Johann Bapt. Suttinger von Thurnhof93, den Landschreiber Johann Michael von Seiz, seit 1654 niederösterreichischer Regimentsrat, und die beiden Syndici der Landschaft Johann Georg Hartmann und Johann Leopold94.
Nach einem Beschlusse des Kollegiums vom Jahre 1654 sollte die Landesordnung, die heute als "Kompilation der vier Doktoren" bezeichnet wird95, aus sechs Büchern bestehen (I. Die gerichtlichen Handlungen insgeheim, II. De contractibus, III. De testamentis, IV. De successionibus ab intestato, V. De feudis, VI. Von der Landgerichtsordnung). Die Landgerichtsordnung sowie die der Landesordnung zugerechnete Gerhabschaftsordnung blieben schließlich bei der Bücherzählung unberücksichtigt; das V. Buch wurde hingegen in zwei [Seite: 627] Teile zerlegt, von denen der erste das Lehnrecht, der zweite die jura incorporalia behandelt96.
Dieser Landesordnungsentwurf weist bereits einen wesentlich stärkeren Einfluß des römisch-gemeinen Rechtes auf als die Redaktionen Püdler und Strein-Linsmayr97. Die Verfasser waren Rechtsgelehrte, die mit dem gemeinen Recht, aber auch mit dem Landesbrauch sehr vertraut waren. Dieser Entwurf gibt Zeugnis für den gestiegenen Einfluß der gemeinrechtlichen Doktrin in Österreich98.
Rechtshistorisch von großer Bedeutung sind die Anmerkungen (Allegate) zu den einzelnen Paragraphen dieses Entwurfes99, welche die Quellen angeben, aus denen die Verfasser geschöpft haben100.
Angeführt werden für das römisch-gemeine Recht Institutionen, Digesten, Codex, Authentiken und die Glosse, Juristen wie Bartolus de Saxoferrato, Alexander Tartagnus (Imolensis), Jason de Mayno, Felinus Sandeus, die Consultationes des Tiberius Decianus101, Cuiacius, Matthaeus Wesembeck102, M. Berlichius103, der Institutionenkommentar von Joh. Schneidewein104, sehr häufig Bernhard Walthers Traktate105, J. B. Suttingers Observationes practicae (1650), die Polizeiordnung Ferdinands I. für die fünf niederösterreichischen Länder von 1552 (repetiert und reformiert 1568)106, eine "Grundbuchsordnung oder instruction"107, die Nürnberger Reformation [Seite: 628] von 1564, das Bayerische Landrecht von 1616108, der Bayerische Gantprozeß und die Bayerische Malefizordnung von 1616109, weiters kaiserliche Generalia und Resolutionen, Entscheidungen des landmarschallischen Gerichts für Österreich unter der Enns und der niederösterreichischen Regierung, Consuetudinarien- und Motivenbücher der niederösterreichischen Regierung (s. o. bei Anm. 40), die Landtafel für Österreich ob der Enns (s. u.), zitiert als "Oberens. l. o.", der "Landsbrauch, so durch viel exempla könte bestättigt werden" (Anm. h zu II 22 § 6), die "practica quotidiana in hac provincia" (Anm. i zu 11 10 § 9) und der "Wienerische Stadtgebrauch" (Anm. r zu II 13 § 18).
Während die Kompilation der vier Doktoren als Ganzes betrachtet gleichfalls Entwurf blieb, wurden einzelne Teile davon als selbständige Gesetze publiziert110, so die Gerhabschaftsordnung am 18. 2. 1669 für Österreich unter der Enns111, der Tractatus de juribus incorporalibus am 13. 3. 1679 für Österreich unter der Enns112 und die "Neue Satz- und Ordnung vom Erbrecht außer Testament" im Jahre 1720 für Österreich unter der Enns, 1729 für Österreich ob der Enns und Steiermark, 1737 für Krain und 1747 für Kärnten113.
So war den Kodifikationsbestrebungen in der niederösterreichischen Ländergruppe doch ein Teilerfolg beschieden; wichtige Gebiete des Privatrechtes und des öffentlichen Rechtes hatten eine gesetzliche Regelung erhalten.
Die Einführung der "Neuen Satz- und Ordnung vom Erbrecht außer Testament" bedeutete eine Spätrezeption114 des römischen Rechtes auf dem Gebiete der gesetzlichen Erbfolge. Die justinianische Intestaterbfolge wurde fast unverändert übernommen. Erst jetzt wurde mit den tiefverwurzelten Grundsätzen des österreichischen Gewohnheitsrechtes, Ausschluß der Aszendenten von der Erbfolge und Fallrecht, gebrochen115. Diese "Neue Satz- und [Seite: 629] Ordnung" galt bis zum Josephinischen Erbfolgepatent von 1786, das die Parentelenordnung brachte116.
In Österreich ob der Enns tauchten Kodifikationsbestrebungen erst in der späten Regierungszeit Ferdinands I. (um 1560) auf117. Man wollte hier an die Gesetzgebung in Österreich unter der Enns anschließen und wartete auf deren Ergebnisse.
Die Vorarbeiten in Österreich ob der Enns setzten ein unter dem evangelischen Stadtschreiber von Linz, Veit Stahel118.
Aber erst im Jahre 1609 entstand die "Landtafel des Erzherzogtums Österreich ob der Enns" in sechs Teilen (I. Gerichtspersonen, II. Zivilprozeß, III. Kontrakte einschließlich der jura incorporalia und des ehelichen Güterrechts, IV. Testamentarisches Erbrecht, V. Intestaterbrecht, VI. Lehnrecht)119. Verfasser dieser Landtafel war der herzogl. bayrische Rat zu Neuburg, Dr. Abraham Schwarz, der von den oberösterreichischen Ständen berufen und Professor der Institutionen an der ständischen Landschaftsschule in Linz wurde120. Schwarz benützte die im Lande verbreiteten Walther'schen Traktate121 und den Entwurf Püdlers, während ihm die Redaktion Strein-Linsmayr unbekannt war122.
Diese Landtafel für Österreich ob der Enns erlangte, obgleich auch ihr die kaiserliche Sanktion versagt blieb, gesetzesgleiche Geltung und beherrschenden Einfluß in der Rechtspflege und Literatur bis in das 18. Jh.123. So schreibt De Luca in seinem Justizcodex124: "Die oberenserische Landtafel hat niemals eine Landesfürstl. Bestätigung erhalten, indessen war solche per Consuetudinem immer in Übung. Die Weingärtler und Fünsterwalder berufen [Seite: 630] sich in ihren Schriften bei jedem Vorfalle darauf. Das Original besitzen die Herrenstände". Dieselbe Auffassung über die gewohnheitsrechtliche Geltung der Oe. Landtafel findet sich in einem "Bericht an das o. ö. Verordnetenkollegium über die Entstehung und Rechtsgiltigkeit der obderenserischen Landtafel" vom 16. Nov. 1836125. Dieser Bericht enthält folgende Feststellungen: "Es ist demnach gewiß, daß die unter dem Namen der o. ö. Landtafel geschehene Zusammenstellung der Rechte und Gewohnheiten dieser Provinz niemals die landesfürstliche Bestätigung erhalten hat.... Die Verfassung des Landes ob der Enns ist nun in dem Consuetudinario, dem Landrecht, der Landtafel dieser Provinz enthalten; diese Landtafel war das jus publicum, und jus privatum, sowie die Gerichtsordnung dieser Provinz, sie bestand als Gewohnheitsrecht so wie sie selbst nur aus der Zusammenstellung der Landesgewohnheiten entstanden ist, sie mußte als solches gelten, weil ein anderes nicht vorhanden war, und doch Recht gesprochen werden mußte ... ... der kais. Befehl vom 2. Juni 1631 enthält die Worte: "Weilen wir die vorhero im Lande gebräuchliche Landtafel wiederum von Neuem revidieren lassen...". Die gefertigte Commission glaubt hiemit ihre Aufgabe gelöst und dargetan zu haben, daß die o. e. Landtafel eine authentische Rechtsquelle war...".
Die Landtafel für Österreich ob der Enns ist so wie der Entwurf Püdler (für Österreich unter der Enns), ja in noch stärkerem Maße, Erkenntnisquelle für den Landsbrauch und das löbl. Herkommen. Der Einfluß des römisch-gemeinen Rechts war in Österreich ob der Enns im allgemeinen geringer als in Österreich unter der Enns, wo der Einfluß der gelehrten Juristen stärker war126. Aber auch in der Landtafel für Österreich ob der Enns finden sich typisch römisch-rechtliche Sätze und Konstruktionen, so die Altersgrenze von 25 Jahren für die Großjährigkeit und die Konstruktion des negotium claudicans beim Abschluß von Rechtsgeschäften durch Minderjährige ohne Einwilligung ihrer Eltern oder Gerhaben (Oe. Ltf. III 1 § 4; vgl. III 37 § 5).
Die größte Bedeutung für die Kenntnis des in Österreich unter und ob der Enns im 16. und 17. Jh. geltenden Rechtes kommt neben der juristischen Literatur der Zeit, insbesondere Bernhard Walthers Traktaten und Joh. Bapt. Suttingers Consuetudines Austriacae127, dem Entwurf Püdler von [Seite: 631] 1573 und der Landtafel für Österreich ob der Enns von 1609 zu. Eine textkritische Ausgabe dieser beiden Werke erscheint daher als besonders wünschenswert.
Das Landrechtsbuch Ferdinands I. ist vor allem von Interesse als Werk der humanistischen Jurisprudenz in Österreich, die hier in der ersten Hälfte des 16. Jhs. eine bedeutende Rolle gespielt hat. Der Entwurf Strein-Linsmayr gibt Zeugnis für die fortgeschrittene Gesetzestechnik, weicht aber inhaltlich nicht allzu stark vom Entwurf Püdler ab. Den Einfluß des Protestantismus auf den Entwurf Strein-Linsmayr sowie die Oe. Landtafel hat jüngst W. Brauneder128 aufgezeigt. In der Kompilation der vier Doktoren wird der fortgeschrittene Einfluß des römischen Rechts bzw. der gemeinrechtlichen Doktrin in Österreich sichtbar; sie ist aber auch für die Kenntnis des Landesbrauchs von Bedeutung. A. Steinwenter129 hat auf die in der österreichischen Rechtsliteratur und bei den Gesetzgebungsarbeiten vom 16. bis ins 18. Jh. bestehende Tendenz hingewiesen, "das im Lande geltende Recht eigener und fremder Herkunft unter einheitlichen Gesichtspunkten darzustellen"130.
Der verehrte Jubilar, dem wir viele wertvolle Untersuchungen zur österreichischen Wissenschaftsgeschichte verdanken131, hat in seinem eindrucksvollen Vortrag auf dem 15. Deutschen Rechtshistorikertag 1964 in Wien über "die Geschichte der Erforschung des deutschen Rechts in Österreich"132 die Bedeutung der österreichischen Privatrechtsgeschichte entsprechend gewürdigt.
Anschrift des Verfassers: o. Univ.-Prof. Dr. Gunter Wesener, A-8010 Graz, Rosenberggürtel 21