Quelle: Bernhard Roll, Ordnung des Gerichts. Zum Text. In: Rhetorica deutsch. Rhetorikschriften des 15. Jahrhunderts. Herausgegeben von Joachim Knape und Bernhard Roll ( = GRATIA. Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung 40). Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2002. S. 289 - 304.
Über den oder die Verfasser der kleinen Schrift, die vermutlich um das Jahr 1472 herum zum ersten Mal bei Johann Bämler in Augsburg gedruckt und in den folgenden Jahrzehnten unter verschiedenen Titeln wie "Processus iuris", "Ordnung und Unterweisung", oft auch nur unter der Anfangszeile bis über die Jahrhundertschwelle überliefert wurde, ist nichts bekannt.
Es sollten zwei Verfasser in Erwägung gezogen werden, da es sich bei der "Ordnung des Gerichts" um zwei relativ selbständige Traktate handelt: I. Eine deutsche Anleitung zur Gerichtsrede (im folgenden "Gerichtsrhetorik"), II. die Übersetzung und Bearbeitung einer kleinen kanonischen Prozeßordnung des 13. Jhs. (im folgenden "Gerichtsordnung").1 Beide Texte behandeln das Gerichtsverfahren, wobei die "Gerichtsrhetorik" allgemein gehaltene Ratschläge zur Körperhaltung, zur Rede vor Gericht sowie einige Sentenzen über das Recht gibt. Die "Gerichtsordnung" bildet den größeren und gewichtigeren Teil; sie umreißt in einfacher Form die Grundlagen und den Ablauf des römisch-rechtlichen Gerichtsverfahrens. Die Kombination der beiden Traktate — einerseits Hilfe für die kommunikativ strategischen Aspekte des Verfahrens und andererseits systematischer Aufschluß über Funktionsweise und organisatorischen Ablauf eines Gerichtsverfahrens — erweist sich durchaus als sinnvolle Ergänzung; auch haben spätere Nachdrucke die beiden Traktate stets als zusammengehörig verstanden. Aber es fehlen Kohärenzmerkmale oder textpragmatische Abstimmungen zwischen den beiden Traktaten, was bereits in der ersten [Seite: 290] Zeile deutlich wird: In dem namen der heyligen vnd vnteilperen triuältikeyt, amen. Von ordnung ze reden vnd besunder zu angedingtem freüntlichem rechten. Die inhaltliche Angabe ordnung ze reden bezieht sich klar auf die "Gerichtsrhetorik", auch der Ausdruck "freundliches Recht“ fügt sich nur zum Inhalt der "Gerichtsrhetorik" und nicht zur "Gerichtsordnung". Das Attribut früntlich steht im Volksrecht häufig im Zusammenhang mit gerichtlichen Auseinandersetzungen, bei denen sich beide Parteien unter Verzicht auf gewaltsame Pfandnahme, Rache oder Fehde zu einer gütlichen Einigung verstehen.2 Besonders häufig erscheint früntlich im Kontext der sogenannten Schiedsgerichtsbarkeit, bei der sich die beiden Gegner unter Umgehung der regulären Instanz auf einen Richter oder auf ein Spruchkollegium einigen und sich verpflichten, sich dem Spruch zu unterwerfen.3 Verfahren und Spruch sollten vorrangig den Erhalt des Friedens absichern und zielten auf eine gütliche, einvernehmliche Lösung. Die Ratschläge und Vorschriften in der "Gerichtsrhetorik" passen genau zu diesem Verfahrenstyp: Dem Gerichtsredner wird das Erregen von Emotionen untersagt, er soll nur mit milder Stimme reden und keine Körpergestik einsetzen, auch soll er sich nicht erzürnen lassen — er soll mit einem Wort alles unterlassen, was den früntlichen Charakter des Verfahrens gefährden könnte.4 Ein direkter Bezug zur römisch-rechtlichen "Gerichtsordnung" ist hingegen nicht zu erkennen.
In den späteren Drucken zeigt sich, daß die Inhaltsangabe der ersten Zeile als unbefriedigende Lösung angesehen wurde. Im Nachdruck von Knoblochtzer (Heidelberg 1490) wird der Ausdruck früntlich recht gestrichen und auf die römischrechtliche Gerichtsordnung verwiesen: In dieszem nachgesetzten tractat wirt gemelt / ein kurtzbegriffen ordnung vnd volfurung zubeschirmen vnd handeln ein yde sach in recht. noch dem nutzlichsten vnd kurtzsten : Ausz Babstlichen vnd Keiserlichen gesatzen entsprossen.5 [Seite: 291]
Die Informationen, die der Autor der "Gerichtsrhetorik" über sich preisgibt, sind denkbar gering. Er verweigert explizit jeden Hinweis auf seine Person oder auf die von ihm verwandten Quellen. Unter Rückgriff auf die übliche Bescheidenheitstopik bezeichnet er sich lediglich als "einfachen Menschen" und stellt seine Person hinter den Text zurück: also würt auch ein gúte lere, von einem schlechten menschen außgangen, in des weysen menschen gehörde nit verachtet (1,1). Die Verweigerung von Quellenangaben begründet er allgemein mit Kürze und leichterer Handhabbarkeit, stellt zugleich aber auch klar, daß dies nicht aus Unwissenheit heraus geschieht: Denn söliche allegaciones, das ist anzeygen, wa yedes grüntlich auß gee, nit von vnwissen des tichters, sunder von kürcze vnd verkerens wegen auß gelassen sind (1,1). Vielmehr gibt er sich durch die zahlreichen lateinischen Zitate, deren Übersetzung er nachschiebt, als gelehrt und lateinkundig zu erkennen (1,1). Doch schon das erste Zitat wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Arbeitsweise: vnd nach volgen dem meyster Seneca: Non cura quis dicat etc. — Nit acht, wer, sunder waz geseczt werde (1,1). Ulrich Tengler, dem die "Ordnung des Gerichts" ebenfalls vorlag und der sie für seinen "Laienspiegel" auch verwertete, hat als Quelle die Seneca zugeschriebene Abhandlung "De quatuor virtutibus" ausgemacht.6 Im Vergleich mit einem Druck von 1499 zeigt sich, daß der Autor der "Gerichtsrhetorik" daher eher nachlässig zitiert: Non te mouerat dicentis autoritas nec quis dicat sed quid dicatur attende.7 Möglicherweise hat der Autor hier nicht aus dem Text exzerpiert, sondern eine Florilegiensammlung benutzt.
Die nachfolgenden lateinischen Zitate wurden aus völlig disparaten Zusammenhängen zusammengestückelt: Das Zitat, das direkt an Pseudoseneca anschließt und dieses illustrieren soll — rosa ex spinis orta nequaquam blasphematur — vnd als ein wolschmäckende rosa auß einem groben doren nit verachtet würt, also würt auch ein gúte lere, von einem schlechten menschen außgangen in des weysen menschen gehörde nit verachtet (...) geht, wohl auf die im Spätmittelalter viel gelesene und übersetzte "Disciplina clericalis" des Petrus Alfonsi zurück.8 Ein anderes, Sit omnis homo velox ad audiendum (...), entstammt dem Jacobusbrief,9 ein weiteres — Quia discrecio est mater virtutum — findet sich bei zahlreichen Kirchenschriftstellern, [Seite: 292] unter anderem in der Ordensregel des Hl. Benedict.10 Der ursprüngliche Kontext dieser Zitate steht dabei in keinem näheren inhaltlichen Zusammenhang mit der "Gerichtsrhetorik". Sie dienen dem Autor aber nicht dazu, Gelehrsamkeit oder Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen. Die Sentenzen sollen vielmehr den Ratschlägen, die sich auf die unmittelbare Redesituation vor Gericht beziehen, mehr Glaubwürdigkeit verschaffen, und diese speist sich aus dem eher bodenständigen sprichwörtlichen Charakter als dem gelehrten Anspruch der Sentenzen. Es erscheint somit auch hier sehr wahrscheinlich, daß der Autor nicht die Texte selbst benutzt, sondern Proverbiensammlungen herangezogen hat. Die beiden zuletzt genannten Zitate könnten als Indizien dafür gewertet werden, daß es sich bei dem Autor der "Gerichtsrhetorik" um einen Kleriker gehandelt hat.
Im übrigen weisen die Zitate, wie überhaupt die gesamte "Gerichtsrhetorik", keine Bezüge zur Legistik auf.11 Vermutungen über seinen Bildungshintergrund lassen sich auf Grund der Zitate nur schwer anstellen; es erscheint aber unwahrscheinlich, daß er die Rechte studiert hat. Wohl eher ist der Autor jenem Kreis von Praktikern zuzurechnen, die als Hilfspersonen der Rechtspflege an Gerichten tätig waren und an die sich dieser Traktat wohl vor allem wendete. Im mittelalterlichen, einheimischen Recht waren Beratung und Unterstützung der Parteien und unterstützende Tätigkeiten nicht auf Procuratoren oder Anwälte beschränkt. Neben diesen betätigten sich auch Gerichtsredner, die innerhalb der Schranken für eine der beiden Parteien sprachen. Außerhalb der Schranken berieten Anweiser und Schirmer ihre Mandanten oder nahmen in anderen Formen auf den Prozeß Einfluß. Auf diese Gruppe wird etwa im bereits erwähnten Nachdruck von Knoblochtzer angespielt, wo von beschirmen und handeln die Rede ist.12 Die "Gerichtsrhetorik" enthält keine direkten Verweise auf juristische Bestimmungen oder Verfahrensregelungen, vielmehr werden Inhalte als sentenzenhaft aufbereitete, leicht faßliche und einprägsame Verhaltensmaßregeln vermittelt, die ganz auf die unmittelbare Kommunikationssituation vor Gericht und hier vor allem auf den Wechsel von Rede und Gegenrede, Anklage und Verteidigung zugeschnitten sind. Der Autor [Seite: 293] empfiehlt, die Rede klar zu gliedern und bei mehreren Argumenten das wichtigste an den Schluß zu setzen. Ein erklärtes Ziel besteht wie bereits erwähnt darin, jede Emotionalisierung bei Rednern und Zuhörern zu vermeiden. Jede Körpergestik wird untersagt — das "Sprechen mit den Händen" — ebenso wie auch der gefühlsbetonte Einsatz der Stimme. Damit ist offensichtlich jeder Bezug zur rhetorischen Gerichtsrede nach klassischem Verständnis gekappt oder doch sehr stark reduziert. Wirkmächtig und zugelassen sind ihm zufolge allein das Anfuhren von Beispielen und Präzedenzurteilen.
Dagegen kommen Gerichtsschreiber und Notare als vorrangig vom Autor intendierte Rezipienten nicht in Betracht. Schriftlichkeit spielt in der "Gerichtsrhetorik" keine nennenswerte Rolle: Sie ist erkennbar auf die mündliche Verfahrenswirklichkeit bezogen, trotz Übernahme einzelner Bestandteile aus Schreiberhandbüchern finden sich keine Hinweise auf prozeßrelevante Schriftformen wie Protokoll, Gewalt- oder Urteilsbriefe. Dies ist bemerkenswert, denn im Bereich der volkssprachlichen Rechts- und Rhetorikliteratur dominierten Schreiber und Notare das Feld der Veröffentlichungen weitgehend.13
Über den Übersetzer und Bearbeiter der "Gerichtsordnung" läßt sich nichts Genaues ermitteln. Immerhin lassen sich zwei Besonderheiten konstatieren: Einige der Textstellen, die in der zugrunde liegenden lateinischen Quelle auf das kanonische Recht zugeschnitten waren, wurden umgearbeitet. Die lateinische Quelle nennt nur geistliche Instanzen wie Papst, Bischof und von diesen abgeleitete Gerichtsbarkeiten; in der deutschen "Gerichtsordnung" werden diese Instanzen um die entsprechenden weltlichen wie dem Kaiser etc. ergänzt; die für das Nichterscheinen der beklagten Partei vorgesehene Strafe der Exkommunikation wird in die weltliche des Banns verwandelt; der Straftatbestand der Häresie entfällt gänzlich.
Ebenso wie bei der "Gerichtsrhetorik" scheiden auch für die "Gerichtsordnung" Notare oder Gerichtsschreiber als Rezipienten weitgehend aus. Auch für die "Gerichtsordnung" ist zumindest ein Desinteresse an prozessualer Schriftlichkeit festzuhalten. So ist die zugrundeliegende lateinische Quelle, wie andere Vertreter der Gattung Ordo iudiciarius auch, mit Formularvorlagen für Klagschriften, beurkundete Gerichtsurteile, schriftliche Zeugenaussagen, Protokollmuster und andere verwandte Textsorten gesättigt. Der Übersetzer oder letzte Redaktor der "Gerichtsordnung" hat zwar die grundsätzliche Schriftlichkeit des Verfahrens nicht in Frage gestellt, er übernahm hingegen keines der lateinischen Textmuster in die deutsche Fassung und fügte auch keine vergleichbaren, in der deutschen Prozeßpraxis [Seite: 294] durchaus gebräuchlichen Formularvorlagen wie z. B. Gewaltbriefe bei.14 Diese Beschränkung kommt einer Amputation gleich, denn Verschriftlichung aller Gerichtshandlungen ist eines der zentralen Merkmale des römischen Prozeßrechts. Die "Gerichtsrhetorik" büßt damit einen Gutteil ihrer Anwendbarkeit für eine mögliche Gerichtspraxis ein.
Für eine deutsche Übersetzung eröffneten sich zwei Gebrauchsmöglichkeiten: einerseits als Einführung in das "fremde", weil im gelehrten Latein beheimatete Recht. Tatsächlich eignet sich die "Gerichtsrhetorik" sehr gut als Lehrtext, da die lateinische Rechtsterminologie nicht einfach in die Volkssprache übertragen, sondern als Glossar in den Text integriert wird.15 Angesprochen war damit jeder, der sich für das "fremde" Recht interessierte, jedoch nicht über die ausreichenden Lateinkenntnisse verfügte. Aber auch eine praktische Verwendungsmöglichkeit erscheint dort nicht ausgeschlossen, wo das römische Recht anstelle des einheimischen Rechts zur Anwendung kam.
Schwieriger als für die "Gerichtsordnung" gestaltet sich die Quellensuche für die "Gerichtsrhetorik". Obwohl die "Ordnung des Gerichts" bereits mehrfach ediert wurde,16 konnte die Vorlage für die "Gerichtsrhetorik" bisher nicht ermittelt werden.17 Die verschiedenen Textformen, aus denen sich der Text zusammensetzt — Sprichwörter, Titulaturliste, bildhafter Vergleich zwischen Redner und Musiker, Regeln für das richtige Reden —, lassen vermuten, daß verschiedene Quellen kompiliert wurden. Unter anderem scheint sich der Verfasser volkssprachlicher Handbücher zur Ausbildung von Schreibern bedient zu haben. Die Abhandlung zur Dispositio und Conclusio weist klare Parallelen mit dem Text des "Modus epistolandi deutsch" in cgm 3607 auf.18
Auch bei der verwandten Titulaturlehre ist, da gerichtsspezifische Anreden für Richter, Gerichtsschreiber oder Schöffen fehlen, eine ursprüngliche Verwendung außerhalb der Gerichtssphäre anzunehmen. Vermutlich kommen auch hier in erster Linie Schreiberhandbücher als ursprüngliche Vermittler in Betracht. Die lateinischen Sentenzen entstammen unterschiedlichen Quellen und sind wohl aus Florilegiensammlungen zusammengeschrieben worden.
Die Prozeßordnung folgt dem Text eines im 13. Jahrhundert entstandenen und in Deutschland weit verbreiteten Ordo judiciarius, der entsprechend seiner Initienzeile [Seite: 296] Antequam dicamus de processu iudicii allgemein als "Antequam" bezeichnet wird.19 Entstehungszeit und -raum konnten bisher noch nicht verläßlich ermittelt werden. Fowler-Magerl nimmt an, daß es sich beim "Antequam" um die Kurzfassung einer 1234 entstandenen französischen Bearbeitung der Prozeßordnung des Tancred von Bologna handelt.20 Sollte diese Behauptung zutreffen, dann wäre die Datierung um 1220, die Ludwig Rockinger anhand der dem Ordo zugrunde liegenden Dekretaliensammlungen vorgenommen hat, hinfällig.21 Demnach war der "Antequam" bereits zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Rechtwissenschaft, wohl, weil er für die Unterrichtung von Anfängern gedacht war. Der "Antequam" ist fast ausschließlich in Deutschland und hier in 50 Handschriften überliefert, wobei die Mehrzahl der Textzeugen ins 14. und 15. Jahrhundert fällt. Die Beliebtheit des Textes läßt sich zum einen mit der übersichtlichen Struktur und seiner klaren, wenn auch vereinfachenden Präsentation der komplizierten juristischen Materie erklären. Zum anderen rührt sein Ansehen auch daher, daß er lange Zeit dem in Deutschland hoch verehrten Kanoniker Johannes Andreae zugeschrieben wurde, ein Irrtum, den erst Rockinger aufklären konnte.22 Tradiert wurde der "Antequam" bis ins 16. Jahrhundert. Die ersten Drucke erfolgten allerdings erst 1494 in Nürnberg — also lange nach dem Erscheinen der deutscher Übersetzung.23
Das Unternehmen, die kleine kanonische Prozeßordnung ins Deutsche zu übertragen, war zumindest zum Zeitpunkt der ersten Drucklegung, ca. 1472,24 nicht neu: Neben dieser wirkungsgeschichtlich erfolgreichsten Version wurde von Norbert Ott noch eine andere handschriftliche Übersetzung aufgefunden, die zusammen mit dem "Belial" des Jacobus de Theramo, ebenfalls in deutscher Übersetzung, [Seite: 297] überliefert wurde.25 Auch die Übertragungen ins Friesische und Dänische erfolgten offenbar noch vor der ersten Drucklegung.26 Es ist daher gut möglich, daß bei der Abfassung der uns vorliegenden Redaktion eine bereits vorhandene Übersetzung, die vielleicht ihrerseits schon wichtige Veränderungen enthielt, verwendet wurde. Bis auf die oben aufgeführten Bearbeitungen ist der zweite Teil der "Ordnung und Unterweisung" eine halbwegs getreue Übertragung des lateinischen Originals. Die Orientierung am Latein des Originals beschränkte sich dabei nicht nur auf die Vermittlung der Fachterminologie, auch Ausdrücke der Allgemeinsprache, sofern sie in irgendeiner Form vor Gericht von Belang waren, wurden teilweise lateinisch wiedergegeben, nicht selten auf Kosten der Übersichtlichkeit.
Antequam: | Ordnung des Gerichts: (II, 1) |
Aduocatus siue patronus dicitur qui causam defendit pro sallario. Multam prohibent aliquem esse aduocatum: scilicet si est infamis vel seruus vel cecus vel puer vel monachus vel regularis canonicus. Monachus tamen potest aduocare, si abbas suus ei imperat et si est causa sue ecclesie. Idem iuris est de canonico regulari. Item sacerdos non potest esse aduocatus, nisi in III casibus: scilicet in causa propria, siue causa sue, ecclesie, et in causa coniuncte persone id est fratris vel sororis vel nepotis, item in causa miserabilis persone ut vidue orphani vel claudi | Aduocatus oder patronus — einer, der ein sach beschirmet alz ein anweiser. Ein verleymter, das ist infamis; ein plinder, das ist caecus; ein knecht, daz ist seruus; ein münch, daz ist monachus; ein kind, das ist puer; Ein geregelter chorherre, das ist canonicus regularis; ein [5v] priester, das ist sacerdos. Sol ir keiner aduocat, patron noch anweiser sein, denn ein münich oder korherr in sachen irer kirchen vnd von gepot irer äbbte vnd oberer; dye mügen aduocaten sein. Ein priester mag in vier sachen aduocat sein: in seiner eygen sach, in seiner kirchen sache, in seiner nächsten frewnd sache vnd in einer eilenden weyßlosen person sach als einer witiben, waysen oder lamen. (II,1) |
Die Ordnung des Gerichts traf auf eine Gebrauchssituation, die von einer rezeptiven Auseinandersetzung mit dem römischen Recht geprägt war. Obwohl dieser Prozeß häufig als Eindringen eines "fremden" Rechts beschrieben wurde, gilt [Seite: 298] festzuhalten, daß das römische Recht in der freilich gewandelten Form des kanonischen Rechts stets einen festen Ort im öffentlichen Rechtsleben gehabt und als Grundbestandteil der mittelalterlichen Beichtpraxis Einfluß auf die ethische Lebensgestaltung des Einzelnen genommen hat.27 Weltlich-germanisches Recht und geistlich-römisches Recht standen nicht gänzlich isoliert nebeneinander; Grundsätze des römisch-kanonischen Rechts diffundierten zunehmend in das deutsche Recht und wirkten auf die spätmittelalterliche Prozeßwirklichkeit ein: Die Beweislast verschob sich zum Kläger hin; er hatte keine Eideshelfer mehr zur Verfügung, sondern konnte sich in seiner Beweisführung nur auf Zeugenaussagen oder sonstige Beweismittel stützen. Urkunden, Gerichtsbücher, Urbare und Handelsbücher erlangten im spätmittelalterlichen Gerichtsverfahren zunehmend Beweiskraft.28
Erleichtert wurde die Rezeption dadurch, daß schon früh literarische Hilfen entstanden, "die sich von methodologischen Schriften über Rechtskonkordanzen und alphabetische Sammlungen, prozessuale Schriften und Notariatshandbücher bis hin zu einfachen Wörterbüchern erstreckte(n)".29 Anders als Stintzing, der für diese Gattung den Begriff "populäre Literatur" prägte,30 nimmt die heutige Forschung an, daß diese Literatur auf Studenten oder die Praktiker an den geistlichen Gerichten, nicht aber auf Halbgebildete zugeschnitten war, zumal die juristische Kommunikation auf Latein erfolgte.31
Über die Bedeutung, die Übersetzungen kanonischer Literatur für die weltliche Gerichtsbarkeit gewannen, ist bisher noch nicht ausreichend geforscht worden Einen wichtigen Einblick vermitteln jedoch die Untersuchungen von Ott zur Überlieferung und Rezeption des volkssprachlich überlieferten "Belial", eines fiktiven. nach kanonischem Recht geführten Satansprozesses. Dabei legt ein gehäufter Überlieferungskontext des "Belial" mit juristischen Texten wie dem "Sachsen-" und dem "Schwabenspiegel" oder dem bayrischen Landrecht nahe, daß auch Praktiker der einheimischen weltlichen Gerichtsbarkeit in den Schriften zum römischen Rech: eine Möglichkeit zur Aneignung juristischen Sachwissens erblickt haben.32 Inwiefern dieses Wissen über das römische Recht auch zur praktischen Anwendung kam, bleibt allerdings offen. Der offizielle Rahmen für die Anwendung des römischen Prozeßrechts wurde erst durch die Reichskammergerichtsordnung von 1495 geschaffen.33[Seite: 299]
Die unterschiedliche Herkunft der "Gerichtsrhetorik" und der "Prozeßordnung", die uns hier besonders interessieren, ermöglicht eine klare Unterteilung der "Ordnung des Gerichts". Die Textgrenze wird am Ende der "Gerichtsrhetorik" angekündigt: Hernach volget / was ein gericht / eyn richter / sei vnd wer da zu gehör (...). Unklar ist, wie oben bereits erwähnt, ob sich die einleitende Passage, in der sich der vermeintliche Verfasser selbst zu Wort meldet, auf den gesamten Text oder nur auf die "Gerichtsrhetorik" bezieht. Der Anrufung Gottes, die über dem gesamten Text stehen könnte, folgt übergangslos eine Inhaltsbeschreibung.
Die Gliederung stellt sich wie folgt dar:
I Gerichtsrhetorik
1 Einleitung
2 Zur Konzeption juristischer Texte
3 Die vier Regeln juristischer Kommunikation
4 Titulaturlehre
5 Redemaximen
II Prozeßordnung
1 Konstituierung des Gerichts
2 Abriß des Gerichtsverfahrens
3 Prozeßverfahren
3.1 Vorladung
3.2 Die Klageschrift (Klaglibell)
3.3 Zweiter Gerichtstermin. Erklärung der Prozeßparteien
Vereidigung der Parteien
Richterliches Verhör der Parteien
Gültigkeit von Geständnissen
3.4 Beweisführung
Beweisarten
Richterliche Vernehmung der Zeugen
Schriftzeugen
3.5 Ansetzen eines erneuten Gerichtstermins.
Verlesung der Aussagen. Plädoyer
Benennung eines Termins zur Urteilsverkündung
3.6 Urteil
3.7 Berufung
Die "Gerichtsrhetorik" erreicht nicht annähernd das Maß an systematischer Geschlossenheit wie die folgende "Prozeßordnung". Bereits in der Einleitung zur [Seite: 300] "Gerichtsrhetorik" geht der Verfasser mit keinem Wort auf die folgende Redeordnung ein und ermahnt die Leser nur, die Inhalte unvoreingenommen auf ihre Glaubwürdigkeit und nicht auf ihre Herkunft hin zu prüfen. Im weiteren Verlauf des Traktats findet der Leser keine thematische Progression, sondern eher eine assoziative Häufung thematisch verwandter Sprichwörter und Sentenzen. In der ersten Abteilung sammeln sich Sprüche, die sich um die Begriffe conclusio und finis gruppieren, wobei diese einerseits auf den Schlußteil der Gerichtsrede Bezug nehmen, andererseits auf den juristischen Grundsatz, einen Sachverhalt nur vom Ergebnis her zu beurteilen. Auch im abschließenden Teil der "Gerichtsrhetorik" scheint durch die ständige Wiederaufnahme des Wortes reden eine grobe thematische Kohärenz gegeben zu sein. Tatsächlich wechselt der Autor unvermittelt von Ratschlägen die Performanz der Gerichtsrede betreffend über Fragen der Beweisführung zu Regeln des Turntakings in Streitgesprächen. Zwischen beiden Abschnitten werden die Dispositio der Gerichtsrede, allgemeine Sprichwörter und eine Titulaturlehre abgehandelt.
Die "Prozeßordnung" richtet sich an Schüler und setzt außer der Kenntnis einiger alltäglicher, im deutschen Recht beheimateter Ausdrücke keinerlei Vorwissen voraus. Die Vermittlung des Fachwissens erfolgt in drei Stufen:
1. Beschreibung der Institution Gericht und der an ihrem Zustandekommen beteiligten Personen.
2. Abriß des gesamten Verfahrens, der die wichtigsten Rechtshandlungen bereits grob beschreibt.
3. Darstellung des Verfahrens in seinen aufeinanderfolgenden einzelnen Bestandteilen, wobei auch Ausnahmeregelungen oder nähere Bestimmungen, etwa die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit, der formalen Gültigkeit eines Beweises, der fristgerechten Einspruchsmöglichkeit etc., immer an der jeweils relevanten Stelle im Procedere des Verfahrens abgehandelt werden.
Eingeführtheit der Terminologie: Die "Gerichtsrhetorik" greift nicht auf den Wortschatz der klassischen Systemrhetorik zurück. Nur vereinzelt werden Ausdrücke aus der Fachterminologie der Schreiber (Ars dictandi-Tradition) verwendet, so bei der Unterteilung des Schlusses in propinquus bzw. conclusio remotus: Wie dort erscheinen beide austauschbar neben ihren volkssprachlichen Entsprechungen nach end und verr end. Die meisten Sachverhalte werden durch Begriffe der Alltagssprache erklärt.
Anteil der Latinismen: Lateinische Termini kommen bis auf eine Ausnahme nicht vor. Allerdings sind verschiedene lateinische Sentenzen eingearbeitet. [Seite: 301]
Übersetzungs-Zweigliedrigkeiten: Es kommt nur eine Übersetzungsdoppelform vor (die oben erwähnten conclusio-Ausdrücke).
Eingeführtheit der Terminologie: Der Wortschatz der "Prozeßordnung" folgt der allgemein gültigen römisch-kanonischen Terminologie, wobei einige Fachbegriffe im Austausch mit ihren volkssprachlichen Entsprechungen erscheinen, sofern in der deutschrechtlichen Terminologie ein vergleichbarer Terminus existiert. Dies betrifft meist sehr allgemeine Begriffe wie richter, eid, clager, antwurter etc., die im Grunde schon fester Bestandteil der Alltagssprache waren und keine Fachtermini im eigentlichen Sinn darstellten. In wenigen Fällen werden volkssprachliche Ausdrücke wechselweise mit den lateinischen Fachtermini genannt, wie z.B. citation — ladung.
Anteil der Latinismen: Der Anteil der Latinismen im Text ist aufgrund der übernommenen kanonischen Fachtermini außerordentlich hoch. Hinzu kommen an verschiedenen Stellen noch kleine Vokabulare, die neben rein juristischen Ausdrücken auch solche der Alltagssprache aufnehmen: Ein verleymter, das ist infamis; ein plinder, das ist cecus; ein knecht, daz ist seruus; ein münch, daz ist monachus; ein kind, das ist puer; Ein geregelter chorherre, das ist canonicus regularis; ein priester, das ist sacerdos. (II 1)
An einer Stelle werden neben dem Simplex auch die dazugehörigen Pluralformen angeführt:
Actor — ein klager, actores — vil clager.
Reus — ein antwurter, rei — vil antwurter.
Testis — ein zewg, testes — vil zewgen.
Vnuerscheydenlichen, daz ist insolidum. (II,1)
Zweigliedrigkeiten in der Übersetzung: Diese sind zwar nicht selten, bleiben aber meist auf die Fälle beschränkt, in denen dem lateinischen Fachausdruck ein adäquater deutschrechtlicher Ausdruck entspricht: Procurator — Gewaltshaber; einer, der von gepot oder lieb seins herren oder gúten frewnds ... (II,1). [Seite: 302]
Der "Ordo" ist im wesentlichen in Drucken überliefert, hinzu kommen einige Handschriften. Mir sind Hinweise auf die folgenden Drucke bekannt geworden: Hain (Nr. 12066-12073); Copinger (Nr. 4513); Reichling (Nr. 260); Panzer, Zusätze (S. 46, Nr. 148b). Laut Auskunft des GW kommen dazu noch fünf weitere Drucke In der UB Tübingen (Hn 48. 4°) befindet sich noch ein Knoblochtzer-Druck von 1490, der nicht mit Hain 12072 identisch ist. Die Drucküberlieferung setzt sich im 16. Jh. mit mindestens zwei Überlieferungen fort: Weller (Repertor. typogr. S. 37, Nr. 332) und VD16 (O 885).
Die handschriftliche Überlieferung umfaßt nach meiner Kenntnis folgende vier Zeugen:
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Cod. iur. fol. 11; f. 129ra - 142va (selbständige Übersetzung der lat. Quelle);
Bayrische Staatsbibliothek München: cgm 252; f. 96rb - 104vb (unvollständig clm 6008, f. 186-207, dat. auf 1518; clm 6009, f. 208 ff. dat. auf 1529.
Zwei Versionen der Gerichtsordnung sind bereits früher ediert worden. Aus dem Nachlaß Senckenbergs wurde 1760 die Abschrift eines nicht näher beschriebenen Druckes aus dessen Privatbesitz abgedruckt. Dieser Text wurde 1837 von Hubert Horn in einer Synopse mit dem Knoblochtzer-Druck von 1490 (Hain 14072) herausgebracht.34
Für die hier unternommene Edition wurde der Text von Druck A, also das einzige, in der Staatsbibliothek München befindliche Exemplar des Bämlerdruckes von ca. 1472, als Leittext herangezogen. Um die Wiedergabe von Sinnentstelltem nach Möglichkeit zu vermeiden und notwendige Berichtigungen verderbter Passagen abzusichern, wurden für eine punktuelle Textkritik zwei weitere Ausgaben herangezogen, für die die Siglen B und C vergeben werden. [Seite: 303]
A Augsburg, Johann Bämler, ca. 1472:
Inc.: IN dem namē d' heyligen vñ vnteilper ñ ‖ triuaͤltikeyt Amen. Von ordnung ze re‖den / vñ beſund' zuͦ an gedingtem freüntlichem rechten So woͤllen alle die
Expl.: Iſt er geleych / beſſer oder er‖ger Das geet einē teil zuͦ / dem anderē ‖ ab Allweg nach vier mãn rate / der yed' ‖ teyl zwen dar zuͦ geyt etc.
4°, 26 Bll. ungezählt. Hain 12066. Exemplar München SB (4° inc s.a. 1375).
B
Augsburg, Johann Bämler, ca. 1473):
Inc.: Proceſſus Iuris.
[I]N dē namē d' heyligē vñ vnteilpern triua‖ltikeit Amē / Võ ordnũg ze redē / beſunder zuͦ ‖ angedingtē rechtē ſo woͤllē alle ‖ die ....
Expl.: In ‖ rechten ſol niemant verkürczt werden / vñ ‖ darumb ob eyn procurator oder advocat ‖ ein parthey geſambt. oder einer nach der ‖ Concluſion / zeügknuß / brieff oder andere ‖ ware vrkund erfunden hette / der sol wid'= ‖ umb zuͦ seinem rechten gelaſſen werdē.
4°, 20 Bll. ungezählt, Bll. 4, 7 fehlen, ebenso Bll. 21-26 des Exemplars Bämler, 1472 (München SB 4° inc s.a. 1375); Hain 12068; Einziges Exemplar München SB (4° Inc. s.a. 1376).
C
Heidelberg, Heinrich Knoblochtzer, 1490:
Inc.: Ein ordnung vnnd vn‖derweisunge Wie ſich ‖ ein ieglicher halten ſoll ‖ vor dem rechten. In dieſzem nachgeſetzten ‖ tractat wirt gemelt / ein kurtz begriffen ordnung vñ ‖ volfurũg zubeſchirmē vnd handeln ein yde sach in ‖ recht noch dem nutzlichſten vnd kurzſten : Auſz ‖ Babſtlichen vnd Kaiſerlichen geſatzē entſproſſen . ‖ IN dem na‖men der heiligen ...
Expl.: Das ‖ geit einem teil zu dem andern ab. Allweg nach fier ‖ mann rate : der yder teil zwen darzugibt.
Getruckt zu Heidel‖berg von Heinrico Knoblochtzern. ‖ Anno. M.CCCC. XC.
4°, 13 Bll.; die erste Hälfte jeder Lage gezählt. Beginn der Zählung auf Bl. 2r (neuerer Zählung); nicht Hain 12072; Exemplar UB Tübingen (Hn 48. 4°). [Seite: 304]
Grundsätzlich folgt die Edition den ursprünglichen Schreibungen von Druck A.
Aus drucktechnischen Gründen wurden die Diakritika vereinheitlicht. So erscheint überschriebenes "e" als ä, ö, ü; überschriebenes "o" bei u wird mit ú markiert.
Die morphologischen Besonderheiten des Druckes, Suffixseparierung u.ä. wurden beibehalten.
Der Drucker der "Ordnung" verfuhr bei der Verwendung von Virgeln und Punkten sparsam, beim Bezeichnen von Absätzen eher unsystematisch, so daß sich eine moderne Interpunktion empfahl. Die ursprünglichen Interpunktionszeichen wurden weggelassen.
Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend beseitigt.
Abkürzungen wurden aufgelöst.
Großschreibungen bei Eigennamen und Satzanfängen wurden vereinheitlicht.
Die Kapitelgliederung und -numerierung stammt vom Herausgeber.
Herausgeberzusätze stehen in eckigen Klammern [].
Inc: Antequam dicatur de processu iudicii
Antequam dicamus de processu iudicii (z. B. Madrid BN 2209 und Strängnäs KB F min. 9)
Antequam dicam de processu iudicii (z. B. Graz UB 1201 und Trier SB 975/923)
Iudicium est actus trium personarum (z. B. Kassel Murhardsche Bibl. 4° Jurid. 37; das exordium fehlt)
Exp: illorum quos infirmat (bis Riedner p. 48 lin. 9 — z. B. München StB Clm 22309 und Trier SB 975/923)
illorum quos informat. Et sic est finis (z. B. Basel UB C V 19 und Berlin SB West theol. lat. fol. 572)
vel informat et corriget. Et hec de processu iudicii sufficiant (z. B. Klosterneuburg StiftsB 379 und Osek 13)
sub compendio dicta sufficiant (bis Riedner p. 48 lin. 4 — z. B. Berlin SB West theol. lat. qu. 285 und Augsburg StB 2. 2349)
sub compendio brevi et utili dicta sufficiant (z. B. Strängnäs KB F min. 9)
et hec de ordine et processu dicta sufficiant (z. B. Prag MK 0 72 und Seitenstetten StiftsB 115)
ad quorum profectum hec summula scripta est et sic finis est huius summule (bis Riedner p. 48 lin. 7 — z. B. Mainz StB 1107)
ad quorum profectum hec summa scripta est (z. B. Göttingen UB 2 Jur. 90)
HSS: Antequam wird in über 50 HSS überliefert, die Mehrzahl davon sind 14.-15. Jh. Beim Max-Planck-Institut waren Mikrofilme dieser späteren HSS nicht vorhanden, ich habe also selber wenige Exemplare gesehen. Rockinger kannte 17 HSS, 13 allein in München. Er hatte vor, [Seite: 152] die ihm bekannten HSS in "Beiträge zu den ordines judiciarii" zu beschreiben, das hat er aber nie getan. Riedner kannte über 50 HSS, deren jetzige Aufbewahrungsorte er publizierte (Das Speiererer Offizialatgericht, p. 46-48), ohne aber die Signaturen immer anzugeben.
Ed: O. Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalte: Paderborn 1915, p. 5-48. Ediert aus den HSS München StB Clm 16122 und Clm 22309, Basel C V 19, Berlin theol. lat. qu. 285 und St. Petersburg KÖB lat. Q omd. XVII Nr. 131.
L. Rockinger, Briefsteller und Formelbücher des Eilften bis Vierzehnten Jahrhunderts, Quellen zur Bayrischen und Deutschen Geschichte, München 1863, p. 985-1026. Rockinger mußte aufgrund der Überlänge seines Gesamtmanuskripts bei § 45, p. 28 der Riedner Edition aufhören.
A. Wunderlich, Johannis Andreae summula de processu judici codice Basilensi C. V. 19 in integrum restituit, Basel 1840.
Ältere Editionen: Nürnberg 1494,1510, Venedig 1573,1583 etc.
Entstehungsort und -zeit:
Bevor Rockinger 1855 seine Schrift: Über einen ordo iudiciarius, bisher dem Johannes Andreae zugeschrieben, veröffentlicht hatte, hielt man dieser ins 16. Jh. abgeschriebenen ordo für ein Produkt des 14. Jh. Rockinger postulierte wegen der benutzten Dekretalen eine Entstehungszeit vor 1220. Riedner dagegen fand nach einer Untersuchung von mehr als 50 HSS, von denen die meisten in Deutschland aufbewahrt sind, in der HS Mainz S 1071 und Göttingen UB 2 Jur. 90 Hinweise auf Frankreich, die er als entscheidender als die HSS-Fundorte betrachtete. In diesen zwei Exemplaren wird der Einwand gemacht, daß der Angeklagte aus Chartres, der Richter jedoch aus Paris sei.
Das hat dazu geführt, daß Riedner Paris als Entstehungsort für eine — allerdings nie aufgefundene — Erstfassung vermutete. Die von ihm edierte Fassung stammte aus Speyer um 1260.
Ich bin der Meinung, daß es eine französische Erstfassung um 1220 gegeben hat. Der Einwand wegen des forum des Richters stammt aus Casus (ca. 1234) zum ordo des Tancred (Bergmann p. 133 n. 18): "Casus. Dicitur, quod si Titius vocatus sit, ut compareat coram episcopum Parisiensi etsi sit de Carnotensi diocesi, quod necesse habet Titius venire.“ Daß die französischen Reformationes des Tancredschen ordo die Vorlage für Antequam sind, ist reichlich im Apparatus von Riedner bewiesen. Außerdem wird in einem libellus in den HSS Mainz und Göttingen von Francen gespro (entsprechend Rockinger, p. 1016 § 6): "Domine iudex N., ego P. tradidi T. [Seite: 153] quattuor francos puri auri quos mihi solvere promisit in Paschale proximo ..." Francen wurden aber zum ersten Mal 1360 gemünzt. [2]
Daß neuere Dekretalen nicht verwendet worden sind, ist auch kein Argument, denn Antequam ist nicht direkt aus den Quellen zusammengestellt worden, sondern ist eine Kurzfassung der 1234 entstandenen französischen Version des Tancredschen ordo. Und es hat offensichtlich niemanden gestört, daß der ordo ins 16. Jh. nicht aktualisiert wurde.
Literatur:
M. A. von Bethmann-Hollweg, Civilprozeß VI, p. 144-147.
H. Coing, Römisches Recht in Deutschland, IRMAE V 6, p. 148 f.
G. van Dievoet, Un manuscrit peu connu du "Processus judicii" atttributé à Johannes Andreae, RHDFE (1949), p. 280-282.
O. Riedner, Das Speierer Offizialatsgericht im 13. Jahrhundert, Mitteilungen des Histor. Vereins der Pfalz 29 und 30, Speier 1907, p. 43-60.
L. Rockinger, Über einen ordo iudiciarius, bisher dem Johannes Andreae zugeschrieben, München 1855.
R. Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des 15. und im Anfang des 16. Jahrhunderts, Leipzig 1867, p. 202-220.