Ausgabe:
Ueber einen ordo judiciarius bisher dem Johannes Andreä zugeschrieben. Inauguralabhandlung von Ludwig Rockinger. München, 1855. Druck von Dr. C. Wolf & Sohn. [Seite: 5]
So manche für die geschichte des prozesses mehr oder minder wichtige quelle hat die jüngste zeit theils in angemessener wiederbearbeitung zugänglich gemacht, theils neu zutage gefördert. Dass noch viel in dieser beziehung zu thun erübrigt, wird niemand bezweifeln der einigermassen sich mit studien beschäftigt hat welche in dieses fach einschlagen. Insbesondere leuchtet sehr bald ein, dass die geschichte des prozesses wie wir ihn zunächst in Deutschland sich geraume zeit hindurch gestalten sehen, selbst mit annahme gewisser räumlicher begrenzungen wie nicht minder mit annahme gewisser beschränkungen hinsichtlich der zeit, noch keineswegs schon als ein ganzes erschöpfend behandelt werden kann.
Im gegentheil erscheint vor der hand eine ausscheidung des forschens nach bestimmten einzelnen richtungen in diesem ganzen geboten. Als solche nimmt eine vorzügliche stelle ein das verfahren bei den geistlichen gerichten — wenn vielleicht weniger bemerkbar oder weniger verfolgbar in den früheren zeiten, so doch sehr entschieden nach der abfassung des dekrets und der diesem folgenden sammlungen päbstlicher dekretalen — nicht allein zunächst nur für ihren eigenen wirkungskreis, sondern ganz besonders wegen des einflusses welcher von ihnen aus auf die gesammte gestaltung des gerichtlichen verfahrens überhaupt stattfand. Ein wichtiger beitrag gerade in diesem bezug kam zu den ordines judiciarii welche bisher schon1 einem grösseren kreise bekannt [Seite: 6] geworden waren vor kurzer frist2 in einem zur c. II. qu. 1 des dekrets abgefassten ordo judiciarius aus dem ende des zwölften jahrhunderts. Fernere ausbeute3 liefern zahlreiche handschriften der hiesigen staatsbibliothek. Mehrere aus ihnen enthalten einen weiteren daher gehörigen ordo judiciarius, welcher übrigens schon mehr oder weniger weit in das dreizehnte jahrhundert fällt. Allerdings ist er streng genommen nicht als vollkommen neuer beitrag für die geschichte des prozesses anzusehen, insofern man denselben wenigstens der hauptsache nach schon früher kannte, auch ihm bis auf diese stunde eine gewisse bedeutung beilegte, ja erst in neuerer zeit wieder ihn einer ausgabe4 würdigte. Nur hat man, glauben wir, die eigentliche stellung welche er für sich sowohl als auch für die geschichte des prozesses einzunehmen hat dadurch vorzugsweise falsch beurtheilt, dass ihm schon seit längerer zeit bis auf diesen augenblick ein verfasser [Seite: 7] beigelegt wurde, von welchem er nicht herrührt, der aber zunächst schon für seine erhaltung von nutzen war, und dann auch durch das gewicht seines namens — es ist nämlich Johannes Andreä — nicht wenig zum ansehen des werkes selbst beitragen musste.
Auf das verhältniss welches uns hier das richtige scheint aufmerksam zu machen, ist der zweck gegenwärtiger untersuchung, wozu schon die gedrängte empfehlung einladet, welche von einem rüstigen arbeiter auf diesem felde5 jener schrift dahin zu theil wird, dass sie et brevitate et dilucido genere scribendi quam maxime sese commendat, legique meretur ab iis quibus operae pretium esse videtur processum illius temporis uno obtutu complecti.
Um dabei aber nicht erwartungen zu erregen, welche nicht befriedigt werden können oder wollen, sei gleich hier des näheren bemerkt, dass wir vor der hand uns lediglich darauf beschränken, den ordo judiciarius nach dem ergebnisse der handschriften welche zu gebot standen rein vom literar-historischen standpunkte aus bezüglich seiner entstehung sowohl nach der zeit als auch so weit es möglich ist nach dem eigentlichen verfasser zu betrachten, daher alle unmittelbar über diese grenze hinausfallenden fragen für jetzt bei seite liegen lassen, wie zum beispiele namentlich alle die welche die betheiligung berühren welche dem Johannes Andreä an diesem werke zugeschrieben werden könnte oder wenigstens zugeschrieben wurde.
Wie aber bei allen noch nicht oder jedenfalls noch nicht genügend behandelten rechtsdenkmälern sich gewisse schwierigkeiten ergeben, stellen sich solche natürlich auch hier gleich wieder in den weg. Nicht allein die genauere bestimmung derzeit muss wegen mangels von anderweitigen zuverlässigen nachrichten einer eigenen forschung zufallen, deren ergebniss mehr oder minder wahrscheinlich werden kann. Auch bezüglich des verfassers fehlen sowohl direkte angaben als überhaupt andeutungen der art, dass sie einigermassen haltbare muthmassungen gestatten würden. Trotzdem ergibt sich schon aus den vorhin gemachten äusserungen, dass die [Seite: 8] [Seite 6] quelle um welche es sich handelt in mehrfacher beziehung gehörige beachtung verdient. Sie kann darauf anspruch machen nicht allein6 ihrer anlage nach, sondern auch7 bezüglich ihres inhalts, nicht minder8 wegen des ansehens in dem sie früher gestanden sein muss, eines ansehens das sie nicht nur in Deutschland genoss sondern eben so nachweisbar auch in Friesland und in Dänemark.
Sprechen wir zunächst von ihrer anlage im allgemeinen, um wenn auch nur ganz oberflächlich eine art begriff von ihr zu erhalten.
Hiebei ist gewiss von interesse, eine einfachheit wahrzunehmen, welche gegenüber anderen erscheinungen der art wirklich wohl thut. Allerdings hängt dieses auch wenigstens zum theil damit zusammen, dass die hauptabsicht des verfassers dahin gegangen zu sein scheint, ein möglich kurz gefasstes lehrbuch über den prozess in civilstreitigkeiten beim geistlichen gerichte solchen beflissenen der jurisprudenz in die hand zu geben, welche noch nicht allzu detaillirte kenntnisse darin sich angeeignet haben. Wenigstens glauben wir das sowohl aus einer bemerkung schliessen zu dürfen welche sich am ende des werkes in denjenigen handschriften findet die dasselbe als eine selbstständige schrift9 enthalten, wie auch aus andeutungen einer abhandlung10 die darüber allerdings etwas später abgefasst wurde. Der wortlaut jener bemerkung ist folgender. Jura non allegantur11 sed potius obmittuntur12, non propter ignorantiam doctoris sed inbecillitatem discentium ad quorum profectum haec summula scripta, quibus lacte opus est, non solido cibo. Verus doctor laudem vel vanam gloriam quaerere sibi et captare non debet, sed [Seite: 9] [Seite 7] magis profectum illorum quos informat. In der bemerkten abhandlung aber heisst es einmal13 gerade zu dieser schlussstelle, der verfasser bezeichne hier die causa quare in hoc libro non assignantur capitula decretalia et leges sicut in aliis summis Remundi et Henrici: huius rationem assignat dicens quod hunc librum composuerit mediocribus quibus magis est opus nutrice lacte id est facili doctrina quam grasso cibo id est parvis difficili doctrina. Ergo hunc tractatum humilibus versibus, schliesst die ganze bemerkung ohne weiteres, und erhält gewissermassen eine vervollständigung durch eine andere stelle gleich im eingange der abhandlung14 dahin, dass der autor ad utilitatem mediocrium hanc summam voluit componere, et composuit eam verbis facilibus ipsis competentibus et non intricatis. Ferner wird dort15 bei gelegenheit der andeutung, dass der autor über die replik triplik quadruplik nichts sagt, als grund dafür angegeben: quia volt informare minores et non adultos, ideo principaliter procedit.
Bereits im jahre 1826 erschien zu Jena von Martin des Ranulphus werk — bisher dem Bartolus zugeschrieben, und mit der ersten unter den vier von Johannes Andreä am schluss seiner literatur des prozesses aufgeführten anonymen schriften mit dem anſang ut nos minores identisch, worüber Wunderlich in der zeitschrift für geschichtliche rechtswissenschaft XI s. 84 – 89 und Rudorff ebendort s. 109 note 13 zu vergleichen — als Bartoli de Saxoferrato tractatus de ordine judiciorum. Im jahre 1838 veröffentlichte Hänel eines anonymus werk, unter dem titel Ulpianus de edendo bekannt.
Höchst wichtige beiträge folgten zu Göttingen in den jahren 1841 und 1842 von Wunderlich und Bergmann. Von ersterem in seinen anecdota quae processum civilem spectant die schriften des Bulgarus, Damasus, Bonaguida. Von letzterem aber Pillii, Tancredi, Gratiae libri de judiciorum ordine.
Sodann gab zu Halle im jahre 1853 Witte magistri Ricardi anglici ordinem judiciarium heraus.