Quelle: Eva Schumann, Rechts- und Sprachtransfer am Beispiel der volkssprachigen Praktikerliteratur, in: Historische Rechtssprache des Deutschen : [Heino Speer zum 70. Geburtstag] / im Auftr. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften des Landes Banden-Württemberg. Hrsg. von Andreas Deutsch. Mit einem Geleitw. von Paul Kirchhof (Heidelberg 2013). Vollständige Titelaufnahme der Deutschen Nationalbibliothek.
Digitalisiert und mit externen digitalen Quellen verlinkt durch Heino Speer mit freundlicher Einwilligung der Autorin von 25. Januar 2018.
Eva Schumann*, Rechts- und Sprachtransfer am Beispiel der volkssprachigen Praktikerliteratur
I. Einführung
Wenn wir uns mit dem Prozess der praktischen Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im deutschen Raum beschäftigen, so müssen wir uns klar machen, dass wir uns in einer Zeit des Umbruchs befinden, an deren Ende gewaltige Veränderungen stehen und die zu einer Professionalisierung der in der Rechtspflege anfallenden Tätigkeiten führt. Für die Übergangszeit drängen sich zwei Fragen auf, die auch in den beiden wichtigsten Reichsgesetzen zu Beginn der frühen Neuzeit, der Reichskammergerichtsordnung von 1495 und der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, behandelt werden: Welches Recht kam vor Gericht zur Anwendung und welche Rechtskenntnisse hatten die zur Rechtsanwendung berufenen Rechtspraktiker1?
Die Reichskammergerichtsordnung sah eine paritätische Besetzung der zur Urteilsfindung berufenen Assessoren je zur Hälfte mit gelehrten Juristen und Adligen vor.2 Sie wählte damit unter Achtung sowohl des mittelalterlichen [Seite: 124] Verfahrens und seiner Amtsträger als auch des neuen sog. gemeinrechtlichen Verfahrens und seiner professionellen Träger einen Mittelweg zwischen Tradition und Erneuerung. Eine Besetzung der dem Adel vorbehaltenen Assessorenstellen mit gelehrten Juristen (d.h. die Vereinigung beider Elemente in einer Person) war zwar durchaus erwünscht, sie ließ sich aber im 16. Jahrhundert selbst am Reichskammergericht nicht immer verwirklichen. Nach Art. 1 der revidierten Kammergerichtsordnung von 1521 sollten zwar auch die adligen Assessoren möglichst "der Recht gelehrt" sein, diese Forderung war jedoch mit dem Zusatz versehen: "sofern man die gehaben kan"; anderenfalls sollten sie wenigstens "sunst gerichtlicher Ubung erfahren und gebreuchig" sein.3
Auf die Zustände an den unteren Gerichten geht die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 bereits in der Vorrede ein und nennt als ein Defizit der frühneuzeitlichen Strafrechtspflege, dass "imm Römischen Reich teutscher Nation, altem gebrauch vnnd herkommen nach, die meynsten peinlich gericht mit personen, die vnsere Keyserliche recht nit gelert, erfarn oder übung haben, besetzt" seien.4
Noch deutlicher beschreibt die Vorrede der Bambergensis von 1507 die Rechtskenntnisse der Richter und Urteiler:
"Item Nachdem auß langer gemeiner vbung dieser lande die halsgericht nit anders dan mit gemeinen personen / die der recht nicht gelernet oder geübt haben ... beseczt werden mögen / darumb haben wir in nachgeschribener vnnser ordnung nit allein aufsehung / wie wir denselben leuten ein form vnd weiß zu handeln vnnd zurichten anzeigten [Seite: 125] / die den keiserlichen Rechten vnnd guter gewonheit nach / bestendig sein mochte / Sünder haben des mere bedencken müssen / wie wir derselben leut vnbegreifflikeit zu hilff kommen / das melden wir darvmb das die leser vrsach zu wissen habe warumb wir in diser nachfolgenten vnser Ordnung die form vnd weiß der gerichtlichen handelung nit alwegen dermassen (Als so es vor den Rechtgelerten were) gehaltenn / Auch souil auff ratsuchen vnnd andere handlung bey vnsern reten gestelt haben vnd dester baß mercken können das sölichs zu notdurfft solicher Sachen gescheen ist."5
Zieht man weitere Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts heran, so wird schnell deutlich, dass das Gros der Rechtspraktiker in der frühneuzeitlichen unteren Gerichts- und Verwaltungspraxis kein juristisches Studium absolviert hatte.6 Nach Schätzungen gab es im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (bezogen auf die Gebiete nördlich der Alpen) um 1500 etwa 3000 graduierte Juristen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 10 Millionen Menschen.7 Erst um 1600 stieg die Zahl der immatrikulierten Jurastudenten an deutschen Universitäten deutlich an, ging dann aber gegen Ende des 30-jährigen Krieges wieder um die Hälfte zurück.8 Zudem schlug nur ein Teil der graduierten Juristen eine berufliche Laufbahn in der Rechtspflege ein;9 dies sollte sich erst in der zweiten [Seite: 126] Hälfte des 18. Jahrhunderts ändern, als die Zahl der Jurastudenten erneut abnahm, weil nur noch diejenigen, die später eine juristische Berufstätigkeit ausüben wollten, Jura studierten.10
Auch wenn wir bislang nicht wissen, wie hoch die Anteile der gelehrten, ungelehrten und halbgebildeten Rechtspraktiker11 in der frühneuzeitlichen Rechtspflege waren,12 so kann doch festgehalten werden, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein ein abgeschlossenes Jurastudium für die Ausübung einer Tätigkeit in der Rechtspflege nicht erforderlich war. Die Gründe hierfür dürften u.a. in dem nur schwerfällig vorankommenden Abbau der Strukturen der mittelalterlichen Ämtervergabe zu suchen sein,13 wobei auch eine Rolle gespielt haben [Seite: 127] mag, dass der Einsatz gelehrter Juristen in der Rechtspflege nicht als notwendig14 und teilweise sogar als nachteilig empfunden wurde. Letzteres lässt sich beispielsweise der Vorrede des Praktikerhandbuchs von Johann Arnold von Dorneck aus dem Jahr 1576 entnehmen:
"Ist wol zu beklagen / daß die peinliche Gericht / mehrer ort Teutschen Landes / mit gemeinen ungelehrten / unerfahrnen Leyen Personen / offtmals auß gebräch und mängel [Seite: 128] gelehrter Leut / zum mehrertheil aber auß verachtung derselben / besetzt / angeordnet und bestellt werden."15
Aber auch das ganze 17. Jahrhundert und selbst noch im frühen 18. Jahrhundert gehen die Vorreden der Praktikerhandbücher ganz selbstverständlich davon aus, dass ein nicht unerheblicher Teil der Rechtspraktiker keine juristische Ausbildung vorweisen kann.16 So heißt es etwa noch im Notarhandbuch von Johann Christoph Nehring aus dem Jahr 1719, dass sich dieses nicht allein an Notare wende, sondern als Handbuch auch geeignet sei für
"angehende Gerichts-Personen, Actuarios, Gerichtsschreibere, Beysitzere und Schöppen, auch andere, die entweder gar keine Academische Studia haben, oder der Rechts-Wissenschaft nicht beygethan sind, und doch entweder vor sich selbst, oder in Vormundschafft anderer Gerichtlichen Handlungen beywohnen oder Processe führen, oder als Gerichts-Personen sich darbey befinden müssen".17
Ein sehr anschauliches Bild von der frühneuzeitlichen Rechtspflege in einer größeren Stadt mit einer juristischen Fakultät hat vor einigen Jahren der Basler [Seite: 129] Rechtshistoriker Hans Rudolf Hagemann gezeichnet.18 Am Basler Stadtgericht wurde erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Schultheißenamt mit einem gelehrten Juristen besetzt, der den Vorsitz des Gerichts führte, aber nicht selbst Recht sprach. Die Urteilsfindung oblag wie seit alters den Urteilern, bei denen es sich um Basler Kaufleute und Handwerker handelte.19 Die Fürsprecher, die in Basel besoldete Gerichtsbeamte waren, hatten ebenfalls in der Regel keine juristische Ausbildung. Sofern Advokaten in die Verfahren eingeschaltet wurden, beschränkte sich deren Aufgabe auf das Verfassen von Schriftsätzen, die dann von den Fürsprechern in der Verhandlung verlesen wurden. Zudem handelte es sich auch bei den Advokaten erst seit dem 17. Jahrhundert häufiger um studierte Juristen. Auch unter den in Basel tätigen öffentlichen Notaren finden sich bis ins 18. Jahrhundert nur vereinzelt studierte Juristen. Erst die Basler Stadtgerichtsordnung von 1719 schreibt ein juristisches Examen für die Zulassung zum Notariat zwingend vor.20
II. Rechtsanwendung im Rezeptionszeitalter
Die Frage, in welchem Verhältnis das gelehrte Recht zu den partikularen Rechten stand, ist nur theoretisch einfach zu beantworten, denn wir wissen nur wenig darüber, wie die sog. gemeinrechtliche Rechtsanwendungslehre in der Rechtspflege, insbesondere an den unteren Gerichten, praktisch umgesetzt wurde. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet die Beantwortung der Frage, wie in den Fällen, in denen das Ius Commune zur Anwendung kam, der "Transfer" des gelehrten (lateinischen) Rechts in die deutschsprachige Gerichtspraxis erfolgte (zum Transferbegriff siehe unten Ziff. IV.). Schließlich wissen wir fast gar nichts darüber, wie im Zuge der Professionalisierung der Rechtspflege [Seite: 130] gelehrte Juristen und ungelehrte Rechtspraktiker miteinander oder auch gegeneinander agierten.
1. Gemeinrechtliche Rechtsanwendungslehre
Nach der von der Rechtswissenschaft entwickelten Rechtsanwendungs- bzw. Rechtsquellenlehre ging das partikulare Recht als spezielleres Recht dem gemeinen Recht des Reiches vor.21 Das Ius Commune, insbesondere das seit dem 12. Jahrhundert durch gelehrte Juristen fortentwickelte römisch-kanonische Recht, hatte somit grundsätzlich die Funktion eines "Lückenfüllers", konnte also "nur" dann zur Anwendung gelangen, wenn das partikulare Recht für den konkreten Fall keine Lösung bot. Die Rechtswissenschaft tendierte allerdings dazu, die Rechtsanwendungslehre zugunsten des gelehrten Rechts auszudehnen, d.h. die Lücken im partikularen Recht möglichst groß zu definieren: Auf das gemeine Recht sollte auch dann zurückgegriffen werden, wenn das partikulare Recht zweifelhaft war oder unvernünftig erschien. Zudem sollte partikulares Recht — wie auch § 3 RKGO ausdrücklich bestimmte22 — nur angewandt werden, wenn die Parteien sich vor Gericht darauf berufen hatten, während vorausgesetzt wurde, dass das Gericht das gemeine Recht kannte.23
In welchem Maße die (erweiterte) gemeinrechtliche Rechtsanwendungslehre zur Durchsetzung des römisch-kanonischen Rechts in der Rechtspraxis beigetragen hat, ist bislang nur ansatzweise erforscht.24 Da die unteren Gerichte [Seite: 131] im 16. Jahrhundert nahezu ausschließlich und auch noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein überwiegend mit ungelehrten Richtern und Schöffen besetzt waren, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass das Ius Commune aus eigener Kenntnis der zur Rechtsfindung berufenen Personen zur Anwendung kam.25
2. Rechtsauskünfte gelehrter Juristen
Eine weitere Möglichkeit, das Ius Commune auf den konkreten Rechtsfall anzuwenden, bestand — gerade für ungelehrte Rechtspraktiker — in der Einholung der Expertise eines gelehrten Juristen. Eine solche Expertise konnte von den Parteien dem Gericht vorgelegt werden; bei schwierigen Rechtsfragen konnte aber auch das Gericht zur Einholung einer Rechtsauskunft verpflichtet sein. Sofern Rechtsgutachten gelehrter Juristen eingeholt wurden, wurde den ungelehrten Rechtspraktikern das römische Recht als überschaubares "Häppchen" [Seite: 132] bezogen auf den konkreten Fall präsentiert. Ihre Aufgabe bestand in diesem Fall nur darin, das Ergebnis der eingeholten Expertise als Urteil zu verkünden; vertiefte Kenntnisse im römisch-kanonischen Recht waren hierzu nicht erforderlich.26
Die Einholung von Rechtsrat und die Verkündung der erteilten Auskunft als eigene Entscheidung27 waren keine Erfindung des Rezeptionszeitalters. Bereits das mittelalterliche Verfahren vor der praktischen Rezeption des römisch-kanonischen Rechts kannte die Einholung von Rechtsauskünften bei Oberhöfen.28 Es überrascht daher nicht, dass die Gesetze der frühen Neuzeit den (ungelehrten) Richtern empfehlen, in schwierigen Fällen Rechtsrat bei Oberhöfen oder Juristenfakultäten einzuholen. Art. 219 der Carolina gibt dabei eine klare Reihenfolge vor: Das Gericht sollte in Zweifelsfällen zunächst bei den bislang angefragten Oberhöfen Rat suchen, mangels zuständigem Oberhof bei der die Gerichtshoheit ausübenden Obrigkeit; und erst wenn auch diese nicht angefragt werden konnte (weil sie im Verfahren die Anklage von Amts wegen führte), durfte sich das Gericht an eine juristische Fakultät oder einen gelehrten Juristen wenden, wobei diejenigen auszuwählen waren, die die geringsten Kosten verursachten.29[Seite: 133]
Auch in den Hofgerichtsordnungen der Territorien war die Einholung von Rechtsrat geregelt. So sah beispielsweise die Celler Hofgerichtsordnung von 1564 für den Zivilprozess vor, dass in Zweifelsfällen der Rat eines Rechtsgelehrten oder einer Juristenfakultät einzuholen war, während in Strafverfahren die Akten an einen Schöppenstuhl geschickt werden sollten.30 Schließlich sollten für den Fall, dass sich die sechs Assessoren des Hofgerichts nicht einigen konnten und die Stimmen so verteilt waren, dass die gelehrten Juristen die eine Auffassung und die adligen Assessoren die andere vertraten, "die Acta an eine unverdechtige Universität / umb Rechts belernung / uff der Partheyen unkosten" verschickt werden.31
3. Gesetze der Rezeptionszeit
Wegbereiter der Rezeption waren schließlich auch die in der frühen Neuzeit erlassenen Stadt- und Landrechtsreformationen sowie die Prozess- und Halsgerichtsordnungen. Bei ihnen handelt es sich um Überarbeitungen des einheimischen Rechts, mit denen einerseits bewusst römisch-rechtliche Institute in die partikularen Rechte integriert wurden, die aber andererseits auch den Anwendungsbereich für das Ius Commune verkleinerten, weil mit der umfassenden Überarbeitung des Rechts auch zahlreiche Lücken geschlossen und Widersprüche beseitigt wurden. Die Kombination aus römisch-kanonischem Recht und partikularem Recht wirkte somit auf zwei Ebenen, und zwar zunächst auf der [Seite: 134] Ebene des romanisierten partikularen Rechts, das bei Lücken und Zweifeln auf einer zweiten (subsidiär zur Anwendung kommenden) Ebene die Heranziehung von Teilen des Ius Commune vorsah, wobei die Anteile römisch-kanonischen Rechts auf beiden Ebenen in der jeweiligen Region oder Stadt höchst unterschiedlich ausfallen konnten.
Insgesamt wissen wir bislang wenig darüber, welche Bedeutung die Romanisierung der partikularen Rechte für die praktische Rezeption des römischen Rechts hatte.32 Die auf das gelehrte Recht fokussierte Geschichtsschreibung hat an diesem "Mischrecht" bislang wenig Gefallen gefunden und hat die Rezeptionsgeschichte konsequent aus der Perspektive der subsidiär geltenden Rechtsmasse geschrieben. Dabei darf man vermuten, dass das vom Rat der Stadt oder dem Landesherrn in Kraft gesetzte romanisierte (aber volkssprachige) Recht in der Bevölkerung eine höhere Akzeptanz gefunden hat als das (häufig in lateinischer Sprache) durch gelehrte Juristen vermittelte Ius Commune.
Im Hinblick auf das vorliegende Thema ist aber vor allem die Parallele zur volkssprachigen Praktikerliteratur von Interesse. Beide Quellengattungen, die Gesetze der Rezeptionszeit einerseits und die volkssprachige Praktikerliteratur andererseits, stellen die Grundlage für den mit der praktischen Rezeption des gelehrten Rechts zu leistenden Rechts- und Sprachtransfer dar.33 Die Sprache beider Textsorten zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie trotz Romanisierung der Inhalte mit erstaunlich wenigen lateinischen Lehnwörtern auskam,34 vielmehr durch Wortneuschöpfungen für zahlreiche römischrechtliche [Seite: 135] Institute deutsche Rechtsbegriffe schuf, von denen sich freilich nicht alle im Laufe der Zeit bewährten.35
Der Begriff "Praktikerliteratur" bedarf zunächst einer Eingrenzung, und zwar einerseits durch Abgrenzung von normativen Rechtstexten und andererseits durch eine Einordnung innerhalb der Gattung Rechtsliteratur (d.h. der Fachliteratur zum Bereich des Rechts).
Für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit stellt sich zunächst das Problem, dass die Grenzen zwischen normativen Rechtstexten und Rechtsliteratur fließend sind und sich insbesondere die spätmittelalterlichen Rechtsbücher, die autoritativen Charakter erlangten, nur schwer dem einen oder anderen Bereich zuordnen lassen.41 Daher stößt auch eine Übertragung der sprachwissenschaftlichen Differenzierung zwischen textus und glosa42 an Grenzen:43 Danach wären als Rechtsliteratur solche Werke einzuordnen, die (normative Wirkung entfaltende bzw. autoritative Anerkennung erzeugende) Rechtstexte erläutern und auslegen. Mit dieser Differenzierung könnten somit nicht nur sämtliche Gesetze [Seite: 137] des Reiches, der Territorien und der Städte, sondern auch diejenigen Rechtsbücher, die gesetzesähnlichen bzw. autoritativen Charakter erlangten, von der Rechtsliteratur abgegrenzt werden.44 Das bedeutendste Rechtsbuch des Mittelalters, der Sachsenspiegel, wäre nach dieser Einteilung als (normativer bzw. autoritativer) Rechtstext, seine Bearbeitungen, etwa die Buch'sche Glosse (die im Laufe der Zeit allerdings selbst als autoritativer Rechtstext anerkannt wird)45 oder der Sachsenspiegelkommentar von Christian Zobel,46 als Rechtsliteratur einzuordnen.
Auch wenn diese Differenzierung aufgrund der bestehenden Zweifelsfälle, Mischformen und Übergänge von der einen Form in die andere nicht immer eine eindeutige Zuordnung erlaubt, soll hier (mangels besserer Konzepte) insoweit mit dieser Abgrenzung gearbeitet werden, als unter Rechtsliteratur alles verstanden wird, was einen normativen Rechtstext voraussetzt. Damit fallen unter Rechtsliteratur sämtliche Werke funktionsgebundener Fachliteratur, deren Gegenstand das Recht ist, wobei die Funktion dieser Werke darin besteht, Rechtstexte für den Gebrauch in Wissenschaft oder Praxis zu erläutern, didaktisch aufzubereiten oder zu systematisieren. Innerhalb der Rechtsliteratur bildet die Praktikerliteratur eine Untergruppe, die — im Gegensatz zur wissenschaftlich ausgerichteten Rechtsliteratur — durch eine praxis-, d.h. anwendungsbezogene Vermittlung des Rechtsstoffes gekennzeichnet ist, wobei sich die [Seite: 138]volkssprachige Praktikerliteratur der frühen Neuzeit in erster Linie an ungelehrte Rechtspraktiker richtet.
Volkssprachige Praktikerliteratur ist somit Fachliteratur, deren Zweck die Vermittlung geltenden Rechts für den Gebrauch in der Praxis ist und deren Adressaten (vor allem ungelehrte) Rechtspraktiker sind, d.h. Personen, die in den Tätigkeitsfeldern der Rechtspflege professionell oder ehrenamtlich tätig sind.47 Die beiden bekanntesten Werke aus der Gattung der volkssprachigen Praktikerliteratur sind der Klagspiegel und Tenglers Laienspiegel — beide von Sebastian Brant bzw. mit dessen Empfehlung Anfang des 16. Jahrhunderts zum Druck gebracht.48
1. Forschungsstand und Forschungsdesiderate
Der Forschungsstand zur volkssprachigen Praktikerliteratur geht allerdings kaum über die Aufarbeitung dieser beiden Werke, die in den letzten Jahren maßgeblich von Andreas Deutsch geleistet wurde, hinaus.49 Das Desinteresse der rechtshistorischen Forschung an der (volkssprachigen) Praktikerliteratur dürfte auf die Einordnung dieser Gattung als "populäre Literatur" durch Roderich Stintzing in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen [Seite: 139] sein.50 Der Name ist bis heute haften geblieben (so lautet der entsprechende Eintrag im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte "Populäre Rechtsliteratur");51 vereinzelt genannte Alternativen wie "juristische Trivialliteratur" oder "Vulgarliteratur"52 werden der volkssprachigen Praktikerliteratur ebenfalls nicht gerecht.
Auch die von Stintzing in den 1860er Jahren vertretene These, die sog. "populäre Literatur" habe mit dem Klag- und Laienspiegel bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, ist bis heute unwidersprochen geblieben und wird in der Literatur meist unkritisch rezipiert.53 Tatsächlich stehen aber beide Werke nicht am Ende einer Entwicklung, sondern eher an deren Anfang. Die volkssprachige Praktikerliteratur löst mit Beginn des Buchdrucks die Gattung der spätmittelalterlichen Rechtsbücher ab und bleibt im Bereich der volkssprachigen Rechtsliteratur für rund 250 Jahre bestimmend.54[Seite: 140]
Entscheidend für die Verbreitung und den Erfolg dieser Werke war ein neues Medium, das das bisher von Hand zu Hand weitergereichte Wissen jetzt als gedruckte Massenware zugänglich machte.55 Einige Werke erreichten so hohe Auflagen, dass sie in nahezu jeder Amtsstube verfügbar gewesen sein dürften.56 Zudem wurden auch einzelne volkssprachige Werke auf dem europäischen Markt verbreitet, wie etwa die Praktikerhandbücher und Traktate von Joos de Damhouder, die in mehreren Volkssprachen (niederländisch, französisch, deutsch und polnisch) gedruckt wurden.57 Die starke Nachfrage nach der volkssprachigen Praktikerliteratur könnte mit der Konkurrenzsituation zwischen gelehrten und ungelehrten Rechtspraktikern zusammenhängen und bei Letzteren einen gewissen Anpassungsdruck erzeugt haben, sich Grundzüge des gelehrten Rechts und des gemeinrechtlichen Verfahrens anzueignen.58 Auch [Seite: 141] wenn wir bislang noch wenig über die volkssprachige Praktikerliteratur wissen,59 so wird doch die Bedeutung dieser Werke für die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts nicht bestritten.60[Seite: 142]
Die Geschichtsschreibung zum Rezeptionszeitalter hat sich lange Zeit auf die Rechtswissenschaft, d.h. auf die Fortentwicklung des gelehrten Rechts durch (einzelne) gelehrte Juristen konzentriert.61 Dieser Fokus der Rezeptionsforschung hat dazu beigetragen, dass die volkssprachige Praktikerliteratur entweder gar nicht behandelt62 oder nur in Abgrenzung zur gelehrten Literatur gesehen und insoweit als Verfälschung oder Verflachung des gelehrten Rechts begriffen wird.63 Nur vereinzelt wird erkannt, dass die Emanzipation der volkssprachigen Praktikerliteratur von der gelehrten Literatur den Bedürfnissen der damaligen Rechtspraxis geschuldet war64 und sich somit anhand der Praktikerhandbücher der jeweilige Rezeptionsgrad ablesen lässt.
2. Versuch einer Typologie
Im Zeitalter der praktischen Rezeption des römisch-kanonischen Rechts lassen sich auch innerhalb des gelehrten Juristenstandes Veränderungen beobachten — und zwar zum einen die Verwissenschaftlichung des Partikularrechts und zum [Seite: 143] anderen die Anpassung des gelehrten Rechts an die Bedürfnisse der Rechtspraxis.65 Als Folge dieser Entwicklung tritt die ausschließlich auf das wissenschaftliche Interesse zugeschnittene Kommentierung nach der Legalordnung des Corpus iuris mehr und mehr hinter eine auf einzelne Rechtsgebiete zugeschnittene Darstellung zurück. Das Prozessrecht wird jetzt in den ordines iudiciorum als Einheit behandelt; Entsprechendes gilt für das Straf- und Lehnrecht und zunehmend auch für weitere Rechtsmaterien wie das Eherecht, das Erbrecht, das Vertragsrecht, das Handelsrecht usw. Innerhalb dieser Rechtsgebiete werden verschiedene Quellen (römisches Recht, kanonisches Recht, partikulares Recht) herangezogen, um den Sachgegenstand umfassend rechtlich zu würdigen. Daneben entwickeln sich weitere Literaturtypen, insbesondere die auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnittene kasuistisch-forensische Literatur.66
Angesichts dieser zunehmenden Ausrichtung der gelehrten Literatur auf die Praxis überrascht es nicht, dass sich fast alle im Rezeptionszeitalter von gelehrten Juristen genutzten Literaturtypen67 auch in der volkssprachigen Praktikerliteratur wiederfinden. Zu nennen sind im Einzelnen: 1. Kommentare (Erläuterung der Rechtsnormen in der Abfolge des normativen Rechtstextes),68[Seite: 144] 2. Differentienliteratur (vergleichende Gegenüberstellung verschiedener Rechte),69 3. Monographien (Darstellung einer abgrenzbaren Rechtsmaterie in einem selbständigen, quellenunabhängigen Aufbau, häufig unter der Bezeichnung "Traktat")70 sowie 4. Lehrbücher (systematische und didaktische Aufbereitung ganzer Rechtsgebiete unter quellenunabhängiger Darstellung des Stoffes), wobei hierzu neben Einführungslehrbüchern zum gelehrten Recht,71 die sich teilweise kaum von reinen Übersetzungen (etwa der Institutionen) unterscheiden lassen,72 vor allem Darstellungen unter dem Titel Practica zu rechnen [Seite: 145] sind.73 Bei letzteren handelt es sich um eine wichtige Untergruppe der Praktikerliteratur, denn diese Handbücher (häufig Prozessrechtshandbücher in Anlehnung an die spätmittelalterlichen ordines iudiciorum) machten das gelehrte Recht und das gemeinrechtliche Verfahren durch ihre konkreten Praxisbezüge einfach handhabbar.74
Einen weiteren eigenständigen Komplex bildet 5. die Entscheidungsliteratur (forensisch-fallbezogene Literatur), die für die Praxis aufbereitetes Spruchmaterial enthält, wobei hier zwei Untergruppen, nämlich die Konsilienliteratur (Gutachtensammlungen einzelner Rechtsgelehrter oder Fakultäten zu praktischen Fällen)75 und Rechtsprechungssammlungen (Sammlungen mit Material aus der gerichtlichen Praxis)76 zu unterscheiden sind.77 Schließlich sind [Seite: 146] noch Praktikerhandbücher für einzelne Berufsgruppen, insbesondere 6. die Notariatsliteratur78 sowie 7. Formular-, Kanzlei- und Rhetorikbücher79 zu nennen. Gerade bei diesen beiden letztgenannten Typen ist zu vermuten, dass die in den Mustertexten und Formularen enthaltenen Elemente römischen Rechts [Seite: 147] ohne vertiefte Rechtskenntnisse der ungelehrten Rechtspraktiker übernommen wurden und so allmählich in die Praxis einsickerten.80
Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass die Zuordnung einzelner Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts zu bestimmten Literaturtypen nicht ganz einfach ist und insbesondere auch Mischformen vorkommen.81 Im Hinblick auf das Thema des Transfers wäre es zudem lohnend, nach typischerweise auftretenden Abweichungen von der gelehrten Literatur im Hinblick auf die Inhalte, die Darstellungsformen und die Rechtsterminologie zu suchen: Welche Werke der gelehrten Literatur werden gar nicht oder selten und welche werden besonders häufig übersetzt bzw. als Vorlagen genutzt? Welche Inhalte und Rechtsgebiete der gelehrten Literatur fanden selten und welche häufig den Weg in die volkssprachige Praktikerliteratur? Verändern sich Rechtsinhalte durch den Sprachtransfer und welche sprachlichen Transferleistungen werden zur Grundlage der modernen Rechtsterminologie?
Filippo Ranieri hat schon vor vielen Jahren bezogen auf die Dissertationsthemen des 17. und 18. Jahrhunderts (die stark auf die Problembereiche der Praxis ausgerichtet waren) darauf hingewiesen, dass "eine systematische Erforschung der thematischen Schwerpunkte dieser Literaturgattung vorzüglich" geeignet sei, um "die strukturellen Ordnungsprobleme der damaligen Gesellschaft sichtbar zu machen".82 Dies gilt aber noch viel mehr für die volkssprachige Praktikerliteratur, weil diese Zeugnis für den juristischen Horizont der ungelehrten Rechtspraktiker (und damit auch für deren Ausbildungsstand), für den jeweiligen Rezeptionsgrad sowie für das Kultur- und Argumentationsniveau innerhalb der Rechtspflege ablegt.83[Seite: 148]
3. Bedeutung der Praktikerliteratur für die Rezeption
Ein wesentlicher Vorzug der volkssprachigen Praktikerliteratur lag darin, dass die Werke passgenau auf die jeweiligen Bedürfnisse der Rechtspraxis und der ungelehrten Rechtspraktiker zugeschnitten waren. So lehnte sich Tengler im Bereich des Strafrechts an das neueste Strafgesetzbuch seiner Zeit und Region an, nämlich an die Bambergensis von 1507, würdigte ihren Inhalt jedoch kritisch, ordnete den Stoff neu und unterschied zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht. Damit korrigierte er einen wesentlichen Mangel der Bambergensis (den im Übrigen auch noch die rund zwanzig Jahre später in Kraft gesetzte Carolina enthielt). Auch innerhalb einzelner Abschnitte verbesserte Tengler die Systematik, kürzte oder zog Tatbestände zusammen, ergänzte aber auch vereinzelt Regelungen, fügte Erläuterungen ein, wo es ihm notwendig erschien, und verbesserte den Text auch sprachlich.84 Dass er sich dabei auf verschiedene Vorlagen stützte und teilweise kompilatorisch arbeitete, entsprach dem Stil der Zeit (und zwar auch im gelehrten Schrifttum).85
Insgesamt verfolgte Tengler den Anspruch, die wichtigsten Rechtsmaterien (Gerichtsverfassung, Zivilprozess, Straf- und Strafprozessrecht) nebst einigen wichtigen Reichsgesetzen (wie z.B. den Ewigen Landfrieden von 1495 und die Goldene Bulle von 1356) den Rechtspraktikern in einem Handbuch zur Verfügung zu stellen.86 Die Nähe zwischen Rechtstext und Rechtsliteratur wird in Tenglers Praktikerhandbuch durch die Beigabe einzelner Reichsgesetze und durch die Nutzung von Gesetzestexten wie der Bambergensis als Vorlage greifbar. Aber auch zahlreiche Sammelhandschriften belegen, dass Rechtstexte [Seite: 149] ganz selbstverständlich mit volkssprachiger Praktikerliteratur überliefert wurden.87
Auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Gesetzestext und Rechtsliteratur wurde bereits oben (zur Wormser Reformation) hingewiesen. Die Wormser Reformation ist jedoch kein Einzelfall; so unterscheidet sich beispielsweise die Reichsnotariatsordnung von 1512 inhaltlich und sprachlich kaum von den Notariatshandbüchern der Zeit88 und die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 sind mit Gesetzeskraft versehene Gutachten gelehrter Juristen zu einzelnen strittigen Rechtsfragen.
Es wurde schon daraufhingewiesen, dass die Nähe zwischen normativem Rechtstext und Rechtsliteratur der Zeit durchaus vertraut war, denn schon die spätmittelalterliche Rechtspraxis hatte mit den Rechtsbüchern eine Gattung hervorgebracht, die zwischen beiden Formen stand bzw. Mischformen kannte. Insofern überrascht es auch nicht, dass die frühneuzeitlichen Praktikerhandbücher in die Tradition der Rechtsbücher gestellt wurden, wie etwa ein anonym verfasstes, 1531 in München gedrucktes Praktikerhandbuch mit dem Titel Ain laijsche anzaigung bezeugt. Dieses empfiehlt sich am Ende der Vorrede dem Leser mit dem Worten:89
"So möcht / doch guͦet sein ... die Richter / hettenns auch / bey der hannd / es gäbe in doch / zuͦm wenigsten / als vil anweysung / als des Tennglers / Layenspiegel / der Sächssisch spigl / vnnd ander / dergleichen Teütsche Rechtbüecher." [Seite: 150]
Ohnehin scheint für die Rechtspraktiker die Differenzierung zwischen Gesetzestext und Rechtsliteratur keine große Rolle gespielt zu haben, denn die Praktikerhandbücher wurden zum Teil wie Gesetzestexte genutzt.90 Diese Nähe von Rechtstext und Rechtsliteratur ist dabei als Chance zu begreifen, die es erlaubt, den jeweiligen Stand der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts und die eigenständige Fortbildung des Rechts in der Praxis nicht nur anhand von Gesetzestexten, sondern auch mit Hilfe der Praktikerliteratur nachzuvollziehen. Denn nicht nur die Verfasser der Praktikerhandbücher bedienten sich teilweise wörtlich aus unterschiedlichen Vorlagen, zu denen neben gelehrter Literatur auch ältere Praktikerhandbücher und Gesetzestexte gehörten, vielmehr nutzten auch umgekehrt die Verfasser der Stadt- und Landrechtsreformationen, der Prozess- und Halsgerichtsordnungen sowie der Reichsgesetze die Praktikerliteratur.
Allmählich begegnet auch die (neuere) Forschung diesem Phänomen und seinen Möglichkeiten für die Rezeptionsforschung aufgeschlossener: So hat Friedrich-Christian Schroeder vor kurzem nachgewiesen, dass die Carolina zwei Regelungen enthält, die nicht in der Bambergensis, wohl aber in Tenglers Laienspiegel zu finden sind.91 Gianna Burret kommt zu dem Ergebnis, dass das "Anliegen, das Tengler mit seinem Laienspiegel verfolgte, ... über die Schaffung eines Handbuches für Laienrichter weit hinaus[ging und er] sich selbst und sein Werk als Teil der Reformbewegung seiner Zeit" sah.92 Zu Recht ordnet daher Burret den Laienspiegel als "Rezeptionsquelle" ein93 und arbeitet heraus, dass Tengler seine Aufgabe darin sah, das gelehrte Recht den ungelehrten Rechtspraktikern im Hinblick auf die Bedürfnisse der städtischen Praxis und unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts nahezubringen.94 Im Verhältnis zu dem rund 70 Jahre älteren Klagspiegel kann Burret zudem in [Seite: 151] beiden Praktikerhandbüchern für die Darstellungen des Inquisitionsprozesses unterschiedliche Rezeptionsstufen nachweisen.95
Wie stark selbst bei Übersetzungen die Werke angepasst wurden, mag ein letztes Beispiel zeigen. Anhand eines Vergleichs der lateinischen, französischen und deutschen Version von Damhouders Praxis rerum criminalium kommt Susanne Hehenberger zu dem Ergebnis, dass die "Ausführungen zur Sodomie ... quantitativ je nach verwendeter Sprache und Erscheinungsjahr" stark variieren. Die quantitative Differenz (die lateinische Fassung von 1546 enthält in 35 Absätzen verschiedene Varianten der Sodomie, während die französische Fassung von 1555 zwölf Absätze und die deutschen Fassungen seit 1565 sogar nur sechs Absätze enthalten) erklärt Hehenberger mit den jeweiligen kulturellen Besonderheiten. Die Tabuisierung des Delikts in Deutschland (wohl begründet in der Furcht, Anregungen zur Nachahmung zu geben) bringt der Übersetzer Michael Beuther von Carlstatt (1522-1587) zum Ausdruck, wenn er schreibt, dass er "den eynfältigen Leser mit vnnötigen ausschweyffen vnbeschwert lassen" möchte.96
4. Verfasser und Adressaten
Nach den bisherigen Ausführungen dürfte es kaum überraschen, dass auf die Frage nach den Verfassern und Adressaten der Praktikerliteratur eine einfache Antwort folgen kann: Hier schreiben Rechtspraktiker für Rechtspraktiker. Und dennoch lohnt es sich, die Gruppen der Verfasser und Adressaten etwas genauer anzuschauen.
Beginnen wir mit den Verfassern und Herausgebern der Praktikerliteratur: In den ersten 40 Jahren des Buchdrucks machte die Rechtsliteratur (die gelehrte [Seite: 152] Rechtsliteratur und die Praktikerliteratur) etwa ein Drittel des Gesamtumsatzes der Buchdrucker in Europa aus. Die Käuferschicht war offenbar finanzstark oder jedenfalls bereit, die überdurchschnittlichen Preise für juristische Werke zu bezahlen.97 Es lag daher nahe, dass sich gelehrte Juristen und ungelehrte Rechtspraktiker, oft auch in Kooperation, an diesem einträglichen Gewerbe beteiligten. So nahm Sebastian Brant Ende des 15. Jahrhunderts eine führende Rolle als Lektor, Autor und Herausgeber im Basler Buchdruck ein; etwa ein Drittel aller in Basel gedruckten Bücher wurden von ihm betreut — und Basel war damals ein führender Verlagsort mit einer umfangreichen juristischen Buchproduktion.98 Die ausgesprochen geschickte Vermarktung des Klagspiegels, die in der Namensgebung und der werbewirksamen Vorrede, die den Klagspiegel als Ergänzungsband zum Laienspiegel darstellt, zum Ausdruck kommt,99 zeugen davon, dass hier ein Kenner des Marktes am Werke war (beide Werke sind allerdings erst nach dem Wechsel Brants nach Straßburg herausgegeben worden).
Kaum erforscht sind bislang die Netzwerke, die in den ersten Jahrzehnten des Buchdrucks in Süddeutschland im Zusammenhang mit der Herausgabe volkssprachiger Praktikerhandbücher entstanden sind. Dabei lassen sich diese Netzwerke relativ gut rekonstruieren, weil Verfasser, Herausgeber, Drucker und Verleger, aber auch die Verfasser von Widmungsgedichten, regelmäßig bekannt sind. Auch hier müssen einige Hinweise genügen: Jodocus Pflanzmann (um 1430-1493/97), der Ende des 15. Jahrhunderts in Augsburg als Fürsprecher, Notar und Drucker tätig war und als Erster einen Auszug aus den Libri Feudorum in deutscher Sprache unter dem Titel Das Buch der Lehenrecht (Augsburg 1493)100 auf den Markt brachte, stand in Briefkontakt mit Ulrich Tengler. Beide waren Rechtspraktiker ohne juristisches Studium. Tengler stand nicht nur mit dem gelehrten Juristen und Rechtspraktiker Sebastian Brant, sondern über seinen Sohn Christoph auch mit dem Ingolstädter Humanisten Jakob Locher (1471-1528) in Kontakt, der wiederum nicht nur Tenglers[Seite: 153]Laienspiegel, sondern auch dem Spiegel der waren Rhetoric (Freiburg i.Br. 1493) von Friedrich Riederer (um 1440/1450-1508/1510) großes Lob zollte. Riederer hatte als Leibeigener auf Kosten seines Herrn in Freiburg i.Br. (ohne Abschluss) studiert und war nach seiner Freilassung dort als Schreiber, Drucker und Autor tätig.101
Eine weitere, für alle Seiten gewinnbringende Verbindung bestand zwischen dem gelehrten Rechtspraktiker Justin Gobler (1503-1567) und dem ersten ständigen Verlagsbuchdrucker der Stadt Frankfurt am Main, Christian Egenolff. Egenolff ein Studienfreund Goblers, druckte dessen Übersetzungen und Handbücher, während Gobler für Egenolff als Lektor juristischer Fachliteratur tätig war.102 Der Schwerpunkt der juristischen Verlagstätigkeit in Frankfurt am Main lag in dieser Zeit auf deutschsprachiger Praktikerliteratur.103
Während sich in den ersten hundert Jahren des Buchdrucks auch zahlreiche Werke ungelehrter Rechtspraktiker erfolgreich auf dem Markt behaupten konnten, bedienten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr und mehr studierte Juristen, teilweise sogar berühmte Rechtsgelehrte den Markt, die ebenfalls in ihren Vorreden auf die Bedeutung der Werke für die Rechtspraxis hinwiesen. Einer der berühmtesten Rechtsgelehrten in dieser Gruppe war Benedikt Carpzov (1595-1666), dessen Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtprozess von 1638 insgesamt sechsmal aufgelegt wurde und wesentliche Teile der drei Jahre zuvor auf Latein erschienenen Practica Nova Imperialis Saxonica rerum criminalium den ungelehrten Rechtspraktikern zugänglich machte.104[Seite: 154]
Aber auch die Gruppe der Adressaten veränderte sich: Waren es zu Tenglers Zeiten nahezu ausschließlich ungelehrte Rechtspraktiker, an die sich die Praktikerhandbücher mit ihren Titeln und in den Vorreden wandten, so wurde ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend eine weitere Zielgruppe, nämlich Jurastudenten und Universitätsabsolventen, angesprochen.105
Eines der ersten Werke, das sich ausweislich des Titelblatts ausdrücklich an "gelerte vnnd ungelerte / so vor gericht zuͦ handlen haben" richtet, ist der Gerichtliche Process von Andreas Perneder aus dem Jahr 1544. Auch dieses Praktikerhandbuch erfreute sich großer Beliebtheit und wurde über einen Zeitraum von 70 Jahren (1544-1614) durch drei verschiedene Bearbeiter in über 20 Auflagen auf den Markt gebracht.106 Der gelehrte Jurist und Rechtspraktiker Wolfgang Hunger, ein Schüler von Ulrich Zasius, der nach Perneders Tod das Werk als Erster überarbeitete, wandte sich in seiner Vorrede ausdrücklich an studierte Juristen:
"Nun ist aber den verstendigen vnd geübten wol bewist / wie vil ainem angeende Juristen (er werde ain Richter / Rhat / Beysitzer / Aduocat oder Procurator) daran gelegen, das er verstentlich / förmlich vnd mit deütlichen wortten auch in Teütscher sprach vonn seiner profession wisse zu reden."107
Gut dreißig Jahre später gab ein anderer gelehrter Jurist und Rechtspraktiker, Johann Thomas Freigius (1543-1583), ein Werk mit dem Titel Neüwe Practica Iuris und Formulen oder Concepten allerley (Basel 1574) heraus, das ebenfalls "neüwen angehnden Juristen" den Einstieg in die Rechtspraxis erleichtern sollte. In seinem Werk nahm Freigius u.a. sechzehn in deutscher Sprache verfasste Konsilien von Ulrich Zasius auf, die aus dem Nachlass seines Vaters, Nikolaus Freigius, stammten, der als Leibeigener auf Kosten seines Herrn, des Markgrafen von Baden, Anfang des 16. Jahrhunderts bei Zasius studiert hatte.108 In der Vorrede prangerte Freigius die Mängel der universitären Ausbildung an: Die Studenten würden einerseits viel Zeit damit verbringen, diejenigen Rechte zu studieren, die in der Rechtspraxis nicht gebraucht werden, und andererseits würden ihnen die notwendige praktische Erfahrung und Übung sowie Kenntnisse im einheimischen Recht fehlen. Wörtlich heißt es, dass
"ein scholar / wann er schon etlich jar auff der schuͦl hoch gestanden ist / die selbige zeit auß freilich zuͦ der practick nicht ein mal gedenckt ... / das er nicht weiß ob ihm sein muͦtter spraach zuͦ seiner vorhabenden Juristerey auch dienstlich sein werde / biß das er ein gradum in iure bekompt / als dann so er seiner Kunst ein meister soll sein / vnd desselbigen ein offen testimonium erlangt hat / vnd solte jetz dann gleich zuͦ der Policey / vnd Weltlichen Sachen vnnd händlen bereit gezogen werden / so muß er sich als dann erst inn eins Fürsten Cantzley für ein Schreiber begeben / oder gehn Speier ziehen / die Teutsche Rhetorick zu lernen".109
Als Letztes sei das Compendium Iuris von Balthasar Klammer erwähnt, das im Hinblick auf die Adressaten eine ungewöhnliche, aber dennoch ins Bild passende Entwicklung durchläuft. Der gelehrte Jurist und Lüneburger Kanzler Balthasar Klammer fertigte das Werk 1565 handschriftlich für seinen Sohn Otto an, als dieser (ohne juristische Ausbildung) Amt und Gericht in Medingen in der Nähe von Lüneburg erhielt (das Gericht war für alle erstinstanzlichen Zivilsachen und einfache Strafsachen zuständig).110 Um dem Sohn die praktische Arbeit als Richter zu erleichtern, hat Balthasar Klammer — wie er in der Vorrede schreibt — [Seite: 156]
"aus vielen rechtbuchern einen auszug gemacht undt die gemeine sachen undt hendel, so teglich in gerichten ... undt was in denselbigen recht ist, in diß kleine buch zusamengezogen undt in sonderliche titel geteilt, undt was bey jeder materi notig zu wissen ist, gesatzt".111
Da das Werk privaten Zwecken zu dienen bestimmt war und nach der Vorstellung Klammers auch nicht veröffentlicht werden sollte, sind die verarbeiteten Quellen nicht angegeben. Spätere Bearbeiter ergänzten diese: Neben gemeinem Recht (römisches und kanonisches Recht, langobardisches Lehnrecht, Schriften italienischer und deutscher Juristen) sind auch partikulare Rechte (Sachsenspiegel, Magdeburger Weichbild und Lüneburger Rechtsgewohnheiten) sowie die Peinliche Halsgerichtsordnung von 1532 verarbeitet.112 Überwiegend handelt es sich um materielles Recht,113 weil Klammer sein Werk vermutlich als Ergänzung zur Celler Hofgerichts Ordnung von 1564 anfertigte. Beide Werke kann man durchaus als Einheit begreifen: Die Celler Hofgerichtsordnung trat in der Amtszeit Klammers als Lüneburger Kanzler im Jahr vor der Fertigstellung des Kompendiums in Kraft und es ist zu vermuten, dass Klammer auch an der Hofgerichtsordnung maßgeblich beteiligt war.114
Ausdrücklich wollte Klammer seinen Sohn mit Hilfe des Kompendiums befähigen, sich vom Rat gelehrter Juristen unabhängig zu machen; seine Vorrede beginnt daher mit folgenden Worten:
"Freundtlicher, lieber son, ich habe aus langer erfarung, daß diejennige, so nicht studirt haben, ob sie sunst weltweis gnung sein, im rechten, wann man partheien in ihren rechtfertigungen entscheiden oder sunst von rechtsachen reden soll, gar weinig undt zu zeiten nichts darzu sagen konnen undt entlich auf die gelarten scheiben, und was die sagen, das recht sey, glauben undt es darbey lassen müssen, es sey recht oder nicht."115[Seite: 157]
Das für einen Laienrichter am Untergericht im Fürstentum Lüneburg geschriebene Werk wurde zwischen 1591 und 1732 von acht verschiedenen Bearbeitern in Frankfurt a.M., Leipzig, Magdeburg, Erfurt, Stettin und Frankfurt/Oder zum Druck gebracht und erreichte mehr als 40 Auflagen.116 Die Breitenwirkung des Werkes bestand zwar vor allem im Norden, es wurde aber beispielsweise auch für das erneuerte Württembergische Landrecht von 1610 benutzt.117
Von besonderem Interesse ist aber, dass das Kompendium in späteren Zeiten auch zur Ausbildung der Jurastudenten diente.118 Die Leipziger Ausgabe von Tobias Heidenreich aus dem Jahr 1625 wird mit ausdrücklicher Bewilligung der Juristenfakultät zu Leipzig gedruckt und ausweislich der Vorrede richtet sich das Praktikerhandbuch jetzt auch an studiosi juris (1630).119 In der letzten Auflage von 1732 (Frankfurt und Leipzig) schreibt der Bearbeiter Esaias Chromhard, ein Erfurter Jurist, über das Praktikerhandbuch, es sei "von vielen beliebet und gesuchet, auch auf universitäten darüber collegia gehalten worden".120 Da das Praktikerhandbuch seit dem 17. Jahrhundert an Universitäten bzw. von Studenten zu Ausbildungszwecken benutzt wurde, überrascht es [Seite: 158] auch nicht, dass Klammer im 18. Jahrhundert im gelehrten Schrifttum zitiert wird.121 Da sich das universitär erworbene Wissen (das gelehrte Recht und die lateinische Terminologie) nur teilweise mit den in der Praxis erforderlichen Rechtskenntnissen deckte, war ein auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnittenes Handbuch wie Klammers Werk für studierte Juristen ausgesprochen hilfreich, wenn nicht sogar notwendig, um in der Praxis bestehen zu können.122
IV. Rechts- und Sprachtransfer
Die Rechtsgeschichte bezeichnet den historischen Vorgang der Aufnahme bzw. des Einsickerns des römisch-kanonischen Rechts in die frühneuzeitliche Rechtspflege als "Rezeption".123 Ob dieser Begriff zur Erfassung des beschriebenen historischen Prozesses tatsächlich geeignet ist, wird schon seit längerer Zeit bezweifelt.124 Seit kurzem wird in der rechtshistorischen Forschung erneut über die "Tauglichkeit" des Rezeptionsbegriffs diskutiert,125 wobei überraschenderweise nicht bzw. nur am Rande auf die aus den Kulturwissenschaften [Seite: 159] stammende "Kulturtransfer'‘-Debatte zurückgegriffen wird.126 Hier ist nicht der Platz, um die Entwicklung und Inhalte der Kulturtransfer-Forschung im Einzelnen nachzuzeichnen; stattdessen sollen einige Hinweise genügen: Ausgangspunkt des Kulturtransfer-Ansatzes waren zunächst verschiedene Räume bzw. Gesellschaften und die Vorstellung, dass das transferierte Kulturgut von einem Raum auf einen anderen bzw. von einer Gesellschaft auf eine andere übertragen wird. Inzwischen wird dieser anhand territorial abgrenzbarer Ausgangs und Empfängerkulturen entwickelte Ansatz auch auf abgrenzbare sozialele Gruppen innerhalb eines Raumes angewandt.127
In diesem erweiterten Sinne wird der Begriff des Transfers auch im vorliegenden Beitrag verstanden. Die praktische Rezeption des römisch-kanonischen Rechts wird somit als ein Kulturtransfer (vor allem Rechts- und Sprachtransfer) von den gelehrten Juristen als einer abgrenzbaren sozialen Gruppe in das Milieu der weitgehend ungelehrten bzw. halbgebildeten Rechtspraktiker verstanden. Dass dieser Ansatz die rechtshistorische Rezeptionsforschung beleben und bereichern kann, zeigt sich bereits daran, dass nach dem Verständnis der Kulturtransfer-Forschung nicht nur das Transfergut (in diesem Fall das gelehrte Recht) und die Ausgangskultur (die gelehrten Juristen), sondern vor allem auch die Rezeptionskultur und die Vermittlerpersönlichkeiten in den Blick zu nehmen sind. So weist Stefan Schlelein daraufhin, dass als "Ausgangspunkt aller Überlegungen ... die Rezeptionsbedürfnisse der aufnehmenden Kultur, sich fremdes Kulturgut anzueignen" ausschlaggebend sein müssten. Damit werde der Gefahr begegnet, den Kulturtransfer als einen Akt zu verstehen, "in dem der rezipierenden Gesellschaft der Wille der [Seite: 160] ausstrahlenden aufgezwungen" werde.128 Dieser Ansatz kann sich als besonders fruchtbar für Forschungen zur praktischen Rezeption erweisen, denn er beinhaltet nach Matthias Middell eine "radikale Umkehrung der Perspektive auf das Verhältnis von Ausgangs- und Rezeptionskultur":
"Während die ältere Forschung hier immer nach Beeinflussungen gesucht hat und diese teilweise mit einem Kulturgefälle erklären wollte, wurde nun die Konjunktur von Rezeptionsbedürfnissen in der Aufnahmekultur zum Ausgangspunkt. Nicht der Wille zum Export, sondern die Bereitschaft zum Import steuert hauptsächlich die Kulturtransfer-Prozesse. Individuelle und kollektive Erfahrungen, Ideen, Texte, kulturelle Artefakte bekommen eine völlig andere Funktion in dem neuen, dem Aufnahmekontext; sie werden als Fremdes dem Eigenen inkorporiert."129
Dieses Vorgehen setzt zwar auch einen Vergleich zwischen der Ausgangs- und der Rezeptionskultur voraus,130 der Schwerpunkt liegt aber auf dem Vermittlungsvorgang und den Vermittlern sowie auf dem Aneignungsvorgang und den Bedürfnissen der Rezeptionskultur.131 Dabei ist insbesondere auch die gewaltige Leistung des kulturellen Imports durch "Vermittlerpersönlichkeiten" und deren "zentrale Rolle" für den Erfolg eines Kulturtransfers zu würdigen.132 In diesem Sinne muss auch die Leistung der Verfasser, Übersetzer und späteren Bearbeiter der volkssprachigen Praktikerliteratur als "produktive Umdeutung" [Seite: 161] (neu) gewürdigt werden, mit der Folge, dass insbesondere auch die Frage, ob die Vermittler das transferierte Kulturgut richtig verstanden haben, erst relevant werden kann, wenn die Bedürfnisse der Rezeptionskultur vollständig erfasst sind.133
Die Anpassung des gelehrten Rechts an die Bedürfnisse der Praxis
Auch wenn es sich bei der volkssprachigen Praktikerliteratur keineswegs um einen homogenen Bestand handelt (siehe oben Ziff. III.2.), so ist den Werken doch gemein, dass sie das für die damalige Praxis relevante Recht (gemeines und partikulares Recht) entsprechend den Bedürfnissen der Rechtspraktiker aufbereiten. Nicht wenige Werke (wie auch das Compendium Iuris des Balthasar Klammer) präsentieren das für die Praxis wichtige Ius Commune in loco, also neben dem partikularen Recht auch das vor Ort geltende römisch-kanonische Recht. Vor allem unterscheiden sich die Werke aber von der gelehrten Literatur dadurch, dass ihre Zielsetzung darin besteht, die Bedürfnisse der Rechtspraxis einfach und anschaulich unter Ausblendung des wissenschaftlichen Diskurses zu befriedigen.
So lobte etwa Wolfgang Hunger das von ihm herausgegebene Praktikerhandbuch von Andreas Perneder mit den Worten, es könne "one vil scharpfsinig disputiren / mühsam vnderweisung / spitzig aufmercken / oder sorgfeltig vn schwer nachgedencken wol mügen verstanden werden".134 Diese Form der Aufbereitung des Rechts beinhaltet auch, dass die den Handbüchern zugrunde gelegten Quellen oft nur unzureichend oder pauschal in der Vorrede erwähnt werden. Dies mag man aus der Perspektive der Ausgangskultur als einen Niveauverlust deuten, man kann dies aber auch als Emanzipation von der gelehrten Literatur begreifen, denn die volkssprachigen Praktikerhandbücher kommen ohne Berufung auf die Autoritäten aus.135 Die Werke mussten allein durch ihre Inhalte überzeugen und auf diese Weise die Bereitschaft der Rezipienten, die eigene Rechtskultur für Neues zu öffnen und zu modernisieren, ansprechen. Dementsprechend begriffen die Verfasser den kompilatorischen Charakter ihrer Werke auch als Vorzug und warben sogar damit, dass ihre Werke zahlreiche [Seite: 162] Auszüge aus anderen Schriften enthalten, weil dies dem Käufer eine Heranziehung (bzw. den Kauf) weiterer Handbücher erspare.136
Gleichzeitig war den Verfassern aber durchaus bewusst, dass diese Vereinfachung (etwa die Reduzierung komplexer Rechtsfragen auf einfache Merksätze) in schwierigen Fällen nicht immer eine Lösung bieten konnte. Daher empfahlen sie den ungelehrten Rechtspraktikern (ebenso wie die Gesetzestexte der Zeit), in Zweifelsfällen oder bei schwierigen Rechtsfragen Rat von gelehrten Juristen oder von erfahrenen Rechtspraktikern einzuholen. So heißt es beispielsweise in der Reimvorrede von Sebastian Brant zu Tenglers Laienspiegel von 1509:
"Was du nit waist das soltu fragen
lass dir das ainn gelerten sagen
Oder der mer recht hab erfarn
In solhen soll sich nyemands sparn".137
"Derhalb so wil ich alle Procuratores / so iretag nit studiret / sonder auß solichen Teutschen Büchern jre Pracitic lernen vnd gründen wollen / diß orts fleissig ermanet vnd gebetten haben / das sie sich vff dises vnd dergleichen verteutschtes Recht / nit allweg verlassen / noch wenen wollen / sie habens eben wol vnd genug verstanden / sonder so offt von nötten / vnnd sonderlich so die Sach ettwas weitleufftig / scharpff oder wichtig / sich zu den gelerten fügen / vnnd dieselbe mit rath vnd beistand der Aduocaten / handeln."138
Insgesamt lässt sich aufgrund der Anpassung der Praktikerliteratur an die Bedürfnisse der Praxis relativ gut ermitteln, in welchem Umfang das gelehrte Recht und der gemeinrechtliche Prozess in der Praxis bereits rezipiert waren [Seite: 163] und inwieweit die römisch-rechtlichen Fachbegriffe von den Rechtspraktikern verstanden wurden. Die umfangreichen Glossare mit Übersetzungen nebst Erläuterungen lateinischer Fachbegriffe zeugen zwar davon, dass ein nicht unerheblicher Teil der Rechtspraktiker in der frühen Neuzeit kaum Lateinkenntnisse hatte bzw. mangels eines Studiums nur wenig mit den lateinischen Fachbegriffen anfangen konnte, gerade deshalb liefern sie uns aber einen guten Einblick in den jeweiligen Wissensstand der Rechtspraktiker.139
Die deutschsprachigen Bearbeitungen der sog. Teufelsprozesse beruhen auf zwei verschiedenen lateinischen Vorlagen aus dem 14. Jahrhundert, dem Satansprozess (Processus Satanae contra genus humanum), der in einer Fassung Bartolus de Saxoferrato (um 1314-1357) zugeschrieben wird und später von Ulrich Tengler für den Laienspiegel verarbeitet wurde, sowie dem Belialprozess des Kanonisten Jacobus de Theramo (um 1350-1417). Gegenstand des Belialprozesses ist die Klage der Teufelsgemeinde gegen Christus auf Herausgabe des Menschengeschlechts, die vor Gott als höchstem Richter verhandelt wird. Alle Beteiligten lassen sich vertreten: Gott setzt Salomon als iudex delegatus ein, Belial tritt als Prozessvertreter der Teufelsgemeinde auf und Christus benennt Moses als seinen Prozessvertreter. Insgesamt präsentiert der Belialprozess die Heilsgeschichte in Form eines Rechtsstreits bis ins letzte Detail so [Seite: 164] stimmig, dass der Ablauf des Verfahrens einschließlich Appellationsinstanz und Schiedsverfahren geradezu zwingend erscheint.141
Von den deutschsprachigen Belial-Fassungen sind aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert etwa 80 Handschriften bekannt und rund 20 Drucke überliefert,142 die mit einer Ausnahme alle aus dem süddeutschen Raum stammen.143 Der Belial gehört zu den ältesten gedruckten deutschsprachigen Werken der juristischen Praktikerliteratur (der erste Druck erschien bereits in den 1460er Jahren) und in Augsburg war der deutsche Belial eines der meistgedruckten Werke am Ende des 15. Jahrhunderts.144 Zu den lateinischen Vorlagen145 bestehen [Seite: 165] deutliche Unterschiede: Erstens wird der Text in der Regel nicht wörtlich übersetzt, sondern frei übertragen, und zweitens sind etlichen volkssprachigen Handschriften und fast allen Drucken Illustrationen zu den einzelnen Verfahrensabschnitten beigegeben.146 Die Parallelen zu den Illustrationen der Bilderhandschriften des Sachsen- und Schwabenspiegels147 dürften kaum zufällig sein, denn nicht selten findet sich der Text in Sammelhandschriften mit partikularen Rechten wie dem Schwabenspiegel oder verschiedenen süddeutschen Stadt- und Landrechten.148 Die Ikonographie und die Überlieferung mit einheimischen Rechten belegen, dass sich mit dem Sprachwechsel vom Lateinischen zur Volkssprache auch der Adressatenkreis (von gelehrten Juristen zu ungelehrten Rechtspraktikern) änderte.149
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts feierte dann nochmals der Nürnberger Advokat Jakob Ayrer (der Jüngere, 1569-1625)150 mit einer neuen Belial-Bearbeitung große Erfolge. Das durch die Beigabe zahlreicher Formulare und Mustertexte auf rund 750 Seiten angeschwollene Werk mit dem Titel Historischer Processus Iuris (erstmals Frankfurt am Main 1597) erreichte bis 1737 [Seite: 166] mindestens 19 Auflagen151 und bezweckte ausweislich des Widmungsbriefs ebenso wie die älteren Übersetzungen des Belialprozesses die Vermittlung der gemeinrechtlichen Verfahrensgrundsätze an Rechtspraktiker:
"... darneben die gantze Historia inn vnderschiedliche Capita, alle sehr lieblich / kurtz-weilig vnd lustig / auch also verfasset worden / daß sich solchen Buchs auch die Aduocaten, Procuratores, Notarii, Schreiber / Rahts vnd GerichtsHerrn vnd andere mit gutem Nutzen wol gebrauchen können".
In Juristenkreisen scheint das Werk noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt gewesen zu sein — jedenfalls notiert der Jurastudent Johann Wolfgang Goethe in seinem Straßburger Tagebuch im Jahre 1770 den vollständigen Titel der Erstauflage von Ayrers Teufelsprozess.152
Das auffälligste Merkmal der Teufelsprozesse ist ihre "Multifunktionalität".153 Die Geschichte hat einen theologischen Hintergrund (Klage der Teufelsgemeinde auf Herausgabe der aus der Hölle entrissenen sündigen Menschheit),154 in die Handlung sind zahlreiche dramatische Wendungen, aber auch humorvolle Abschnitte eingebaut, die didaktische Qualität ist beachtlich und gattungsmäßig gehören die Texte zur juristischen Fachliteratur. Auch wenn der letztgenannte Aspekt im Vordergrund steht, so werden doch die anderen Elemente geschickt für juristisch-didaktische Zwecke genutzt und es steht außer Frage, dass der große Erfolg der volkssprachigen Belial-Fassungen auf der besonderen Ausgestaltung der Wissensvermittlung beruht: der Verrechtlichung des Heilsgeschehens, der Besetzung der Rollen im Verfahren mit biblischem [Seite: 167] Personal, dem Einbau zahlreicher dramatischer und humorvoller Passagen in das Prozessgeschehen sowie der Darstellung der Rede- und Argumentationskunst der Prozessvertreter mit der Funktion, gerade noch zulässige Taktiken im Verfahren vorzuführen.155 Fast spielerisch werden auf diese Weise alle denkbaren Verfahrensstationen des neuen gemeinrechtlichen Zivilprozesses aufbereitet.156 Das Lernen im Selbststudium wurde auf diese Weise besonders leicht gemacht, denn für einen Rechtspraktiker lag es nahe, am Fall zu arbeiten, der Rückgriff auf allgemein bekannte Motive wie die Heilsgeschichte und Strukturen wie das damals beliebte Gerichtsspiel unterstützten den Lernprozess ebenso wie die visuelle Darstellung der wichtigsten Stationen des Verfahrens durch Illustrationen und die humorvolle Aufbereitung des Stoffes.
Bereits in den Vorreden der volkssprachigen Belial-Fassungen wird nicht nur der Zweck der Schriften, die Vermittlung der Grundsätze des neuen römisch-kanonischen Verfahrens an ungelehrte Rechtspraktiker, formuliert, sondern auch das didaktische Vorgehen bei der Wissensvermittlung detailliert erläutert. Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf dem 1508 in Straßburg bei Johannes Prüss erschienenen Druck Belial zu teutsch, weitere vergleichsweise herangezogene Inkunabeln und Frühdrucke157 weisen lediglich sprachliche, aber kaum inhaltliche Unterschiede auf. ln allen Fassungen wird dem Leser jeweils am Ende der Vorrede versichert, dass sich der Rechtsstreit nicht wirklich zugetragen habe, vielmehr das Buch nur deshalb verfasst worden sei, damit man daraus lerne, einen Rechtsstreit zu führen.158 Entsprechend der [Seite: 168] Bedeutung der einzelnen Verfahrensabschnitte sind etwa zwei Drittel des Textes dem erstinstanzlichen Verfahren gewidmet, während das letzte Drittel das Appellationsverfahren und ein abschließendes Schiedsverfahren behandelt.159
Weiterhin informieren die Vorreden darüber, dass die in den lateinischen Fassungen enthaltenen Verweise auf die Quellen und die lateinischen Fachbegriffe zwar wiedergegeben werden, weil sich der Text nur so von einem "ander gedicht", d.h. der erzählenden Literatur, unterscheiden lasse, jedoch die Verweise, um den ungelehrten Leser nicht unnötig zu verwirren, mit roter Farbe durchgestrichen160 oder — im Text mit einem Handzeichen markiert — an den Rand verwiesen sind.161 Durch dieses Vorgehen, d.h. durch die Aufnahme der Verweise auf die Quellen, die gleichzeitig wieder optisch ausgesondert werden, erhält der Text einerseits das Etikett "Fachliteratur", andererseits wird dem ungelehrten Rechtspraktiker das Verständnis für den Inhalt nicht unnötig erschwert.162[Seite: 169]
Um die Funktion eines Nachschlagewerkes zu erfüllen, werden Zwischenüberschriften und Randvermerke mit den wichtigsten Schlagworten zum jeweiligen Verfahrensstand eingefügt; der Straßburger Druck von 1508 lässt sich zudem durch ein Register erschließen.163 Ohnehin wird die Arbeit mit dem Text erheblich dadurch erleichtert, dass die Handlung weitgehend dem Aufbau der damaligen Lehrbücher zum gelehrten Prozess,164 der auch den Prozessordnungen der Städte und Territorien zugrunde lag,165 folgt.166
Weiterhin sind in den Text immer wieder Merksätze und Handlungsanweisungen eingeschoben, die dem Rechtspraktiker eine thematisch einschlägige Rechtsregel oder ein bestimmtes Vorgehen im Verfahren einschärfen [Seite: 170] sollen;167 zu einzelnen Verfahrensabschnitten und Rechtsakten sind Mustertexte beigegeben168 (etwa auch das erstinstanzliche Urteil, das als Muster in vollem Wortlaut unter Nennung der Parteien und ihrer Prozessvertreter, des Richters, der Schilderung des Anspruchs, des Verfahrensablaufs und des Urteilsspruchs abgedruckt wird).169
Am Beispiel der Appellation zeigt sich deutlich, wie das gelehrte Wissen den ungelehrten Rechtspraktikem vermittelt wurde:
"Mer ist zemercken. Weñ man sich berüfft von einer vrteil so sol der richter die bottenbrieff geben dem appellierenden, vnd die brieff nennet man in latein apostolos oder litteras dimissoriales. das hab ich hie bottenbrieff genent. Die selben brieff sol man nemen / vnd flyßigklich darumb bitten jnner halb XXX tagen / nach dem dingen, das ist das gemein recht."170
Als Mustertext folgt eine "Form der bottenbrieff einer appellacion" (mit dem Randvermerk "Forma apostolorum"), der als Vorlage für jedes beliebige Verfahren genutzt werden konnte.171[Seite: 171]
Insgesamt passen sich die volkssprachigen "Belial-Fassungen" perfekt den Bedürfnissen der damaligen Rechtspraxis und den Vorkenntnissen der Rechtspraktiker an. Im Einzelnen betrifft dies das Aussondern der Quellen, Belege und lateinischen Fachbegriffe, um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, das Übergehen einzelner Rechtsinstitute des römischen Rechts, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in der Praxis rezipiert waren,172 die sinngemäße Übersetzung der lateinischen Rechtsterminologie unter Rückgriff auf die deutsche Rechtssprache sowie das Einfügen von Merksätzen, Handlungsanweisungen und Mustertexten.173 Darüber hinaus unterstützte auch die Ikonographie die Vermittlung einzelner Grundsätze des gelehrten Rechts, insbesondere des neuen Grundsatzes der Schriftlichkeit des Verfahrens.174
V. Fazit
Wir können erstens festhalten, dass die volkssprachigen Praktikerhandbücher der frühen Neuzeit nicht darauf ausgerichtet waren, den ungelehrten Rechtspraktikern vertiefte Kenntnisse des römisch-kanonischen Rechts im Wege des Selbststudiums zu vermitteln. Dies war freilich auch nicht erforderlich, denn im Rezeptionszeitalter waren weder ein Rechtsstudium noch Lateinkenntnisse notwendig, um in der Rechtspraxis bestehen zu können. Auch soweit die Praktikerhandbücher Grundzüge des gemeinrechtlichen Verfahrens vermitteln, zeugen sie von einem eher geringen Rezeptionsgrad, der sich stärker auf die Form (wie die Aufgaben des Gerichtspersonals oder den Ablauf des Verfahrens) als auf die Inhalte bezieht. Wer darüber enttäuscht ist, geht ebenso wie diejenigen, die der volkssprachigen Praktikerliteratur mangelnde Originalität [Seite: 172] und ein geringes Niveau vorwerfen,175 von falschen Erwartungen aus und stellt von vornherein nicht die richtigen Fragen (siehe oben Ziff. IV.). Die Beschäftigung mit den volkssprachigen Praktikerhandbüchern darf nicht als Beitrag zur Geschichte des gelehrten Rechts verstanden werden, sie dient vielmehr der Erforschung der frühneuzeitlichen Rechtspraxis und kann hierfür wichtige Erkenntnisse liefern. Insofern kommt es auf die Originalität einzelner Werke nicht an, vielmehr kann gerade aufgrund des kompilatorischen Charakters der Werke, der zahlreichen Auflagen und der jahrzehntelangen Überarbeitung einzelner Werke besonders gut ermittelt werden, welcher Rezeptionsstand zu einer bestimmten Zeit in der Praxis erreicht war.
Zweitens bestehen zwischen den Gesetzen des Rezeptionszeitalters und der volkssprachigen Praktikerliteratur nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich kaum Unterschiede. Einzelne Werke könnten ohne Titelblätter noch nicht einmal sicher der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden. Bei beiden Textgattungen wird die Translationsleistung (die Übertragung einer lateinischen Fachsprache in die deutsche Rechtssprache) bislang kaum wahrgenommen, obwohl die Texte weitgehend ohne Fremdwörter auskommen und die sich nun herausbildende Terminologie für die Ausbildung der modernen Rechtssprache prägend sein wird. Vergleicht man die Rechtsterminologie der frühneuzeitlichen Praktikerliteratur mit den mittelalterlichen Rechtsbüchern einerseits und den Kodifikationen der Naturrechtsepoche andererseits, so bildet die volkssprachige Praktikerliteratur (zusammen mit den frühneuzeitlichen Gesetzen) das Bindeglied zwischen der spätmittelalterlichen Rechtssprache und derjenigen der späteren Kodifikationen.176
Drittens ist festzustellen, dass sich im Laufe der Zeit der Adressatenkreis der Praktikerhandbücher verändert und sich diese zunehmend an alle Rechtspraktiker, gelehrte wie ungelehrte, richten. Der Wissenstransfer verlief somit keineswegs nur in eine Richtung (im Sinne einer Vermittlung gelehrten Wissens an ungelehrte Rechtspraktiker), vielmehr diente die Praktikerliteratur zunehmend auch dazu, gelehrte Juristen auf die Rechtspraxis vorzubereiten.[Seite: 173]
Schließlich legt viertens der Erfolg der Praktikerhandbücher über einen Zeitraum von 250 Jahren nahe, dass das gelehrte Recht trotz der zahlreichen Universitätsgründungen in Deutschland und der damit verbundenen Breitenwirkung der wissenschaftlichen Juristenausbildung lange Zeit nur ansatzweise in der frühneuzeitlichen Rechtspraxis ankam. Der Graben zwischen universitärer Ausbildung einerseits und Rechtspraxis andererseits blieb vielmehr bis zum Ende des 17. Jahrhunderts so tief,177 dass die Rechtswissenschaft schließlich begann, ihre Ausbildung zu überdenken. Nachdem Christian Thomasius bereits 1688 eine Veranstaltung mit dem Titel Der Studierenden Jugend zu Leipzig In einem Discours Von denen Mängeln derer heutigen Academien, absonderlich aber der Jurisprudenz gehalten hatte, nahm er gut ein Jahrzehnt später in seiner Schrift Summarischer Entwurf derer Grund-Lehren Die einem Studioso Juris zu wissen und auff Universitäten zu lernen nöthig (1699) zur Reform der Juristenausbildung ausführlich Stellung: Das römische Recht sei kaum in Gebrauch und daher praxisfern; lediglich ein kleiner Bruchteil der Pandekten käme in der Praxis zur Anwendung (die Angaben bei Thomasius schwanken zwischen einem und zehn Prozent). Es sei daher die Aufgabe der Rechtswissenschaft, ein praxisnahes Privatrecht zu schaffen. Die Studenten müssten auf den Universitäten endlich das lernen, was sie später in der Praxis auch anwenden könnten.178 Die Suche nach einer Lösung des Problems lässt eine neue Wissenschaftsdisziplin entstehen, das deutsche (Privat-)Recht,179 das sich ebenfalls nur begrenzt dazu eignen wird, Wissenschaft und Praxis näher zusammenzuführen — aber das ist eine andere Geschichte.180[Seite: 174]
Immerhin erkennen nun auch Rechtsprofessoren die Notwendigkeit, ihre Studenten auf die Rechtspflege besser vorzubereiten. So berichtet Johann Stephan Pütter in der Vorrede seiner Anleitung zur Juristischen Praxi wie in Teutschland sowohl gerichtliche als auch außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley- Reichs- und Staats-Sachen schriftlich oder mündlich und in Archiven beygeleget verhandelt werden von 1753, dass das Werk aus seiner jahrelangen Vorlesungstätigkeit entstanden sei.181Pütter wollte damit dem Vorwurf begegnen, dass sich die Professoren an den juristischen Fakultäten zu sehr "mit theoretischen Dingen begnügen, und zur Praxi zu wenig Anleitungen" geben, mit der Folge, dass die meisten Absolventen, "so als Sachwalter oder Richter der Welt dienen müssen, ... erst beym Antritt ihrer Arbeiten gewahr [werden], daß die academischen Anleitungen sie auf der Gränze von der Theorie zur Praxi noch viel zu weit zurück gelassen" haben.182
Pütter lehnte sich mit seiner Anleitung zur Juristischen Praxi nicht nur im Hinblick auf Inhalt, Form und Aufbau an die frühneuzeitlichen Formular-, Kanzlei-, Rhetorikbücher und Notarhandbücher an, sondern führte auch einen großen Teil dieser Werke an und empfahl sie seinen Lesern als Hilfsmittel: "Von solchen aber, die seit mehr als zwey hundert Jahren her in Teutscher Sprache bekannt geworden, kann noch eher manches in der heutigen Praxi seinen Nutzen haben ...".183
Fußnoten
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Ich danke meinen Mitarbeitern Christian Kramer und Timo Pietsch für Anregungen und Hilfe.
Unter Rechtspraktikern sind alle funktional in die Rechtspflege eingebundenen Personen (Richter, Schöffen, Advokaten, Prokuratoren, Gerichtsschreiber, Notare usw.) zu verstehen. Diese Definition lässt bewusst offen, über welche Rechtskenntnisse die Rechtspraktiker verfügten und wie sie diese erworben haben. Zu den Rechtspraktikern gehören somit nicht nur studierte Juristen.
§ 1 RKGO: "Zum Ersten das Camergericht zu besetzen mit ainem Richter, der ain gaistlich oder weltlich Fürst oder ain Grave oder ain Freyherr sey, und XVI Urtailer, die ... ye der halb Tail der Urtailer der Recht gelert und gewirdiget, und der ander halb Tail auf das geringest auß der Ritterschafft geborn sein sollen." Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 284. Die Hofgerichtsordnungen der Territorien sahen regelmäßig ebenfalls eine paritätische Besetzung der Beisitzerstellen mit Rechtsgelehrten und Adligen vor (wobei sich kleinere Abweichungen finden): So sah die Kurpfälzer Hofgerichtsordnung von 1582 (Tit. 2) einen adligen Hofrichter und zehn Beisitzer vor, von denen die Hälfte Doktoren oder Lizentiaten und die andere Hälfte Adlige (Ritterschaft) sein sollten. Nach der Hofgerichtsordnung des Herzogtums Zweibrücken von 1722 (Tit. 2) sollte dem Gericht ein adliger Hofrichter (aus der Ritterschaft) vorstehen und von den sechs Beisitzern sollten "drey oder auffs wenigst zween Rechtsgelehrten / Doctores oder Licentiaten / und die andere vom Adel und sonst erbahre / dapffere und redliche Leuth" sein. Die Braunschweigische Hofgerichtsordnung von 1571 (Tit. 2) sah auf Seiten der ungelehrten Beisitzer folgende Variante vor: Neben dem adligen Hofrichter (aus der Ritterschaft) sollten unter den acht Beisitzern "Vier gelehrte / Doctores / oder Licentiaten / die vbrigen Vier zween vom Adel / vnd zween auß den Städten" sein.
Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, Vorrede, S. 9 (hg. von Friedrich-Christian Schroeder, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532, Stuttgart 2000). Nach Art. 1 der Carolina sollten die Strafgerichte mit Personen besetzt werden, die fromm und ehrbar sind, verständig und erfahren. Und weiter heißt es: "Darzu auch Edeln vnnd gelerten gebraucht werden mögen."
So auch Wolfgang Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand, Ergebnisse, in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 1, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge Nr. 228, Göttingen 1998, S. 115-166, hier S. 137.
Gerhard Köbler, Wirkungen europäischer Rechtskultur, in: ders./Hermann Nehlsen (Hg.) Wirkungen europäischer Rechtskultur, FS für Karl Kroeschell, München 1997, S. 511-532, hier S. 515.
Ranieri, Vom Stand zum Beruf (wie Anm. 8), S. 92 [PDF-Download startet beim Anklicken] weist für die Zeit ab dem Ende des 16. Jahrhunderts daraufhin, dass "die Absolvierung eines juristischen Studiums keineswegs von den Zeitgenossen als Voraussetzung für eine spezifische professionelle Kompetenz angesehen wurde. Die Vorbereitung auf die berufliche Tätigkeit fand vielmehr ... in den Gerichts- und Anwaltskanzleien statt und wurde von den wenigsten ergriffen. ... Das Dasein als Jurist bedeutet also in einer solchen Perspektive primär einen Status; die berufliche Tätigkeit bleibt im Hintergrund." Dort heißt es weiter (S. 94 f. ): "Juristische Ämter und Funktionen scheinen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit den bürgerlichen Kreisen weitgehend offen gewesen zu sein. Juristisches Studium und Amtsposition stellen damals noch einen gegenläufigen Weg zum sozialen Aufstieg und gesellschaftlichen Ansehen dar. Es handelt sich dabei um eine gesamteuropäische Erscheinung."
Unter halbgebildeten Rechtspraktikern werden Personen verstanden, die nur kurze Zeit Jura studiert oder lediglich ein Studium der Artes liberales absolviert haben. Daneben begegnen uns Rechtspraktiker, die erst nach jahrelanger praktischer Tätigkeit in der Rechtspflege ein juristisches Studium aufnahmen oder "karrierebegleitend" zu ihrer Tätigkeit in der Praxis studierten; dazu Robert Gramsch, Erfurter Juristen im Spätmittelalter, Die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts, Leiden 2003, S. 244 ff. So hatte beispielsweise auch Ulrich Zasius (1461-1535) als junger Mann an der Artistenfakultät in Tübingen studiert; danach war er als Notar und Schreiber am Geistlichen Gericht in Konstanz und ab 1494 als Stadtschreiber in Freiburg i.Br. tätig. Erst dort begann er das Studium des römischen Rechts und wurde mit 40 Jahren zum doctor legum promoviert, nachdem er fast zwei Jahrzehnte als Rechtspraktiker tätig gewesen war. Dazu Gudrun Sturm, Art. "Zasius, Udalricus (Ulrich Zäsi)", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl. (1HRG), Bd. V, Berlin 1998, Sp. 1612-1614. Vgl. weiter das Beispiel bei Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich, Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg 1350-1515, Göttingen 2005, S. 363.
Zu Forschungsdefiziten auch Jürg Schmutz, Juristen in der Praxis, Ein Plädoyer für interdisziplinäre Grundlagenarbeit, in: Christian Hesse/Beat Immenhauser/Oliver Landolt/Barbara Studer (Hg.), Personen der Geschichte, Geschichte der Personen, Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte, FS für Rainer Christoph Schwinges zum 60. Geburtstag, Basel 2003, S. 303-315, hier S. 308 ff. Nur vereinzelt finden sich bislang (meist sehr pauschal gehaltene) Stellungnahmen; so etwa Gramsch, Erfurter Juristen (wie Anm. 11), S. 449: "Der Arbeitsmarkt für Juristen war und blieb im 15. Jahrhundert recht eng." Vgl. weiter Ranieri, Vom Stand zum Beruf (wie Anm. 8), S. 92.
So ist Hesse, Amtsträger (wie Anm. 11), S. 356 ff. für den Zeitraum 1450-1515 der Frage nachgegangen, "ob diese vergleichsweise neuen Qualifikationen mit den traditionellen Qualifikationen wie soziale Herkunft, Vermögen, Verwandtschaft oder Freundschaft konkurrieren oder diese sogar übertreffen konnten" (S. 356). Unter Auswertung der Karrieren von rund 1600 Amtsträgern aus vier Fürstentümern kommt Hesse zu dem Ergebnis, dass "zu Beginn der Neuzeit den traditionellen Kriterien wie Herkunft und fürstliche Patronage noch immer eine wesentlich höhere Bedeutung ... zukam als der Nachweis eines Universitätsstudiums" (S. 358). Insgesamt hatten lediglich 12 % von insgesamt 1600 untersuchten Amtsträgern (also nur rund 190 Personen) eine Universität besucht, wobei von diesen etwa die Hälfte einen Abschluss erworben hatte; lediglich vier der 1600 Amtsträger hatten Jura studiert (S. 358, 365 f.). Abschließend stellt Hesse fest (S. 377): "Von einer Professionalisierung gelehrter Tätigkeit, von einer Akademisierung der Funktionen oder gar von einer Pflicht, eine Universität zu besuchen, kann für die lokalen Amtsträger bis zum Ende des hier untersuchten Zeitabschnitts im Jahre 1515 keineswegs die Rede sein." Ranieri, Vom Stand zum Beruf (wie Anm. 8), S. 88 kommt für das 16. und 17. Jahrhundert zu ähnlichen Ergebnissen und geht insoweit von einem gesamteuropäischen Phänomen aus: "Wenn wir von den Juristen in der europäischen Gesellschaft der Neuzeit reden, dürfen wir nicht vom heutigen Berufsbild des Juristen ausgehen. In der Gesellschaft des Ancien Régime bleibt ... die soziale Qualität durch Herkunft und Patronage immer wichtiger als wissenschaftliche Ausbildung und berufliche Kompetenz. ... Die endgültige Profilierung des heutigen Berufsbildes des Juristen ist erst am Schluß eines säkularen Vorgangs gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu sehen, im Rahmen der endgültigen Professionalisierung der vormodemen Berufe." Als Ergebnis hält Ranieri, S. 101 fest: "Erst bei der Transformation unserer europäischen Gesellschaften von einer ständisch-stratifikatorischen zu einer funktionalen Struktur ist das heutige Selbstverständnis des Juristen denkbar geworden."
Rainer C. Schwinges, Zur Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im deutschen Spätmittelalter, in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 2, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge Nr. 239, Göttingen 2001, S. 473-493 nennt weitere Faktoren, die jedenfalls bis zum frühen 16. Jahrhundert dafür ursächlich waren, dass sich die "Expertenberufe" nur schwer durchsetzen konnten. Zudem hebt Schwinges, S. 478 ff. (bezogen auf die Zeit bis 1500) hervor, dass die Masse der akademisch Gebildeten (ca. 70-80 %) lediglich an einer deutschen Artistenfakultät studiert hatte. Ähnlich Gramsch, Erfurter Juristen (wie Anm. 11), S. 553: "Die 'Akademisierung' war eher ein Phänomen der Basisverbreiterung, des explosiven Wachstums der Artistenfakultäten ..., die gewissermaßen eine höhere Schulbildung boten, als ein Anwachsen der Zahl der Spezialisten."
Ein Beispiel dafür, dass ein juristisches Studium nur eine von mehreren Möglichkeiten für den Erwerb von Rechtskenntnissen war, ergibt sich aus dem zwischen 1605 und 1636 in zehn Auflagen erschienenen Handbuch des Notars und Gerichtsschreibers am Basler Stadtgericht Johann Rudolph Sattler, Thesaurus Notariorum, Das ist ein vollkommen Notariat und Formularbuch, Basel 1615, S. 23 f.: Dort sind in Kapitel 14 drei verschiedene Musterschreiben an den Hofpfalzgrafen mit der Bitte um Ernennung zum kaiserlichen Notar enthalten. In allen drei Mustertexten ist die Beschreibung des Werdegangs vorgesehen, wobei neben einer längeren praktischen Tätigkeit in einer Kanzlei oder bei einem Stadt- bzw. Gerichtsschreiber in den ersten beiden Varianten ein nicht näher spezifiziertes Studium genannt wird, während sich der Bewerber in der dritten Variante darauf beruft, im Selbststudium die notwendigen Kenntnisse erworben zu haben. Auch Herbert Grziwotz (Hg.), Kaiserliche Notariatsordnung von 1512, Spiegel der Entwicklung des Europäischen Notariats, München 1995, S. 42 ff. weist für die frühe Neuzeit daraufhin, dass nur wenige Notare ein Universitätsstudium absolviert hätten.
Johann Christoph Nehring, Manuale Notariorum, Latino-Germanicum, Das ist: Hand-Buch der Notarien, Aus denen üblichen Alten und neuen Rechten Zusammen getragen, mit nöthigen Instrumentis, Und einem absonderlichen Titular- und Formular-Büchlein / nach dem heutigen Stylo eingerichtet, anitzo auffs neue revidiret, und dem Publico zum Besten zum sechstenmahl ausgefertigt / mit einem Anhänge kurtzer Fragen, über den Gerichtl. Civil- und Criminal-Process, nach Chur- und Fürstl. Sächs. Gerichts-Brauch, ingleichen einer Designation, was zum Heer-Gerähte, zur Gerade, Mußtheil und Morgen-Gabe gehöret, Eisenach 1719, Vorrede, Bl. 5.
Hans-Rudolf Hagemann, Vielschichtiges Recht, Zivilrechtspflege im neuzeitlichen Basel, Basel 2009; ders., Laiengericht und gelehrtes Recht am Beispiel des Basler Stadtgerichts, in: ZNR 27 (2005), S. 1-27.
Dazu insgesamt Hagemann, Vielschichtiges Recht (wie Anm. 18), S. 83 ff. Dabei waren an der Basler Rechtsfakultät bereits seit dem Ende des 15. Jahrhunderts berühmte Juristen wie Sebastian Brant (1457/58-1521), der Zasius-Schüler Johannes Sichard (1499-1552) sowie Bonifacius Amerbach (1495-1562) und dessen Sohn Basilius Amerbach (1533-1591) tätig; dazu Hagemann, S. 73 ff., 80 ff.
Dieses Verhältnis zwischen speziellerem und allgemeinem Recht war der mittelalterlichen Rechtspraxis nicht fremd; so differenziert etwa Sachsenspiegel Landrecht III 79 § 2 zwischen "sunderlichen dorfrechte" und "gemeinem lantrechte". Dazu Karl Kroeschell, recht unde unrecht der sassen, Rechtsgeschichte Niedersachsens, Göttingen 2005, S. 63 f. Auch Dienstmannen (Ministeriale) haben nach Sachsenspiegel Landrecht III 42 § 2 "sunderlich recht".
Nach § 3 RKGO hatten der Vorsitzende Richter und die Beisitzer "nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht, die für sy pracht werden ... zu richten". Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 2), S. 285.
Dazu insgesamt Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht, Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt (Main) 2002, S. 6 ff.; ders., Rechtsvielfalt, in: Nils Jansen/Peter Oestmann (Hg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz, Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung, Tübingen 2011, S. 99-123, hier S. 111 ff. Vgl. weiter Schäfer, Juristische Germanistik (wie Anm. 8), S. 53 ff.
Dazu Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht (wie Anm. 23), S. 108 ff., 148 f., 172 ff., 669 ff., 681 ff. Oestmann hat für die praktische Umsetzung der Rechtsanwendungslehre vor dem Reichskammergericht im 16. Jahrhundert u.a. herausgearbeitet, dass die gelehrten Advokaten die Rechtsvielfalt und die Rechtsanwendungslehre auch ergebnisorientiert zum Vorteil ihrer Mandanten nutzten. War das römische Recht im konkreten Fall für die eigene Partei von Vorteil, so lag es nahe, das ungünstigere partikulare Recht gar nicht erst in den Prozess einzuführen, um seine Anwendung von vornherein zu verhindern. Vgl. zur Rechtsanwendungslehre in der Praxis auch Hans Kiefner, Art. "Rezeption (privatrechtlich)", in: 1HRG IV (1990), Sp. 970-984, hier Sp. 979 ff.; Wolfgang Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre in der Rezeptionszeit, Ebelsbach 1977, S. 8 ff.
Hagemann, Vielschichtiges Recht (wie Anm. 18), S. 87 ff., 93 kommt für Basel zu dem Ergebnis, dass erst im Laufe des 17. Jahrhunderts das gemeine Recht vor dem Stadtgericht an Bedeutung gewann. Auch Andreas Daniel, Gemeines Recht, Eine systematische Einordnung der Rechtsfigur und ihrer Funktion sowie die Bestimmung der inhaltlichen Probleme aus der Sicht des 18. Jahrhunderts, Berlin 2003, S. 113 schränkt die Geltung des römischen Rechts in der frühen Neuzeit stark ein: "Welchen genauen inhaltlichen Umfang das römische Recht im gerichtlichen Gebrauch am jeweiligen Ort gewonnen hat, ist bis heute ungeklärt. Eine exakte Analyse erscheint aber auch eine kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Denn zu unterschiedlich waren die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in den Gerichtsbezirken der Territorien. Sicherlich ist der Umfang entscheidend von der Regelungsdichte der vorhandenen (und beweisbaren) einheimischen Rechtsmaterien abhängig gewesen. Bis hierzu genauere Untersuchungen vorliegen, kann vorerst aber nur verallgemeinernd festgehalten werden, daß das einheimische Recht bei der Aufnahme des römischen Rechts in den gerichtlichen Gebrauch Widerstand geleistet hat, und seinerseits zum Teil selbst unmittelbar oder mittelbar in das römische Recht eingedrungen ist." Daniel (S. 133) gelangt zu dem Ergebnis, dass "die Gemeinrechtlichkeit des römischen Rechts für Deutschland eigentlich als widerlegt zu gelten gehabt" hätte, weil das römische Recht "nachweislich weder historisch noch juristisch in allen Territorien umfassend und einheitlich gegolten" habe.
In Städten, die sich einen gelehrten Juristen als Stadtadvokaten oder Ratssyndicus leisteten, gehörte zu dessen Aufgaben u.a. auch die Erstellung von Rechtsgutachten auf Anfrage der örtlichen Gerichte. In Basel übte das Amt des Stadtadvokaten ein gelehrter Jurist der Basler Rechtsfakultät aus; seit 1535 war dies Bonifacius Amerbach, ab 1581 hatte sein Sohn Basilius das Amt inne. Dazu Hagemann, Vielschichtiges Recht (wie Anm. 18), S. 74 ff, 81 f.
Vgl. nur Kursächsische Konstitutionen, Dresden 1572, Teil 1, Konst. 26, Bl. 15r: "Wir werden berichtet / das der mehrer teil Urteil in unsem Landen / wie sie von den Juristen Faculteten oder Schöppenstüle gefast / one voranderung ... eröffnet und publicirt werden. ... Derhalben ordenen vnd constituiren wir / das solcher gebrauch nochmals bestendig / vnd die also publicirte Urteil krefftig sein / auch in rem iudicatam gehen sollen."
Art. 219 Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (wie Anm. 4): "Erklerung bei wem, vnd an welchen orten rath gesucht werden soll. Vnnd nach dem vilfeltig hieuor inn diser vnser vnd des heyligen Reichs ordnung der peinlichen gericht von rath suchen gemelt wirdet, so sollen allwegen die gericht, so inn jren peinlichen processen, gerichts übungen vnd vrtheylen, darinn jnen zweiuel zufiel, bei jren oberhofen, da sie auß altem veriërtem gebrauch bißher vnderricht begert jren rath zu suchen schuldig sein, Welche aber nit oberhoffe hetten, vnd auff eyns peinlichen anklegers begern die gerichts übung fürgenommen wer, sollen inn obgemeltem fall bei jrer oberkeyt die das selbig peinlich gericht fürnemlich vnd on alle mittel zu bannen, vnd zu hegen macht hat, rath suchen. Wo aber die oberkeyt ex officio vnd von ampts wegen wider eynen mißhendlern, mit peinlicher anklag oder handlung volnfüre, so sollen die Richter, wo jnen zweiffeln zufiele, bei den nechsten hohen schulen, Stetten, Communen oder andern rechtuerstendigen, da sie die vnderricht mit dem wenigsten kosten zu erlangen vermeynen, rath zu suchen schuldig sein."
Dazu Albrecht Eckhardt, Der Lüneburger Kanzler Balthasar Klammer und sein Compendium Iuris, Hildesheim 1964, S. 133. In welchem Maße in der Praxis Rechtsauskünfte bei gelehrten Experten / Expertengremien (gelehrte Juristen, juristische Fakultäten) im Verhältnis zu Anfragen bei Schöppenstühlen eingeholt wurden, ist bislang kaum untersucht. Vgl. aber zu den vom Lübecker Rat eingeholten Rechtsauskünften zwischen 1410 und 1614 Eberhard Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: Franz-Josef Arlinghaus/Ingrid Baumgärtner/Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, Frankfurt (Main) 2006, S. 305-417, hier S. 319 (Fn. 50).
So auch Kiefner, Art. "Rezeption (privatrechtlich)", 1HRG IV (1990), Sp. 979: "Wie diese materiellrechtlichen Normen in der gerichtlichen (und außergerichtlichen) Rechtspraxis des 16. Jh. gehandhabt worden sind, ist noch weithin unerforscht."
Auf Parallelen zwischen Stadt- und Landrechtsreformationen und Praktikerhandbüchem weist auch Gianna Burret, Der rechtspolitische Auftrag des Laienspiegels, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 277-293, hier S. 292 f. hin.
So hat die Analyse von Andreas Görgen, Rechtssprache in der Frühen Neuzeit, Eine vergleichende Untersuchung der Fremdwortverwendung in Gesetzen des 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt (Main) 2002, S. 134 ff. ergeben, dass in fünf von sechs untersuchten Gesetzestexten die Verwendung lateinischer Fremdwörter lediglich einen Anteil von 1-1,6 % des Gesamttextes ausmacht (lediglich bei einem Gesetzestext aus dem Ende des Untersuchungszeitraums sind es 4,4 %). Nach Görgen (S. 135) scheint auch "die Abhängigkeit vom römischen Recht ... keine Rolle für das Maß der Fremdwortverwendung zu spielen".
Dazu insgesamt Okko Behrends, Die Eindeutschung der römisch-rechtlichen Fachsprache, in: Jörn Eckert/Hans Hattenhauer (Hg.), Sprache — Recht — Geschichte, Heidelberg 1991, S. 3 — 24, hier S. 9 ff., 16 ff.; Hans Hattenhauer, Lingua vernacula — Rechtssprache zwischen Volkssprache und Gelehrtensprache, a.a.O., S. 49-68, hier S. 64 ff.; ders., Zur Geschichte der deutschen Rechts- und Gesetzessprache, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften 5 (1987), S. 5 ff.; Ferdinand Elsener, Deutsche Rechtssprache und Rezeption, Nebenpfade der Rezeption des gelehrten römisch-kanonischen Rechts im Spätmittelalter, in: Friedrich Ebel/Dietmar Willoweit (Hg.), Ferdinand Elsener, Studien zur Rezeption des gelehrten Rechts, Sigmaringen 1989, S. 240-258, hier S. 245 ff.; Ruth Schmidt-Wiegand, Art. "Rechtssprache", in: 1HRG IV (1990), Sp. 344-360, hier Sp. 348.
Dazu Friedrich Battenberg, Art. "Wormser Reformation", in: 1HRG V (1998), Sp. 1536-1538, hier Sp. 1536 (die Wormser Reformation sei mit Rechtsdarstellungen vergleichbar, "die weniger Gesetz als Lehrbuch für Richter und Laien sein sollten"); Gerhard Köbler, Der Statt Worms Reformation, Gießen 1985, S. XXV f.: "Dementsprechend hat die Wormser Reformation eigentlich weniger den Charakter eines Gesetzbuches und mehr das Wesen eines Lehrbuches, das zum Gesetz erhoben wurde."
Statuten Buch. Darinnen vnderschiedlich zu finden wie es in wol reformierten Stätten vnd Regimenten soll gehalten vnd regiert werden, in allen fürfallenden sachen ..., Frankfurt (Main) 1564. Dazu Köbler, Der Statt Worms Reformation (wie Anm. 36), S. XXIII.
So schon Norbert Horn, Die juristische Literatur der Kommentatorenzeit, in: Ius Commune 2 (1969), S. 84-129 [PDF-Download startet beim Anklicken], hier S. 122.
Dazu Meinolf Schumacher, ... der kann den texst und och die gloß, Zum Wortgebrauch von 'Text' und 'Glosse' in deutschen Dichtungen des Spätmittelalters, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hg.), 'Textus' im Mittelalter, Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 216, Göttingen 2006, S. 207-227, hier S. 207 ff. Dagmar Hüpper, Wort und Begriff Text in der mittelalterlichen deutschen Rechtsüberlieferung, Der Sachsenspiegel als Text, a.a.O., S. 229-252, hier S. 236 ff. überträgt diesen Ansatz auf volkssprachige Rechtstexte bzw. Rechtsliteratur. Jedenfalls für die gelehrte Literatur passt dieser Ansatz nicht, denn der Literaturtyp der Additio kann auch zur Erläuterung der Rechtsliteratur dienen; dazu Ernst Holthöfer, Literaturtypen des mos italicus in der europäischen Rechtsliteratur der frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert), in: Ius Commune 2 (1969), S. 130-166 [PDF-Download startet beim Anklicken], hier S. 153 ff.; Alfred Söllner, Zu den Literaturtypen des deutschen Usus modernus, in: Ius Commune 2 (1969), S. 167-186 [PDF-Download startet beim Anklicken], hier S. 182.
Für eine Übertragung dieser sprachwissenschaftlichen Differenzierung scheint auch eine Glosse zum Sachsenspiegel aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu sprechen: "Wo ein texte mit korczen worten bewisen wil, da sal die glose den sin volbrengen." Aus der sog. kürzeren Glosse zu Art. 68 § 9 Sachsenspiegel Lehnrecht, zitiert nach Frank-Michael Kaufmann (Hg.), Glossen zum Sachsenspiegel-Lehnrecht, Die kürzere Glosse, Teil 2, Hannover 2006, S. 517.
Der Forschung ist bislang keine überzeugende Abgrenzung zwischen Rechtsbüchern und Rechtsliteratur gelungen. Vgl. dazu nur Peter Johanek, Art. "Rechtsbücher", in: Lexikon des Mittelalters VII, München 1995, Sp. 519-521, hier Sp. 519 f.; Dietlinde Munzel, Art. "Rechtsbücher", in: 1HRG IV (1990), Sp. 277-282, hier Sp. 277 (statt einer Einordnung findet sich dort lediglich die wenig aussagekräftige Definition "zwischen 1200 und 1500 entstanden[e] Aufzeichnungen deutschen Rechts"); Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 13. Aufl., Köln 2008, S. 263. Umfassend zur Problematik jetzt auch Hiram Kümper, Sachsenrecht, Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 38 ff. m.w.N., der insgesamt der Einordnung von mittelalterlichen Rechtstexten als "normative Texte" kritisch gegenübersteht, diese Einordnung als anachronistisch bezeichnet (S. 41) und als alternative Deutung vorschlägt, "Rechtsbücher als autoritative Lehrbücher" zu begreifen (S. 44 ff.).
So weist Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch'sche Glosse, Monumenta Germaniae Historica, Schriften Bd. 56, Hannover 2007, S. 18 daraufhin, dass spätestens seit dem 15. Jahrhundert "der Sachsenspiegel mit der Glosse so sehr zu einer Einheit verschmolzen [war], daß nicht mehr allein Eikes Text als der Inhalt des 'book of authority' zu betrachten war. Ebenso konnte die Glosse Geltungskraft als Rechtsquelle für sich in Anspruch nehmen."
So auch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 171; Söllner, Zu den Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 183 f. [PDF-Download startet beim Anklicken] unter der Überschrift "Praktikerliteratur — Hilfs- und Einführungsschriften", der dieser Gattung insgesamt nur fünf Sätze widmet: "Neben dem wissenschaftlich ausgerichteten Schrifttum gibt es Schriften, die sich an den Praktiker der Rechtspflege wenden."
Dazu Klaus-Peter Schroeder, Art. "Brant, Sebastian (1457-1521)", in: 2HRG I (2008), Sp. 663-665, hier Sp. 664. Der Klagspiegel, der 1516 von Brant neu herausgegeben wurde, erreichte insgesamt 24 gedruckte Auflagen bis 1612; der Laienspiegel erreichte 15 Auflagen zwischen 1509 und 1560. Dazu Andreas Deutsch, Art. "Klagspiegel" in: 2HRG II (2012), Sp. 1864-1869, hier Sp. 1865 f.; ders., Tengler und der Laienspiegel — zur Einführung, in: ders. (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 11-38, hier S. 19 f.
Andreas Deutsch, Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden, Ein Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts als Wegbereiter der Rezeption, Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 23, Köln 2004; ders. (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011. Weiter ist zu nennen: Gianna Burret, Der Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler, Rezeption des gelehrten Rechts in der städtischen Rechtspraxis, Köln 2010.
Die Begriffe gehen zurück auf Filippo Ranieri, Juristische Literatur aus dem Ancien Régime und historische Literatursoziologie, Einige methodologische Vorüberlegungen, in: Christoph Bergfeld (Hg.), Aspekte Europäischer Rechtsgeschichte, Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Ius Commune, Sonderhefte, Texte und Monographien, Bd. 17, Frankfurt (Main) 1982, S. 293-322, hier S. 308; Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland, Mailand 1964, S. 137, Fn. 682; Horn, Die juristische Literatur (wie Anm. 41 ), S. 120 f. [PDF-Download startet beim Anklicken]
Stintzing, Geschichte der populären Literatur (wie Anm. 50), S. 446 f. Unkritisch übernommen etwa von Joachim Knape, Dichtung, Recht und Freiheit, Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457-1521, Baden-Baden 1992, S. 155; Bernhard Pahlmann, Art. "Ulrich Tengler (um 1447-1511)", in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl., Heidelberg 2008, S. 433-436, hier S. 434 zur "populären Rechtsliteratur": "Einen zusammenfassenden Abschluss dieser Gattung stellt [Tenglers] Laienspiegel dar." Erst allmählich werden auch andere Thesen Stintzings widerlegt, vgl. nur Burret, Der Inquisitionsprozess (wie Anm. 49), S. 334; Bernd Kannowski, Der Laienspiegel, die Magdeburger Fragen und der Schwabenspiegel, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 211-231, hier S. 211 ff., 227 f.
Betrachtet man ausschließlich die deutschsprachige Rechtsliteratur, so lassen sich grob drei Phasen einteilen: erstens die Zeit der spätmittelalterlichen Rechtsbücher zum partikularen Recht (ca. 1200-1500), zweitens die Zeit der Praktikerliteratur zum gemeinen und partikularen Recht (ca. 1450-1700) und drittens die deutschsprachige (gelehrte) Literatur zum nationalen Recht seit dem 18. Jahrhundert. Ob diesen Phasen auch drei rechtssprachgeschichtliche Epochen entsprechend zugeordnet werden können, muss hier offen bleiben; vgl. zur Problematik Görgen, Rechtssprache (wie Anm. 34), S. 69 ff. m.w.N.
Erst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts lässt die Produktion deutschsprachiger Praktikerliteratur nach, wenngleich einzelne Werke bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auf den Markt gebracht werden. Die Gründe für das allmähliche Abflauen der Nachfrage mögen vielfältig sein. So geht die Buchproduktion insgesamt in den 1630er und 1640er Jahren zurück, vermutlich infolge des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs durch den 30-jährigen Krieg. Es mag aber auch ein "Sättigungsprozess" eingetreten sein, nachdem fast zwei Jahrhunderte lang deutschsprachige Praktikerhandbücher in hohen Auflagen auf den Markt gebracht worden waren. Schließlich dürfte auch die Besetzung der Tätigkeitsfelder in der Rechtspraxis durch immer mehr gelehrte Juristen, die nicht auf Übersetzungen angewiesen waren, zum Rückgang der volkssprachigen Praktikerliteratur im Laufe des 17. Jahrhunderts beigetragen haben. Dazu insgesamt Ernst Holthöfer, Funktionsweisen gemeinrechtlicher Kommunikation, Methoden zu ihrer Ermittlung, in: Walter Wilhelm (Hg.), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Frankfurt (Main) 1972, S. 131-150, hier S. 147; ders., Frankfurts Rolle in der Geschichte des juristischen Buchdrucks, in: Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Hg.), Frankfurt am Main als Druckort juristischer Literatur 1530-1630, Frankfurt (Main) 1986, S. 5-28, hier S. 23; Ranieri, Juristische Literatur (wie Anm. 52), S. 310 ff.
Geht man mit Deutsch, Der Klagspiegel (wie Anm. 49), S. 15 f. von einer gedruckten Gesamtauflage des Klagspiegels von etwa 20.000 Exemplaren aus, so dürfte jedenfalls dieses Werk in nahezu jeder süddeutschen Amtsstube im 16. Jahrhundert verfügbar gewesen sein. Vgl. weiter Burret, Der Inquisitionsprozess (wie Anm. 49), S. 2 f. zu Tenglers Laienspiegel: "... in süddeutschen Städten gehörte das Werk nachweislich zum Handapparat der Verwaltung."
Dazu Andreas Bauer, Joos de Damhouder und seine Practica Gerichtlicher Handlungen in Bürgerlichen Sachen, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hg.), "Zur Erhaltung guter Ordnung", Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz, FS für Wolfgang Sellert, Köln 2000, S. 269-318, hier S. 276 ff.
Ähnlich auch Hattenhauer, Lingua vernacula (wie Anm. 35), S. 66 zu den volkssprachigen Praktikerhandbüchem: "Derart umfangreiche Bücher zu verkaufen, bedurfte es eines Marktes in der Rechtspraxis. Es ging dabei um die Vermittlung römischer Rechtskenntnisse an ein Publikum, das zwar kein Latein sprach, aber über die Mittel zur Anschaffung der teuren Werke verfügte. Sebastian Brant redete 'deutsch mit lateinischer Zunge' für die Schöffen der volkssprachlichen Rechtspflege, die sich über das bei der Obrigkeit und den gelehrten Appellationsgerichten angewandte Recht beizeiten unterrichten wollten und mußten. Die untere Gerichts- und Verwaltungspraxis konnte es sich immerhin leisten, ohne Lateinkenntnisse auf gelehrtes Recht zurückzugreifen. Die Klagspiegelliteratur sagt wohl mehr über das Selbstbewußtsein der volkssprachlichen Rechtspflege aus, als man diesen Kompendien gewöhnlich ansieht. Sie bedarf insoweit noch der gründlichen Überprüfung."
Vgl. nur Ranieri, Juristische Literatur (wie Anm. 52), S. 308: "... die bisherige Forschung selektiert bewußt die juristisch-literarische Produktion nach Bedeutung und Folgewirkung der von den einzelnen Autoren vertretenen Lehrmeinungen unter dogmengeschichtlicher oder allgemein ideengeschichtlicher Perspektive. Man könnte allerdings die Fragestellung auch umkehren und nicht nach der Wirkungsgeschichte einzelner rechtswissenschaftlicher Leistungen fragen, sondern das juristische Schrifttum insgesamt als materiales Mitteilungsinstrument einer in sich geschlossenen Berufs- und Standesgruppe, derjenigen der Juristen, ansehen. Bei einer solchen Perspektive rückt die bisher kaum beachtete Frage nach der sozialen Funktion und Relevanz einer solchen schriftstellerischen Tätigkeit in rechtswissenschaftlicher Absicht in den Vordergrund. Es ist in der Tat bezeichnend für den jetzigen Forschungsstand, daß es bis heute an Untersuchungen über Literaturgattungen und -themen der damaligen sogenannten 'juristischen Trivialliteratur' noch fast völlig fehlt."
Darauf weist schon Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 47), S. 170 hin: Die gedruckte Rechtsliteratur der frühen Neuzeit unterscheide sich von der spätmittelalterlichen romanistischen Literatur "durch rasch wachsenden Umfang und ein Vordringen des populären Schrifttums in deutscher Sprache, das der größere Bedarf der nun rasch fortschreitenden praktischen Rezeption auch in der profanen Rechtsprechung und Geschäftsjurisprudenz hervorrief. Dieser breiten Nachfrage kam erst der Buchdruck nach. Wenn die Frührezeption ... in Handschriften uns sichtbar wird, so beherrscht und begleitet die Druckschrift das Fortschreiten der praktischen Vollrezeption. ... Während Lehrvortrag und Handschrift ... allein den Gelehrtenstand und die Eliten erreicht hatten ..., strömte durch die volkssprachliche Druckschrift eine mehr oder minder unbestimmte Kenntnis des römischen Rechts auch in die breiteren Mittelschichten ein." Und weiter auf S. 175: "Insgesamt lassen sich an den Druckschriften der Rezeptionszeit rechtsgeschichtliche Prozesse anschaulich ablesen. Zwei Schichten lösen einander ab: ein notgedrungen oder gewollt volkstümliches Schrifttum ... bekundet den Sieg des gedruckten Worts über ein wesentlich noch unliterarisches Rechtsbewußtsein der bisher zur Rechtspflege Berufenen. ... Dagegen zeigt die eigentlich wissenschaftliche Literatur in lateinischer Sprache, wie langsam doch eine konsolidierte Rechtswissenschaft heranwuchs, die sich wirklich an Bedürfnissen und Erfahrungen des deutschen Rechtslebens orientierte .... Wenn die populäre Literatur mehr Mitursache als Wirkung der praktischen Rezeption war, so ist die aus der höheren Rechtsprechung entstandene Literatur bereits ihr Ergebnis." Vgl. weiter Söllner, Zu den Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 173: "Jene frühen deutschsprachigen Schriften verfolgen das Ziel, das römisch-gemeine Recht weiten Kreisen zugänglich zu machen. Sie sind Rezeptionsschriften ... ."
So etwa Ranieri, Vom Stand zum Beruf (wie Anm. 8), S. 85, bezogen auf die gelehrte Literatur: "Rechtshistorische Studien über Juristen klammern also in der Regel sozialhistorische Fragestellungen aus und zeigen ein privilegiertes Interesse für die Geschichte des juristischen Denkens. ... Rechtsgeschichte ist daher bis heute häufig juristische Literaturgeschichte, Analyse einzelner Autoren und ihrer Werke geblieben."
Das von Helmut Coing seit 1973 herausgegebene (mehrbändige) Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte beinhaltet "eine Quellen- und Literaturgeschichte des juristischen Unterrichts, der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft" (Bd. I, 1973, S. 4; dort wird auf S. 9 f. behauptet, dass "das kontinentale Recht ... in erster Linie von Universitätsgelehrten, nicht so sehr von Gerichten geschaffen worden" sei). Der deutschsprachigen Praktikerliteratur ist kein eigener Abschnitt gewidmet, lediglich verstreut werden einzelne Werke und Autoren genannt. Auch in dem fast 500 Seiten umfassenden Werk von Erich Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 290 ff. werden auf nur vier Seiten einige wichtige Praktikerhandbücher und ihre Verfasser erwähnt.
Zuletzt etwa Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonischer Zivilprozess im Laienspiegel, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 233-242, hier S. 237 ff.
So etwa Wolfgang Sellert, Das Inquisitions- und Akkusationsverfahren im Laienspiegel, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 243-262, hier S. 262.
Dazu Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 136 ff., 143. Holthöfer geht vereinfacht von drei Phasen aus: Die europäische gemeinrechtliche Literatur des Spätmittelalters (erste Phase) wird in der frühen Neuzeit zunächst modifiziert (Anreicherung durch partikularrechtliche Elemente und Praxisbezüge in der zweiten Phase), um schließlich seit dem Kodifikationszeitalter durch die nationalrechtliche Literatur abgelöst zu werden (dritte Phase). Vgl. weiter Horn, Die juristische Literatur (wie Anm. 41), S. 125 ff. zur gelehrten Literatur zu den partikularen Rechten.
Dazu insgesamt Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 138 ff. Holthöfer (S. 140, 142) fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: "Die große Rechtsliteratur jener Zeit [des Spätmittelalters] hatte ihren Ursprung in der Zelle des Gelehrten, sie wurde so gut wie ausschließlich von Hochschuljuristen geschrieben, wenn auch einige von ihnen zeitweilig zugleich als Richter oder Advokaten tätig waren. Ihr Leittyp, der Kommentar zu den gemeinrechtlichen Quellen, war als Lectura auch seiner Zweckbestimmung nach im Auditorium der Universität zu Hause. ... Demgegenüber hatte die Bedeutung nicht nur der Universitäten überhaupt für die allgemeine geistige und wissenschaftliche Entwicklung, sondern auch der Rechtsfakultäten und ihrer Mitglieder für die Rechtsbildung und Rechtsanwendung seit dem 16. Jh. ständig nachgelassen." Vgl. weiter Söllner, Zu den Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 174, 181, 184 ff.
Dazu Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 145 ff.; Söllner, Zu den Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 176 ff. Vgl. auch Horn, Die juristische Literatur (wie Anm. 41), S. 84 ff.
Zu nennen ist insbesondere der Sachsenspiegelkommentar von Christoph Zobel (wie Anm. 46), der zwischen 1560 und 1614 von Georg Menius in sieben Auflagen herausgegeben wurde. Vgl. weiter Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 151 ff. mit Hinweis darauf, dass die von gelehrten Juristen (häufig auf Latein) verfassten frühneuzeitlichen Partikularrechtskommentare "von vornherein kein Instrument akademischer Unterweisung gewesen", sondern allein auf die Rechtsanwendung zugeschnitten waren (S. 153).
Die Abgrenzung zum Lehrbuch ist manchmal schwierig, weil Traktate nicht nur zu einzelnen Rechtsproblemen, sondern auch zu ganzen Rechtsgebieten geschrieben werden. Teilweise handelt es sich um Übersetzungen lateinischer Traktate (die sich allerdings nicht selten mit partikularrechtlichen Rechtsmaterien beschäftigen); dazu Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 155 ff. Es finden sich aber auch Traktate zu deutschrechtlichen Materien ohne gelehrte Vorlagen: Hiram Kümper (Hg.), "Secundum iura Saxonica", Sechs prozessrechtliche Traktate der frühen Neuzeit, Nordhausen 2005; die dort abgedruckten Traktate finden sich als Anhang zum Sachsenspiegelkommentar von Christoph Zobel aus dem Jahr 1535 (dazu Anm. 46). Vgl. weiter Bernhard Walthers Privatrechtliche Traktate aus dem 16. Jahrhundert, vornehmlich agrarrechtlichen, lehen-und erbrechtlichen Inhalts, hg. und eingeleitet von Max Rintelen, Leipzig 1937. [Anm. HS: vgl. jetzt Transkription der Traktate]
Eines der auflagenstärksten Werke des 16. Jahrhunderts war: Andreas Perneder, Institutiones, Ingolstadt 1544. Perneder (um 1499-1543), dessen Werk posthum von dem Zasius-Schüler Wolfgang Hunger veröffentlicht wurde und bis 1614 mehr als zwanzig Auflagen erreichte, schuf die erste praxisorientierte Darstellung des geltenden Rechts nach dem Institutionensystem, wobei er den nicht mehr gebräuchlichen Stoff des römischen Rechts wegließ und den Text durch Einfügung deutschrechtlicher Institute vornehmlich des bayerischen Rechts anreicherte. Das Werk trägt den Untertitel: "Auszug vn anzaigung etlicher geschriben Kaiserlichen vnnd des heiligen Reichs rechte / wie die gegenwertiger Zeiten in vbung gehalten werden: in den Titeln vnderschidlich nach Ordnung der vier Bücher Kaiserlicher Institution gestelt / mit einfürung Lateinischer allegation / daneben auch etlicher Lande vnd Oberkaiten besonderer gewonhaiten vnnd Statuten". [Anm. Speer: Perneder, Institutiones VD16-Liste]
Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 163 rechnet diese zu den "trivialen Sekundärliteraturtypen für den forensischen Bereich" und typologisch nicht zu den Lehrbüchern, sondern zur "Gattung der Traktate". Vgl. auch Horn, Die juristische Literatur (wie Anm. 41), S. 118 f.
Dazu insgesamt Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, Charakteristik und Bibliografie der Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Ius Commune, Sonderhefte, Texte und Monographien, Bd. 3, Frankfurt (Main) 1974, S. 4 ff.; ders., Rechtsprechungssammlungen, Konsiliensammlungen, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2: Neuere Zeit (1500-1800), Das Zeitalter des gemeinen Rechts, 2. Teilband; Gesetzgebung und Rechtsprechung, München 1976, S. 1343-1398, hier S. 1343 ff.; Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 159 ff. Auch Werke, die sich im Wesentlichen auf die Textwiedergabe von Gutachten und Spruchmaterial beschränken, dieses aber durch Systematisierung des Materials, Einfügung von Überschriften sowie die Erstellung von Registern und Inhaltsverzeichnissen erschließen, dienten ausweislich der Vorreden als Hilfsmittel für die tägliche Arbeit in der Rechtspraxis. So auch Gehrke (1974), S. 39 ff.
Etwa Alexander Hugen, Rethorica und Formulare Teütsch, Tübingen 1528 (weitere zwölf deutschsprachige Auflagen bis 1572 und eine niederländische Übersetzung aus dem Jahr 1561; zudem erschienen zwischen 1534 und 1578 mindestens zehn nicht autorisierte Auflagen mit unterschiedlichen Titeln wie etwa Notariatbuch und Notariat unnd Teutsche Rhetoric bei Christian Egenolff und später bei Egenolffs Erben in Frankfurt am Main, die in weiten Teilen eine Kopie des Werkes von Hugen darstellen); Friedrich Riederer, Spiegel der waren Rhetoric, Freiburg 1493 (weitere vier Auflagen bis 1535). Zu Alexander Hugen und zur Gattung der Rhetorik- und Formularbücher: Andreas Deutsch, Die "Rethorica und Formulare teütsch" des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen — ein juristischer Bestseller des 16. Jahrhunderts, in: Christian Groh (Hg.), Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, Bd. 2, Heidelberg 2008, S. 31-75; zu Friedrich Riederer Joachim Knape/Stefanie Luppold, Kommentar zu Friedrich Riederers Spiegel der wahren Rhetorik, Wiesbaden 2010.
Dies gilt im Übrigen auch für die gelehrte Literatur; dazu Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 148, 151; Söllner, Zu den Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 174 f., 177.
Ranieri, Juristische Literatur (wie Anm. 52), S. 314. Anhand einer Stichprobe zu Dissertationen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte Ranieri herausarbeiten, dass mehr als 50 % der Dissertationsthemen typische Bereiche des partikularen Rechts (insbesondere Probleme aus dem Familien- und Erbrecht, dem Handelsrecht, dem Prozessrecht und dem öffentlichen Recht) betreffen (S. 315, 317).
So auch Deutsch, Die "Rethorica und Formulare teütsch" (wie Anm. 79), S. 75: Die Auswahl des Stoffes gebe "ein gutes Bild davon, was im frühen 16. Jahrhundert in einer süddeutschen Kanzlei benötigt wurde, wie die alltäglichen Rechtsfälle der Zeit aussahen, aber auch welche Rechtssprache in dieser Zeit gepflegt wurde".
Dazu insgesamt Friedrich-Christian Schroeder, Zum Verhältnis von Laienspiegel und Carolina, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 263-275, hier S. 265 ff. So auch Burret, Der Inquisitionsprozess (wie Anm. 49), S. 334: "Grundsätzlich zeichnet sich Tengler durch einen sehr freien und eigenständigen Umgang mit seinen Quellen aus; wörtliche Übernahmen größerer Passagen sind die Ausnahme. ... Namentlich die Bambergensis diente Tengler in weit geringerem Maße als Vorlage, als nach Stintzings Einschätzung zu vermuten wäre."
So auch Holthöfer, Literaturtypen (wie Anm. 42), S. 165 zur gelehrten Rechtsliteratur: "Immerhin ist die kompilatorische Reproduktion des schon Vorhandenen für das literarische Gesicht des Zeitalters überhaupt charakteristisch und darüber hinaus die Übung, statt Neues zu schreiben das Alte zu sammeln, in neuen Kombinationen zu reproduzieren oder durch Bearbeitungen den Tagesbedürfnissen anzupassen, gerade für den juristischen Arbeitsstil des jüngeren mos italicus kennzeichnend."
Vgl. etwa Norbert H. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte, Zur Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen "Belial", München 1983, S. 163 ff., 173 ff. (Überlieferung des Belials mit dem Schwabenspiegel und süddeutschen Stadt- und Landrechten). Auch die Übersetzung der Praxis rerum criminalium von Joos de Damhouder durch Michael Beuther (wie Anm. 74) ist in den Auflagen von 1571, 1575 und 1581 zusammen mit der Constitutio Criminalis Carolina überliefert, während dies bei den zuvor erschienenen lateinischen Auflagen von Damhouder (1554, 1562, 1570) nicht der Fall war.
So auch Grziwotz, Kaiserliche Notariatsordnung (wie Anm. 16), S. 46: "Die Reichsnotariatsordnung ist ... eine in Rechtsform gegossene 'Notariatskunst'." Nur am Rande sei erwähnt, dass auch zwischen den frühneuzeitlichen Prozessordnungen und den volkssprachigen Prozessrechtshandbüchem starke Parallelen im Hinblick auf Aufbau, Inhalt und Sprache bestehen. Beide ordnen das gerichtliche Verfahren nach dem Ablauf der einzelnen Prozessstationen bzw. -handlungen (ausgehend von der Gerichtsverfassung, einschließlich der Besetzung des Gerichts, über die Parteien und ihre Vertreter, die Prozesseinleitung durch Klageerhebung, die Ladung und die Säumnis der Parteien, die Klageerwiderung, das Beweisverfahren, die Verkündung des Urteils und die Appellation bis hin zur Vollstreckung des Urteils).
Zu diesem Ergebnis kommt auch Wilhelm Brauneder, Die staatsrechtliche Bedeutung österreichischer Juristenschriften, in: Roman Schnur (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S. 629-647, hier S. 639: Den Zeitgenossen sei "in den Traktaten ebenso wie in (sanktionierten oder unsanktionierten) Ordnungen und Mandaten aufgezeichnetes Recht entgegen [getreten], das für die Praxis aufbereitet worden war"; die darin enthaltenen Regelungen seien wie Rechtsnormen behandelt worden.
Burret, Der Inquisitionsprozess (wie Anm. 49), S. 336: Anstelle "der alten kanonischen Form des Inquisitionsverfahrens" (die im Klagspiegel enthalten ist) enthält der Laienspiegel "den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess ..., der schließlich auch Eingang in die Carolina und damit in die frühneuzeitliche Strafrechtswissenschaft findet".
Uwe Neddermeyer, Juristische Werke auf dem spätmittelalterlichen Buchmarkt, Marktanteil, Buchhandel, Preise und Auflagen, in: Vincenzo Colli (Hg.), Juristische Buchproduktion im Mittelalter, Frankfurt (Main) 2002, S. 633-673, hier S. 641 ff., 653 ff., 659 f.
Zu Brant vgl. Knape, Dichtung, Recht und Freiheit (wie Anm. 53), S. 138 f. Zu Basel als führendem Verlagsort vgl. Hans-Rudolf Hagemann, Rechtswissenschaft und Basler Buchdruck an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: ZRG (GA) 77 (1960), S. 241 -287, hier S. 242 ff., 262 ff.
Benedikt Carpzov, Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achtprozess, Frankfurt (Main) 1638, Nachdruck: Goldbach 1996 (weitere fünf Auflagen in den Jahren 1653, 1662, 1673, 1693, 1733). Der Untertitel der Auflage von 1638 lautet: "Auß Käys. Carls deß V. und deß Heiligen Römischen Reichs Peinlichen HalßgerichtsOrdnung / gemeinen und Sächsischen Rechten / Churf. Edictis und Constitutionen, auch in dieser Lande Gerichten / hergebrachten / zuförderst in Churf. Sächs. Schöppenstul zu Leipzig ublicher bewerter observantz, und Büchern der Rechtsgelährten / meistentheils aber ex parte tertiâ Practicae Criminalis D. Benedicti Carpzovij ordentlichen zusammen getragen". Das Titelblatt weist als Adressaten aus: "Allen Adelichen GerichtsHerrn / Ambtleuten / Schöffen / Richtern / Notariis, Gerichtsverwaltern / vnd andern / welchen das Richterliche Ampt auffgetragen / vnd ihrer hohen Pflicht nach wider die Ubelthäter zu inquiriren oblieget / gantz nötig vnd nutzlich".
Dazu Hans Winterberg, Die Schüler des Ulrich Zasius, Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landesforschung in Baden-Württemberg, Bd. 18, Stuttgart 1961, S. 34 ff.
Johann Thomas Freigius, Neüwe Practica Iuris (wie Anm. 75), Vorrede, S. 4. Abschließend empfiehlt Freigius in seiner Vorrede, den akademischen Unterricht mit der praktischen Übung zu verknüpfen, damit die Studenten in kürzerer Zeit erfolgreich ihre Ausbildung beenden könnten ("Auß diesen vnnd anderen begründten vnnd beweglichen vrsachen were mein meinung das man in praeceptis scholasticis etwas abschnitte / vnnd die tägliche praxin desto mehr mit eingemengete / dann durch diesen weg möchte ein scholar mit geringer arbeit vnnd kurtzer zeit zuͦ verhoffenlicher endtschafft seines vorhabenden intents gelangen / vnnd so viel von den vrsachen dieses meins fürgelegten Wercks."). Zu Freigius und seinen Vorlesungen vgl. auch Schäfer, Juristische Germanistik (wie Anm. 8), S. 43.
Dazu Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 136 ff.; Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Köln 1968, S. 249 ff., 283 f.
Zum Inhalt des Kompendiums Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris (wie Anm. 112), S. 247 ff.; Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 135. Der Text des Kompendiums ist abgedruckt bei Eckhardt, S. 180-242.
Anhand des VD 17 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts) und der Auswertung der einschlägigen Literatur konnten folgende Ausgaben ermittelt werden (im Folgenden wird jeweils nur der Kurztitel angegeben): Balthasar Klammer, Compendium Iuris (Handschrift um 1565, Druckausgaben posthum) 1605, 1606, 1608, 1616, 1617; Abraham Saur, Breviarium Iuris, 1591, 1593; Conrad G. Saur, Breviarium Iuris, 1595, 1596, 1599, 1603, 1607, 1615, 1622; Joachim Scheplitz, Promptuarium Iuris Civilis, 1599, 1608, 1620; Christian Praetorius, Promptuarium Iuris, 1606, 1608, 1609, 1610, 1610, 1611, 1612, 1616, 1616, 1616, 1620; Tobias Heidenreich, Compendium Iuris, 1625, 1630, 1663; H. L. Not. Publ., Compendium Iuris, 1650, 1657, 1658, 1668; Johann Christoph Hartmann Francofortanus, Promptuarium Iuris, 1621, 1622, 1634, 1650, 1653; Esaias Chromhard, Compendium Iuris, 1708, 1720, 1732. Vgl. dazu auch Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 150 ff.; Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris (wie Anm. 112), S. 263. [Anm. Speer: VD16-Liste der Ausgaben]
Dazu Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 158: "Klammers Compendium hat vor allem auf zwei Gebieten gewirkt: an den Universitäten als Lehrbuch für die Studenten und im Fürstentum Lüneburg als Handbuch für die Rechtspflege."
So die zweite Vorrede Heidenreichs von 1630; nach dem Neudruck der Ausgabe von 1663 aus dem Jahr 1732 wird das Werk "den herren studiosis zu dienst gegeben"; dazu Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 153. Vgl. auch schon die Ausgabe von Scheplitz von 1599, die in usum studiosorum herausgegeben wird (dazu Eckhardt, S. 151).
Auch der studierte Jurist Balthasar Klammer weist darauf in seiner Vorrede an den Sohn hin: "... da ich es in meiner jugent hette gehabt, so wurde ich es lieb undt werdt gehalten undt gemeint haben, daß ich allein aus demselbigen wolte ein versthendiger worden sein; dan ich habe erfaren, daß viel mit grosser muhe undt lang studirent undt viel geldt verzeret haben, undt sein gleichwoll zu erkantnus disses allen, was in diesem auszug undt buch kurtzlich begriffen ist, einstheils gar nicht undt einstheils schwerlich kommen, welches du aber mit weiniger muhe, so du es vleissig liesest, erlangen kanst." Text abgedruckt bei Eckhardt, Balthasar Klammer (wie Anm. 30), S. 179.
Statt vieler Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 47), S. 124: "Das Grunddatum der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte ist die praktische Rezeption, d.h. die überwiegende Verdrängung des älteren deutschen Privatrechts durch die Herrschaft des justinianischen Rechts in privatrechtlicher Rechtslehre, Gesetzgebung und Rechtsanwendung."
Etwa Thomas Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: Rg 20 (2012), S. 18-71, hier S. 52-55 (für Duve, S. 52 ist "wegen der sprachlichen Gebundenheit des Rechts und wegen der konzeptionellen Priorisierung lokaler Praktiken der Ansatz der in den letzten Jahrzehnten als Cultural Translation ausgeformten Translationswissenschaft vielversprechend"); Michael Stolleis, Transfer normativer Ordnungen — Baumaterial für junge Nationalstaaten, Forschungsbericht über ein Südosteuropa-Projekt, in: Rg 20 (2012), S. 72-84, hier S. 72 ff. Nicht durchsetzen konnte sich bislang der Ansatz von Marie Theres Fögen/Günter Teubner, Rechtstransfer, in: Rg 7 (2005), S. 38-45.
Die Debatte wurde von Michel Espagne/Michael Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S., in: Francia, Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 13 (1985), S. 502-510, hier S. 504 ff. angestoßen. Vgl. auch dies. (Hg.), Transferts, Les relations interculturelles dans l'espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988. Einen guten Überblick über die weitere Entwicklung der Kulturtransfer-Forschung gibt Stefan Schlelein, Chronisten, Räte, Professoren, Zum Einfluß des italienischen Humanismus in Kastilien am Vorabend der spanischen Hegemonie (ca. 1450 bis 1527), Berlin 2010, S. 44-56. Vgl. weiter Matthias Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch, Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Andrea Langer/Georg Michels (Hg.), Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert: Prag - Krakau - Danzig - Wien, Stuttgart 2001, S. 15-51.
So etwa Wolfgang Schmale, Einleitung: Das Konzept "Kulturtransfer" und das 16. Jahrhundert, Einige theoretische Grandlagen, in: ders. (Hg.), Kulturtransfer, Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck 2003, S. 41-61, hier S. 43. Dazu auch Schlelein, Chronisten, Räte, Professoren (wie Anm. 126), S. 55.
Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen (wie Anm. 126), S. 18. Vgl. auch ders., Kulturtransfer und Historische Komparatistik — Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 2000, Heft 1: Kulturtransfer und Vergleich, S. 7-41, hier S. 18.
Vgl. etwa Andrea Langer/Georg Michels, Einleitung, in: dies. (Hg.), Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert, Prag - Krakau - Danzig - Wien, Stuttgart 2001, S. 7-13, hier S. 8.
So auch Schlelein, Chronisten, Räte, Professoren (wie Anm. 126), S. 48: "Dem Aspekt der Adaptation des transferierten Kulturgutes— die Forschung spricht synonym auch von 'Umformung', 'produktiver Umdeutung', 'semantischer Umwertung' u.ä. — kommt im Rahmen des Kulturtransferkonzeptes besondere Bedeutung zu: Elemente einer fremden Kultur werden bei ihrer Übernahme modifiziert, uminterpretiert und den Anforderungen der Empfängerkultur angepaßt." Vgl. weiter Helga Mitterbauer, Kulturtransfer — ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, in: newsletter MODERNE 2 (1999), Heft 1, S. 23-25, hier S. 23; Stolleis, Rg 20 (2012), S. 75 f.
Schlelein, Chronisten, Räte, Professoren (wie Anm. 126), S. 49 (die Vermittlerpersönlichkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie "in einem Grenzbereich derjenigen Gesellschaften leben, die am Austausch beteiligt" sind, wobei die Rekonstruktion der "Netzwerke ..., über die die Mittlergestalten kommunizieren", besonders vielversprechend sei, weil sich so "die Wege kulturellen Transfers personell nachzeichnen" ließen).
Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Gobler, Gerichtlicher Proceß (wie Anm. 74), Erster Theyl, Bl. 3v ff. Der Abschnitt beginnt mit der Überschrift "Erklerung deren sondern vnnd eygenen Wörter / so inn dem Gerichtlichenn Proceß / vnd sunst im Rechten gebraucht werden / wie die im Latein vnd Teutschen zuuerstehen seien."
Der Abschnitt Ziff. IV.2. deckt sich in weiten Teilen mit folgenden Veröffentlichungen der Verfasserin: Eva Schumann, Von "Teuflischen Anwälten" und "Taschenrichtern" — Das Bild des Juristen im Zeitalter der Professionalisierung, in: Andreas Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel, Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 431-473, hier S. 456-463; dies., Seltzsame Gerichtshändel, Fiktive Prozesse als Bestandteil der juristischen Praktikerliteratur, in: LiLi 163 (2011), S. 114-148, hier S. 125-148; dies., Wissensvermittlung leicht gemacht, Die Vermittlung gelehrten Rechts an ungelehrte Rechtspraktiker am Beispiel der volkssprachigen Teufelsprozesse, in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hg.), Wissen maßgeschneidert, Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, HZ Beiheft 57, München 2012, S. 182-213.
Dazu insgesamt und zur Handlung des Belial Schumann, LiLi 163 (2011), S. 125 ff.; dies., Wissensvermittlung leicht gemacht (wie Anm. 140), S. 185 ff., 195 ff.; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 41 ff.; Hans-Rudolf Hagemann, Der Processus Belial, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hg.), Festgabe zum siebzigsten Geburtstag von Max Gerwig, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 55, Basel 1960, S. 55-83, hier S. 58-67.
Norbert H. Ott, Handschriftenillustration und Inkunabelholzschnitt, Zwei Hypothesen zu den Bildvorlagen illustrierter 'Belial'-Drucke, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105 (1983), S. 355-379, hier S. 355 mit Hinweis darauf, dass die deutschen Belial-Versionen zu den breitestüberlieferten Werken des Spätmittelalters gehören. Eine Zusammenstellung sämtlicher frühen deutschen Bearbeitungen des Belialprozesses (Handschriften und frühe Drucke) findet sich bei Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 289-343. Vgl. weiter Kurt Ohly, Eggestein, Fyner, Knoblochtzer: Zum Problem des deutschsprachigen Belial mit Illustrationen, in: Gutenberg-Jahrbuch 35 (1960), S. 78-92 und Gutenberg-Jahrbuch 37 (1962), S. 122-135. [Anm. Speer: Liste der Belial-Einträge im Gesamtkatalog der Wiegendrucke und in VD16]
Der einzige niederdeutsche Belial-Druck mit dem Titel Dyt bock holt inne van der clage un~ ansprake de Belyal erschien 1492 bei Moritz Brandis in Magdeburg.
Dazu Barbara Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa, Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 77, München 1982, S. 54. In Augsburg wurde der Belial von verschiedenen Druckern mehrfach aufgelegt, so wurde beispielsweise Der Teutsch Belial bei Hans Schönsperger in Augsburg achtmal aufgelegt (1482, 1484, 1487, 1488, 1490, 1493, 1497 und 1500); weitere Belial-Ausgaben erschienen bei den Augsburger Druckern Johann Bämler (1473, ca. 1478), Anton Sorg (1479, 1481) und Günther Zainer (1472). Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 340 ff. Dazu und zu weiteren frühen Drucken aus anderen europäischen Ländern Francesco Mastroberti, The Liber Belial: an European work between law and theology. Introductory notes for an ongoing research project, in: Historia et ius, 1/2012, paper 12, S. 1-6, hier S. 4 (www.historiaetius.eu).
Neben mindestens 50 lateinischen Handschriften (meist Folio, Umfang ca. 70-120 Bl.) sind neun lateinische Inkunabeln bekannt; dazu Norbert H. Ott, Art. "Jacobus de Theramo", in: Verfasserlexikon IV, 2. AufL, Berlin 1983, Sp. 441-447, hier Sp. 442; Gero Dolezalek, Verzeichnis der Handschriften zum römischen Recht bis 1600, 4 Bde., Frankfurt (Main) 1972 (nicht paginiert, unter dem Eintrag "Processus Belial"). Vgl. weiter Stefano Vinci, La diffusione del processo romano-canonico in Europa, Il Liber Belial tra fonti giuridiche canonistiche e romanistiche, in: Max Planck Institute for European Legal History, research paper series No. 2012-03, S. 1-12 (http://ssm.com/abstract= 2139529).
Dazu Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 210 ff., 240 ff., 344-498 (Ikonographischer Katalog). Vgl. weiter Franziska Prinz, Der Bildgebrauch in gedruckten Rechtsbüchem des 15. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Gesellschaft und Recht, Bd. 5, Hamburg 2006, S. 137-147; Heribert Hummel, Der Heilbronner "Belial", Zu einer illustrierten Handschrift des 15. Jahrhunderts im Stadtarchiv, in: Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 29 (1979/81), S. 27-44, hier S. 37-40.
Zu den Sammelhandschriften, die den Belial mit weiteren (Rechts-)Texten überliefern, vgl. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 165 ff., 173 ff. Auch die lateinischen Handschriften sind häufig mit anderen juristischen, insbesondere kanonistischen Texten überliefert; dazu Carmen Cardelle de Hartmann, Die "Processus Satanae" und die Tradition der Satansprozesse, in: Mittellateinisches Jahrbuch 40 (2005), S. 417-430, hier S. 425 f.
So auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 35 f. und weiter S. 195 ff. Zustimmend Carmen Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge 1200-1400, Literaturhistorische Studie und Repertorium, Mittellateinische Studien und Texte, Bd. 37, Leiden 2007, S. 239 ff.
Jakob Ayrer der Jüngere (sein Vater, Jakob Ayrer der Ältere, 1544-1605, war in Nürnberg Dichter, Notar und Prokurator) war Doktor beider Rechte und Advokat in Nürnberg. Dazu Willi Flemming, Art. "Ayrer, Jakob" und Hans Müller-Lobeda, Art. "Ayrer, Jakob d. J.", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1, Berlin 1953, S. 472-473.
Jacob Ayrer, Historischer Processus Iuris, In welchem sich Lucifer vber Jesum / darvmb / daß er jhm die Hellen zerstöret / eingenommen / die Gefangene darauß erlöst / vnd hingegen jhn Lucifern gefangen und gebunden habe / auff das allerhefftigste beklaget. Darinnen ein gantzer ordentlicher Proceß / von Anfang der Citation biß auff das Endvrtheil inclusiue, in erster und anderer lnstantz / darzu die Form / wie in Compromissen gehandelt wirdt / einverleibt, Frankfurt (Main) 1625 (diese Auflage liegt mir vor; ähnlich auch das Titelblatt der Erstausgabe von 1597) [Anm. Speer: VD16-Liste der Ausgaben].
Aufgrund der Fülle der in der Heilsgeschichte enthaltenen Rechtsfragen eignete sich diese besonders gut für eine Verarbeitung im Rahmen eines juristischen Lehrbuches, wobei die juristische Verarbeitung des biblischen Stoffes (wohl kaum zufällig) in eine Zeit fällt, in der das Studium des römischen Rechts in Norditalien vor allem von Klerikern betrieben wurde.
Zum letztgenannten Aspekt vgl. Cardelle de Hartmann, Die 'Processus Satanae' (wie Anm. 148), S. 426 f. Vgl. weiter Schumann, Von "Teuflischen Anwälten" (wie Anm. 140), S. 456 ff.
Dazu auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 102 ff.; Hagemann, Der Processus Belial (wie Anm. 141), S. 69 ff.; Jörg Müller, Art. "Belial", in: 2HRG I (2008), Sp. 519-520, hier Sp. 519.
Belial zu teutsch, Straßburg 1508 (Johannes Prüss), Bl. IIv: "Auch sol niemãt diß nachgeschriben buͦch / also einfeltigklich versteen / das er glaub das das nach geschribẽ recht vnd krieg / also sichtigklich geschehen sy. Das buͦch ist nun durch des willẽ gemacht / das man darjun lerne wie mã ein geistlichs recht sol anfahen / füren vnd volenden / vñ das man künn erkennẽ vnrecht vñ geferig inwürff / vnd sich mit recht weren." Ähnlich auch Ulrich Tengler, Laÿen Spiegel, Augsburg 1509, Bl. 114v: "Doch soll es nyemmand darfür versteen oder glauben / das diser krieg zwischñ den Teüfeln / hellischer boßhait / vnd der hochgelopten junckfrawen Marie / von des menschlichñ geschlechts wegen vor dem allmechtigen got allso beschehen Sonnder das sich ain schlechter ainfeltiger lay destbaß erkunden So yemannds in seinem abwesen vmb bekerung persönlicher diennstperkait / oder in annder weg vor ainem richter beklagt vnd zuͦ kurtzem außtrag für gehayschen wurden / wie man den selbñ entschuldigen vnd veranntwurten mög."
Im Belial zu teutsch, Straßburg 1508, umfasst das Verfahren in erster Instanz ca. 60 Bl. und die Berufungsinstanz und das Schiedsverfahren insgesamt ca. 30 Bl. (Quartformat).
Hie hebt sich an ein guͦt nüczlich buͦch, Augsburg 1479 (Anton Sorg), Vorrede: "Doch durch des willen das man deßter mỹder müg gesprechen / dz dz buͦch ein ander gedicht sey als man von teütschen buͦchern offt redt. darumb will ich eüch die selbẽ außzeygung mit gewonlicher juristen geschrifft darein schreiben / vnd mit rot nach der lenge durchstreichen / darüb das es den einfältigen nit ein jrrung sey / die es nit künden lesen vnd sein nit versteen / vnd doch der meynũg ein vnderscheyd / so will jch also die selben außzeygũg mit rot durchfaren / das ein yegklicher der es nit lesẽ kã deßter leichter übersehẽ kã." Vgl. auch Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 36 f.
Belial zu teutsch, Straßburg 1508, Bl. IIr(mit Bezug auf ältere Fassungen): "Doch durch des willẽ / das mã dester minder müg sprechen / das diß buͦch ein gedicht / vnd nit vß geschribnen rechten sy / als man võ tütschen büchern offt redet. Darũb will ich die selben vßtzeigung die vor alwegen zwischen dẽ tütschen gestanden / den lesendẽ / an dẽ synn vñ vermerckung geirret / mit gerecht wysender juristen geschrifft / vßwẽdig dẽ tütschẽ / doch mit disem Zeichen ☞ setzen. Uff das / das es den einfeltigen nit ein irrũg sy die es nit kündẽ lesen oder versteen."
Auch dies wird im Belial zu teutsch, Straßburg 1508, Bl. Ir f. (Vorrede) ausdrücklich hervorgehoben: "Nun der meister der dises buͦch gemacht hat vßgezeichnet mit gewonlicher iuristen geschrifft / wo / vnd an welchen enden er die sinn vnd vrteil diß buͦchs / vß den haubtbüchern der rechten hat genommen vnd vßgezogẽ. Nit darumb das die einfeltigen die meinung / vnd den synne möchten versteen. Nun darumb das die gelerten möchten erkennẽ das er dises buͦch vß den rechtbüchern habe getzogen vnnd nit selbs erdichtet. Vñ wer das nit wölt gelauben der möcht es nach der antzeigung in den selbẽ büchern wol vinden / ob er dieselben rechtbücher hette / oder künde suͦchen / oder sich darnach richten / als da sint dise bücher der gesatzt genant Codices / das man also zeichnet C. digestum novum vnd verus das also zeichnet ff. Instituta.decretum.decretales, vñ andere bücherr. Weñ ich aber die selbẽ vßrichtung oder antzeigung wölt zetütsch beschriben / also das es die einfeltigen möchtẽ gelesen / so würd das buͦch garvast gelengert. ... wañ die sich nach der iuristẽ geschrifft künden richten den ist es nit not / die es aber nit künden nützet es nit anders dann das sie die wort möchtẽ lesen / vñ künden sich nichtz desterbaß verrichten." Vgl. dazu insgesamt auch Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation (wie Anm. 144), S. 57 f.
Im Druck des Straßburger Belial von 1508 (http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/ bsb00009041/images/) haben Nutzer — offensichtlich um das Nachschlagen zu erleichtern — zusätzlich die Merksätze im Text am Rand mit Zeichen markiert (vgl. etwa Bl. XIIIv, XIXv, XXIIIv, XXIXr, XXIXv, XXXr, XXXIIr; besonders hübsch: Bl. XIIIr).
Belial zu teutsch, Straßburg 1508, Bl. LIXr f.: "Form der bottenbrieff einer appellacion. Dem almechtige herren! herren aller herren / vn künig aller künig. em büt Salomõ künig zu Hierusalẽ / ein geschaffter richter võ üwerm götlichen stuͦl. das er gern küssen wölt die fuß üwer gotheit. Almechtiger herr ich thuͦ üwer gotheit zewissẽ / das mir mit üwerm brieff empfohlẽ ist / wie ich verhörn / vñ richtẽ sol / ein sach zwischẽ Belial der hellischen gemein ein verweser als kleger / vñ Jesu võ nazareth antwurtter also lutende. Anfang vñ end. Hie solt der empfelch brieff oder cõmission gãtz geschribẽ werden. Nun habẽ sich beideteil des krieges eelich vnderwũden / vñ hab verhört ir wysung ir meldung / ir jnwürff / vñ ir yehũg das sie gegẽ einander gethõ haben vñ dariñ gehãdelt nach ordnũg des rechtẽ, vñ hab nun geurteilt entlich wider den selbẽ Belial. dauon hat er gedingt / vñ sich berüfft / vñ mich darnach flissigklich gebetẽ vm die bottẽbrieff. darũb so sag ich in võ meinẽ gericht ledig vñ loß mit dẽ gegẽwürtigẽ brieff / vñ send in zuͦ den füssen üwer gotheit. Vnd des zuͦ einer bessern sicherheit vñ kũtschafft / hab ich versigelt dẽ brieff mit mein eigẽ insigel."
Besonders gut belegen die Abbildungen in dem Magdeburger Belial aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, wie die Bedeutung der Schriftlichkeit im gemeinrechtlichen Verfahren in den Illustrationen umgesetzt wird. Dazu Schumann, Wissensvermittlung leicht gemacht (wie Anm. 140), S. 208; Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte (wie Anm. 87), S. 110 ff., 222 ff., 252 ff. Vgl. weiter ders., Ikonographische Signale der Schriftlichkeit, Zu den Illustrationen des Urkundenbeweises in den 'Belial'-Handschriften, in: Johannes Janota (Hg.), FS für Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 995-1010, mit zahlreichen Abbildungen; Dittmar Heubach (Hg.), Der Belial, Kolorierte Federzeichnungen aus einer Handschrift des XV. Jahrhunderts, Studien zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 251, Straßburg 1927 [Digitalisat nur eingeschränkt zugänglich. H.S.].
So auch Erler, Art. "Populäre Rechtsliteratur", 1HRG III (1984), Sp. 1826: "Sie ist eine sprachschöpferische Leistung, auf der, uns kaum bewußt, noch die deutschen Kodifikationen des 18. und 19. Jh. weiterbauen."
Vorlesungen zum einheimischen Recht wurden nur vereinzelt gehalten; dazu Schäfer, Juristische Germanistik (wie Anm. 8), S. 41 ff., 67 ff., der als Ergebnis festhält (S. 71), dass diese "im Vergleich zum römischen Recht im späten 16. und im 17. Jahrhundert lediglich ein Rinnsal" darstellten.
Dazu in Kürze Eva Schumann, Auf der Suche nach einem Deutschen Privatrecht, Göttinger Beiträge zur Ausbildung einer neuen Wissenschaft, in: Werner Heun/Frank Schorkopf (Hg.), Wendepunkte der Rechtswissenschaft, Göttingen 2013 (im Druck).
Johann Stephan Pütter, Anleitung zur Juristischen Praxi wie in Teutschland sowohl gerichtliche als auch außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley- Reichs- und Staats-Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt und in Archiven beygeleget werden, Göttingen 1753, Vorrede, S. 7; es wird nach der sechsten Auflage von 1802 zitiert.
Pütter, Anleitung (wie Anm. 181), Vorrede, S. 1, 3. Auf S. 5 der Vorrede weist Pütter darauf hin, dass die Vorlesungen zur juristischen Praxis von Johann Jakob Schmauß (1690-1757) in Göttingen eingeführt wurden: "Unsere, wie ums ganze Reich der Wissenschaften, so insonderheit ums brauchbare so verdiente Georg-Augustus-Universität hat schon längst den Vorzug gehabt, daß der mit aller zu solchem Zwecke nöthigen Erfahrung und Einsicht begabte Herr Hofrath Schmauß solche Vorlesungen über die Canzley-Praxin angestellt hat." Vgl. dazu auch Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Ius Commune Sonderhefte, Frankfurt (Main) 1979, S. 49 ff.