Bibliographische Angabe: Libuše Spáčilová, Die Olmützer Gerichtsordnung von Heinrich Polan aus dem Jahre 1550 als Textsorte. Ein Beitrag zur Untersuchung frühneuhochdeutscher Rechtstexte. In: Schlesien als Schnittpunkt verschiedener Kulturen (= Germanoslavica Jahrgang 18 (2007) Heft 1-2, S. 49-61.
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Heino Speer, 20. Oktober 2017, Klagenfurt am Wörthersee
Einer der bedeutendsten Stadtschreiber in Olmütz war Magister Heinrich Polan, der aus Danzig stammte. In dieser Stadt erwarb er seine ersten Kenntnisse in der Lateinschule, im Jahre 1522 studierte er wahrscheinlich an der Universität im polnischen Krakau, wo er in Jura und in den klassischen Sprachen ausgebildet wurde. Um das Jahre 1540 weilte er in der schlesischen Stadt Neiße und 1545 siedelte er nach Olmütz über. Er war in der Olmützer Stadtkanzlei tätig und bezeichnete sich selbst als Gerichtsschreiber oder Schöffenschreiber (notarius scabinorum), war aber auch notarius publicus, d. h. öffentlicher Schreiber. In der Olmützer Stadtkanzlei erleichterte er die Orientierung in den Gerichtsprotokollen dadurch, dass er am Anfang jedes Gerichtsbuchs ein Register nach den Taufnamen der am Prozess beteiligten Personen erstellte. Im Jahre 1556 zog Polan nach Troppau um, sieben Jahre später wurde er von Kaiser Maximilian II. nobilitiert und bekam das Prädikat von Polansdorf.1 In Troppau legte er im Jahre 1557 das Stadtbuch der Sententionen an, auch Ratesspiegel genannt,2 und 1568 das Grüne Gerichtsbuch.3 Im Bereich des Stadtrechts beschäftigte er sich auch mit theoretischen Fragen.
Die Olmützer Stadtschreiber und besonders die Gerichtsschreiber mussten das Stadtrecht gut kennen, denn aus den Olmützer Quellen geht hervor, dass die Schreiber in Stadtratssitzungen entsprechende Passagen aus dem Rechtsbuch zitierten, um den Ratsherren rechtliche Zusammenhänge zu verdeutlichen. In der mährischen Stadt Olmütz, die im 13. Jahrhundert von deutschen Kolonisten gegründet wurde, spielte das Magdeburger Recht in der Verwaltungsgeschichte der Stadt von Anfang an eine bedeutende Rolle. Im März 1352 erließ Markgraf Johann ein Privileg, nach dem einige [Seite: 50] nordmährische Städte, Städtchen und Dörfer, die sich an das Magdeburger Recht hielten, Belehrung aus Olmütz beziehen sollten.4 Die Stadt wurde damit zum Oberhof für alle Orte in Nordmähren, die nach dem Magdeburger Recht verwaltet wurden. Die Verhandlungssprache in Rechtsangelegenheiten war meistens Deutsch.
Im Humanismus kam es zur Rezeption des römischen Rechts, d. h. zur Aufnahme dieses Rechts, zur Anpassung an dieses Recht und zur Rechtssprechung nach diesem Recht, das an den seit 1348 zahlreich gegründeten Universitäten gelehrt wurde.5 Bereits im Hochmittelalter hatte man sich mit dem römischen Recht auseinandergesetzt, doch in dieser ersten Phase blieb die Rezeption überwiegend theoretisch. Erst im 15. Jh. wurden Normen des römischen Rechts zur Grundlage der Jurisdiktion und von den zentralen weltlichen Gerichten immer mehr übernommen.6 In den böhmischen Ländern spielte das römische Recht vor allem auf dem Gebiet des Stadtrechts eine wichtige Rolle. Auch an der Prager Universität wurde das römische Recht unterrichtet, zunächst an der im Jahre 1372 entstandenen juristischen Fakultät, nach deren Schließung im Jahre 1419 an der philosophischen Fakultät.7
Mit der Rezeption des römischen Rechts in Mitteleuropa ging die Entstehung juristischer Literatur einher. Neben mittelalterlichen alphabetischen Rechtsenzyklopädien erschienen am Ende des Mittelalters erste einfache Darstellungen des Prozessrechts.8 Zu den bedeutendsten Strafgerichtsordnungen gehört zweifelsohne die "Bambergische Halsgerichtsordnung" von 1507, die die Grundlage für die seit 1532 für alle Reichsglieder geltende "Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V (Carolina)" bildete. Auch in den böhmischen Ländern wurden seit dem 15. Jh. verschiedene juristische Handbücher verfasst.
Der Olmützer Gerichtsschreiber Heinrich Polan wusste, wie wichtig Fachliteratur für die Durchsetzung des Stadtrechts ist. Im Jahre 1550 schrieb er seine Gerichtsordnung nieder, deren Titelblatt geschmückt wird von dem langen Titel: Zusammengetragene artickel in form eines rechtlichen proces, wie dieselben von alters her bei dieser koniglichen Stadt Olomuntz bei gerichte und auch in und vor gehegter bank in ubung gehalten, sambt andern nodturftigen underweisungen und zutreglichen vellen.9 Von dem Olmützer Manuskript wurden zwei tschechische Übersetzungen angefertigt, die eine für [Seite: 51] die Stadt Neutitschein im Jahre 1562 und die andere drei Jahre später für Wall-Meseritsch, die heute im Mährischen Landesarchiv Brünn aufbewahrt wird.10
Die "Gerichtsordnung" ist zweifelsohne Polans wichtigstes Werk. Den damaligen Stadtrichtern, die über keine theoretischen juristischen Kenntnisse verfügten und mit der Zeit nur praktische Erfahrungen erwarben, ermöglichte dieses Handbuch, die Formalitäten der aktuellen Prozessführung kennen zu lernen und sinngemäß anzuwenden. Polans Schrift, die das Gerichtsverfahren behandelt, gehört wie die meisten Rechtstexte zu den sozial bindenden Texten. Die Verfasser solcher Schriftstücke wollten spezifische Handlungen verbindlich festlegen. Das Verfassen wird von der kommunikativen Intention des Autors, d. h. von der auf eine bekannte Rezipientengruppe gerichteten Handlungsabsicht des Textproduzenten, beeinflusst. Die Rezipientengruppe und seine Absicht benennt Polan in der Vorrede der Gerichtsordnung: Einem Jedenn hernn Foyte vnnd Scheppen, Notarienn, Aduocaten, Procuratoribus vnd Gerichtsperszonen dieser koeniglichen Stadt zu furderunge des Gemeinenn nuczes vnnd der Gerechtigkhait. Ein paar Zeilen weiter betont er das Ziel: so bleibt aber dannoch vnwidersprechlich war, das dieses buch zu einem fuerderlichen vnnd lautern verstandt der Recht den vngeuͤbtenn besonnder hochdienstlich ist.11
Heinrich Polan musste das alte Magdeburger Recht heranziehen und durch das römische Recht erweitern. Bereits in der Vorrede zählt er die Quellen auf: ym brauchgehaltener vbunge vnnd gewonheit dieser ko[niglich]en Stadt Olomuncz laudt vnnd Inhaldt der landleuffigenn beschriebenen Sachsischen Recht alhie gehaldtenn wordenn und ein paar Zeilen später führt er vndterweisungenn aus beschriebenen Goetlichenn Rechtenn12 an. Polan hatte alle Angaben so präzise wie möglich zu präsentieren und die Handlungsregeln korrekt und eindeutig zu formulieren. Sein Werk war an eine bestimmte Berufsgruppe gerichtet, die jedoch nicht immer die entsprechende Ausbildung hatte. Die Gerichtsordnung skizziert den organisatorischen Ablauf des römisch-rechtlichen Gerichtsverfahrens und sollte als wichtiges Hilfsmittel allen Beamten dienen, die bei Prozessen vor Gericht auftraten. Polans professionelle Kompetenz belegen nicht nur seine praktischen Erfahrungen als Olmützer Gerichtsschreiber, sondern auch seine vielen ausführlichen lateinischen Verweise und Zitate, die als Glossen am Rande der Folios in der Gerichtsordnung eingetragen wurden. Sie zeigen, dass Polan alle ihm als Grundlage dienenden Quellen gut kannte.
Die folgende sprachliche Analyse der Gerichtsordnung untersucht, wie dieses Rechtsdokument strukturiert ist, ob und wie der Verfasser dem Benutzer den Umgang mit [Seite: 52] dem Dokument erleichterte, und ob diese Rechtsquelle Informationen über die unmittelbare Kommunikationssituation vor Gericht einschließlich der Titulaturlehre bietet.
Der Rezipient wird direkt angesprochen, und zwar bereits in der Überschrift "Vorrede zum Leser" und dann am Ende der Vorrede. "Ein Jeder freundtlicher leser," so heißt es hier, "soll eine ordenliche, klare vnderrichtunge" erhalten; auch der Inhalt wird angedeutet: die Summa Hauptstucke vnnd Artickel dieses sehre nuczliche buch der Artikl vnnd Practica der Gerichtsleuffte velle auffin Rande erkleret mit anhengunge bey eczlichen artyckln".13 Der Kreis der in der Überschrift genannten Leser wird im Vorwort näher eingegrenzt; Polan bestimmte — wie bereits erwähnt — die Gerichtsordnung für Vögte, Schöffen, Schreiber, Advokaten, Prokuratoren sowie für alle Gerichtspersonen der Stadt Olmütz und nannte auch den Zweck seines Werkes: zu furderung des Gemeinenn nuczes vnnd der Gerechtigkhait. Die Verbindung des weltlichen Rechts mit dem kanonischen drückt die am Ende der Vorrede angeführte kirchliche Formel "zu lobe vnnserem Hern Jhesu Christo. Amen"14 aus und der Tradition entsprechend begann Polan die eigentliche Gerichtsordnung mit der Anrufung Gottes "Salua me Jhesu Criste".15
Um dem Benutzer den Umgang mit der Gerichtsordnung zu erleichtern, erstellte er ein ausführliches und übersichtlich gegliedertes Inhaltsverzeichnis, das der "Vorrede zum Leser" folgt. Die Überschrift zu diesem Inhaltsverzeichnis erklärt das System des Registers: In nochfolgendem Register Sein kurtzlich zufinden alle Artickel mit yrenn Vellenn ader vnderschieden, So in diesem Buͦche begrieffenn, Vnnd ist vonn wegenn Fuerderliches suchenn verzeichnet Erstlich Jeder artickel, An welchem bladt vnnd seine velle ader vnnderschiedt auch noch der Zal vnnd auf welcher saidtenn des bladts A bedeut die erste saidte vnnd B die anndere saidte des bladts.16
Polans Gerichtsordnung ist klar gegliedert. Sie besteht aus 33 Artikeln, die sich mit der Klage, der Gerichtsverhandlung und dem Urteil befassen. Die ersten 13 Artikel bilden den ersten Teil der Schrift, die folgenden 20 Artikel ihren zweiten Teil. Jeder Artikel ist mit einer Überschrift versehen und in Distinktionen unterteilt; die Anzahl der Distinktionen in den einzelnen Artikeln ist unterschiedlich, z. B. besteht der 26. Artikel "Von der Beweyszunge der geczeugen"17 aus 32 Distinktionen, während der 4. Artikel [Seite: 53]
"Wie man die Radtspersohnen zw Gerichte beschicken vnd verhoeren sal"18 nur eine Distinktion enthält. In den 14 Artikeln des zweiten Teils trägt die erste Distinktion keine Überschrift, sonst sind die Distinktionen — ähnlich wie die Artikel — mit Überschriften versehen. In vier Artikeln gibt Polan, bevor er die einzelnen Distinktionen einträgt, eine knappe Einführung in die Problematik:
Art[ikel] 2 Citacio, Fuerladung.
Was Citation ist
Citacion ader vorladunge ist ein selbstendigkh thuenn vnd der anfangk des gerichts vnd Gerichtszwanges vnd ein fundament des process des gerichts.
Erst nach dieser kurzen Erläuterung folgt die erste Distinktion Was ane Citacion gehandeldt wirt, ist vnkrefftigkh.19 Die Verständlichkeit des Textes war also offensichtlich ein sehr wichtiges Kriterium für Polan.
Interessant ist die Struktur der gut durchdachten Überschriften. Am häufigsten (87mal) sind die Überschriften in Form von Nominalgruppen gestaltet, d. h. sie bestehen aus Wortgruppen mit voran gestelltem Genitiv, präpositionalen Fügungen und Wortketten mit der Konjunktion vnd, z. B. Des Gerichts Diehners gerechtigkeit;20 Clage auff die gewissen21 oder Von Siegelung vnd Sperrung.22 Überschriften dieser Art sind ökonomisch, denn sie vermitteln dem Leser Schlüsselworte, der damit sehr schnell die wichtigsten Informationen über den Inhalt bekommt. Daneben benutzt Polan in Überschriften Formen direkter oder indirekter Fragen (insgesamt 38mal), z. B. Was litis contestacio, kriegs befestigung, bei rechte haist;23 nicht selten kommt in der nachfolgenden Distinktion eine Antwort auf die vorausgegangene Frage: Was peinlich klage ist. Ein peinliche klage yst, wen man klagt vmb vbeldtatt, missetadt vnd laster vnd begert solche klage, enczweder mitt leibes straffe, ader andern rechtmessigen penen der Recht zu straffenn.24 Einen Einfachsatz als Überschrift wählte Polan 32mal, wahrscheinlich deswegen, weil er bereits in der Überschrift eine wichtige Information bringen oder auf ein häufig auftretendes Problem hinweisen wollte (Ein volle macht zu Rechte sal alle Clauseln habenn,25 Ein mohl angedingt ist genugkh,26 Claeger hot keinen beweys,27 Ire ambt ist vonnoehten.28 Ein zusammengesetzter, also umfangreicherer Satz wurde nur 11 mal benutzt (Beklagter [Seite: 54] bekennet sich zur schult vnnd wil pffandt legen;29 Was ane Citacion gehandeldt wirt, ist vnkrefftig;30 Wer aufhaldten will, sal genugksam verbuergen),31 fast ebenso oft erscheinen Nebensätze, die wohl die Neugier der Leser wecken sollten, z. B. Kompt dan der Ungehorsamme noch Sperrunge zu Gerichte.32 Bisweilen gibt es Nominalgruppen mit einem Nebensatz oder Infinitiv mit zu: Von auffhaldtunge anderer leuthe, die nicht selbschuldt sein.33
Beim Vergleich der Überschriften mit dem Inhaltsverzeichnis fallen einige Unterschiede in der syntaktischen Struktur auf, z. B. steht in der Überschrift im Text Wen der beklagte zur Clage gladt nein sagtt,34 im Inhaltsverzeichnis aber: Beklagter sagt Nein zur Klage; im Text heißt es: Noch der Inuentirung vnd Schaczunge,35 im Inhaltsverzeichnis dagegen: Was noch der Inuentirunge vnd Schaczunge folget; die Textüberschrift "Duplica, Widerrede"36 lautet im Inhaltsverzeichnis "Von Duplica vnnd widerrede". In seltenen Fällen kam es in den Textüberschriften zur Reduzierung, so wurde die Überschrift im Inhaltsverzeichnis "Von verpoten auf liegende gruende vnd farende habe" im Text auf die knappe Formulierung "Von verpoten"37 verkürzt. Diesen Differenzen dürfte jedoch kaum eine Absicht zugrunde liegen, vielmehr sind sie wohl auf eine Unaufmerksamkeit des Autors zurückzuführen.
Polan bemühte sich — wie später noch gezeigt wird — um eine klare inhaltliche Strukturierung der Artikel, und um dem Leser bei der Rezeption behilflich zu sein, ergänzte er manche Erläuterungen auch mit logischen Schlussfolgerungen:
1 [Distinctio] Was banrecht aigentliche haisse
Ban haist zu Sachsenrecht so viele, als gewaldt, ein gerichte, ader geding zu hegenn, vnderbanne haist so viele, als vndter gehegtem dinge. Dorumb haist banrecht aigentlichen dorfon zu redenn, so viele, als gehegtt rechtt.38
Nicht selten werden Termini, die dem Leser Schwierigkeiten bereiten konnten, erklärt, z. B. Ein Procurator wirt auch Im Rechtenn ein Vormunde genandtt,39 und oft werden in Klammern Antworten auf potentielle Fragen des Lesers gegeben: vnd sich wider den kleger mit exceptionn (so ehr Inderts eine hott) beschueczenn, ader sonste [Seite: 55] verandttworthenn40 oder der gibtt dem gerichte (so der vngehorszam[m]e in der Stadt wohnett).41 Auch gibt es im Text zahlreiche metasprachliche Verweise, z. B. wie obene im Artikl vom Siegeln vnnd Sperren gehörtt42 oder wie oben gehort,43 die häufig eingeklammert sind: gedochte fahrende habe (wie obengemeldt).44
Polan möchte den Leser zum Studium der Gerichtsordnung auch dadurch motivieren, dass er an mehreren Stellen betont, wie nützlich die angeführten Informationen sind, z. B. Die wirkunge der kriegsbeuestunge ist man[n]icherley vnd sehre nuczlich zu wissenn.45
Die aufgezählten und an Beispielen belegten Strategien erweisen, dass der Rezipient bei Polan im Mittelpunkt steht. Es ging dem Verfasser darum, dem Leser den Umgang mit der Gerichtsordnung zu erleichtern; das zeigt auch die graphische Gestaltung des Rechtsdokuments.
Polan wollte dem Leser die komplizierte Problematik nicht nur durch eine klare inhaltliche Strukturierung des Textes, sondern auch durch seine graphische Gliederung leichter zugänglich [zu] machen, denn die mitgeteilten Informationen waren für die Rechtspraxis sehr wichtig und mussten richtig verstanden werden.
Bereits die Titelseite soll die Aufmerksamkeit des Lesers durch die trapezförmige Überschrift mit der dreizeiligen Zierinitiale und zwei Auszeichnungsschriften fesseln. Auf dem nächsten Folio fängt das Vorwort an. Polan benutzt als Kapitel-Initiatoren die zweizeilige Überschrift "Vorrede zum Leser", die dreizeilige Initiale E und die in einer Auszeichnungsschrift geschriebene erste Zeile. In der Vorrede werden regelmäßig Satzmajuskeln verwendet, d. h. nur wenig vergrößerte Großbuchstaben am Satzanfang im fortlaufenden Text. Am Ende der Vorrede wurde ein Terminator benutzt, der auch an anderen Stellen in der Gerichtsordnung erscheint.46
Alle Überschriften der Artikel sind in größerer Auszeichnungsschrift geschrieben und einzelne Einleitungstexte und Distinktionen durch Satzmajuskeln gegliedert. Polan schrieb am Rand der Distinktionen Glossen, die oft in lateinischer Sprache verfasst sind. Die Passagen im Text, auf die sich diese Glossen beziehen, sind unterstrichen. Ab und zu wurden am Rand Schlüsselwörter eingetragen, die eine leichtere Orientierung im Text [Seite: 56] ermöglichen.47 Die Bedeutung einiger Passagen markiert an mehreren Stellen auch ein Weiser, die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger.48
Polans klare Gliederung der Gerichtsordnung sowohl durch sprachliche als auch durch graphische Mittel fand aber in der tschechischen Version keine Entsprechung. In der auf tschechisch verfassten Gerichtsordnung für die Stadt Wall-Meseritsch entspricht nur die erste Seite der graphischen Gestaltung Polans, die weiteren Folios sind unübersichtlich, die Orientierung ist problematisch umso mehr, als ein Inhaltsverzeichnis fehlt.
Der erste Teil der Olmützer Gerichtsordnung, der aus 13 Artikeln besteht und vor allem die Klage, Festnahme und Gefangenhaltung betrifft, umfasst 54 Mikrotexte.49 Bereits die Überschriften (von 58 stellen 32 verschiedene Satzarten dar) weisen darauf hin, dass es sich um inhaltlich sowie syntaktisch komplizierte Strukturen handelt. Die Mikrotexte bringen Antworten auf die Frage Was passiert, wenn ...? In dreißig Mikrotexten beginnen einleitende Satzgefüge mit Konditionalsätzen, z. B.:
Claeger hot keinen beweys
Who denn klager das nicht tutt ader gar keyne beweysunge hott, So wirt der beklagte durch den her Foyt von solcher angestaldtenn klagen absoluirt, kwit, loess vnd ledig getailt.50
Clage vmb erbgeldt
Klagt einer zum andern vmb vertaget erbgeldtt, essey viele ader wenigk, vnd der beklagte bekennet sich dorczu, das es vertaget sey, vnd begert die rechtliche fryst, die bekombtt ehr, das sein III tage noch erbgeldes recht vnd nicht mehr.51
Die Konditionalsätze werden entweder durch die Konjunktionen wan, wen eventuell wo eingeführt (wo es aber der gläubiger nicht balde annehmen noch gescheenn lossen wil)52 oder als konjunktionslose Nebensätze mit der finiten Verbform in der Spitzenstellung formuliert (Bekennet sich beklagter zur schuldt"53), nicht selten sind auch Konditionalsätze mit Paraphrase (Es wehre die sache, das er sich ...54).
Fünfzehn Mikrotexte des ersten Teils werden durch einen Hauptsatz eingeführt, der ein Satzgefüge einleitet. In diesen Sätzen werden meistens die Pflichten der am Prozess beteiligten Personen erläutert: [Seite: 57]
Klaeger
Der kleger mus bey gerichte burgen seczen, das ehr seiner klage bey rechte noch kom[m]en vnd auch verharrenn wil, bis zu außtrage der sachenn vnder einem pfande ader Sum[m]en noch gelegenheitt der sache vnd ermessunge des her foytenn, welchs ehr dorauff zuseczen hott.55
Die Mikrotexte im ersten Teil sind unterschiedlich lang, je nachdem, wie kompliziert die Problematik ist; seltener sind Texte, die aus mehr als 14 ganzen Sätzen bestehen (z. B. der erste Artikel), kürzere Texte überwiegen.
Die Mikrotexte des zweiten Teils56 beantworten die Frage Was bedeutet das?; sie umfassen viele Definitionen, Reden des Vogts vor Gericht, Zeugeneide u. a. und sind kürzer. Insgesamt 79mal erscheinen durch eine Satzverbindung eingeleitete Definitionen:
Das dritte banrechtt
Das dritte banrechtt wird besacztt vnd gehegtt allewege 14 tage noch Ostern vnnd triefft sich allewegeden montagk noch Misericordia domini vnd wirt widerumb aufgegeben am freitage vor Rogationu[m], d[a]z ist vor der kreuczwochen.57
Konditionalsätze als einleitende Sätze kommen im zweiten Teil in 38 Mikrotexten vor, z. B.:
Caution in Burglichen sachen
Wen der beklagte in burglichen sachenn diesen vorstandt fordern, so mus Ime kleg[er] den selben enczweder mitt burgenn ader mitt pfande, ader who ehr dero kayners vermoechte, mit geschwornem elendenn aide thuen. Who sie aber der beklagte nicht fordert, So ist auch der kleger, die zubestellen nicht schuldigkh, Den der Richter hott seines amptshalbenn hierinne nichts zuerfuellen ader zuSuplirenn.58
Nur vereinzelt dienen andere Nebensätze (Subjekt-, Objekt-, Temporal- oder Attributsätze) als einleitende Sätze im Satzgefüge:
Von Gastrecht
Nodtrecht
Welcher ein Gastrecht, Nodtrecht etc. begertt zubeseczenn, derselbe erlegt in gehegte bank den hernn Scheppenn XVI gr[oschen], dorfon geben die hernn Scheppenn denn Zwehen geschwornen Procuratorn VIII gr[oschen].59
In den meisten Artikeln des zweiten Teils handelt es sich um Erläuterungen. Doch in einigen Fällen, in denen der Verlauf des Gerichtsverfahrens geschildert wird, gleicht der Text einer Anweisung:
Lauperunge ader verlesunge der partenn am ersten tage aus gehegter banck
So balde der Gerichtsdiehner zu dreihen mahlen nocheinander geruffenn hott, So [Seite: 58] trehten die zwehne geschworne procurator, ein Jeder mit gunst vnd laube vor gehegte bankh, ein yeder an seine verordente Stadtt.
Dornoch hebt der Scheppenschreiber an vnd verlist die parthenn, die zu dem rechten verburgtt sein. Wehr alsdenne verhanden ist, der meldet sich, welcher aber nicht verhanden ist, vnd auch kein machtman von seinetwegenn, demselbenn macht man einen punct vnd von wegen solchs puncts ist derselbe verfallen dem her Foyte IIII gr[oschen] die pusse, vnd das haist die erste lauperunge aus gehegter bankh.60
Im zweiten Teil der Gerichtsordnung finden sich daneben auch Passagen, die vor Gericht ausgesprochene Fragen und Antworten wiedergeben und damit Einblicke in die kommunikativen Strukturen der damaligen Prozessverfahren bieten. Die Olmützer Gerichtsordnung ist also eine interessante Quelle für die “Gerichtsrhetorik” jener Zeit.
Unter dem Begriff “Gerichtsrhetorik” versteht man Ratschläge zur Rede vor Gericht sowie Sentenzen über das Recht, Eide und Gerichtsreden.61 Die Anleitungen zur Gerichtsrede finden sich in zehn Artikeln des zweiten Teils der Olmützer Gerichtsordnung, in denen es zwei Typen von Fragen und Antworten gibt. Den ersten Typ stellen Fragen dar, die der Vogt dem Gerichtsschreiber stellt.
Frage: Her N., euer Weisheit, seÿ gefragt, ob die Bencke beseczt sein, zun einem pahnteyding, wie recht ist.
Anndtwordt: Her Foyt, Erszam[m]er weiszer herr, dieweil mich, eure Weisheit, fragt, ob die Bencke beseczt sein zu einem panteiding, wie recht ist, darauff sage ich, das sie genugksam beseczt sein zu einem pahnteiding, wie recht ist.62
Der Gerichtsschreiber wird hier als Her N., euer weisheit, der Vogt als Her Foyt, Erszammer weiszer herr oder eure Weisheit bezeichnet. In anderen Passagen werden die Schöffen erszammenweysze liebe Herrn oder nur erszamme Herrn genannt; wenn der Vogt aber von den Schöffen spricht, nennt er sie meine hern (Meine hern erkennen, das der tohte von der moerder hende gestorben ist)63 oder herr Scheppen.64
Der Vogt beginnt seine Fragen an den Gerichtsschreiber immer mit dem Verb fragen im sein-Passiv Konjunktiv I Präsens: sey gefragt (Her N., euer weisheit, sey gefragt). Der Gerichtsschreiber antwortet in ganzen Sätzen, er greift stets die Frage des Vogts noch einmal auf und wiederholt in seiner Antwort mehrmals wie recht ist.
Den zweiten Typ bilden die Fragen des Prokurators an den Vogt:
Frage: Her foyt vnnd Erszam[m]en weyszen lieben hernn, der erbare N. hott mich erbeten zu einem (aduocatenn) (ader vormunndenn) also das ich Ime seine sache kegenn [Seite: 59] dem erbarenn N. vor diesem loeblichenn rechtenn reden vnd fueren sal. Ich froge derhalben zu rechte, ab ehrs bekom[m]en magkh von rechts wegenn.
Anndtwordt: Ehr bekombtt es vonn rechts wegenn.65
Der Prokurator war nicht so angesehen wie der Gerichtsschreiber, und wahrscheinlich deswegen wurden seine Fragen nicht so gehoben formuliert wie die an den Gerichtsschreiber. Der Prokurator spricht den Vogt Her foyt an: Her Foyt, Ich froge zu rechte ...,66 die Schöffen nennt er ersammen hernn, aber auch nur herre.67 Oft wird das Verb in der Imperativform in der 2. Person PI. Ind. Präs. benutzt: Her foyt vnd Erßam[m]en hern, vergoennet mir zu reden.68 Wenn der Prokurator eine Forderung äußert, tut er dies ganz vorsichtig und höflich durch eine Umschreibung mit dem Präteritopräsens mögen: Herre, moechte ichs bekom[m]en, das der tohte besichtigt wuerde durch zwehne hern Scheppen, ab ehr von gottes gewaldtt ader von der moerder hende gestorben sey69 oder Her foyt, magkh ich meiner worthe weiter bekom[m]en.70 Nur in zwei Fragen des Prokurators wird das sein-Passiv im Konjunktiv I benutzt: Her foyt vnd erszammen hern e. w. seyt gefragt.71
Die Antworten des Vogtes werden ohne Anrede, ganz kurz und nie als ganzer Satz formuliert, so bildet im folgenden Beispiel ein unvollständiger Satz die Antwort: Procurator: Her foyt vnd Erßam[m]en weißen liebenn hernn, Ich froge zu Rechte, wie N. als kleger die gewehre bestellenn sal.
Andtwort ader Sententia: Mitt aufgehabenen fingern Ader also Mitt handt vnd mitt mundt vnd beweglicher zungenn.72
Manche Antworten auf Entscheidungsfragen werden durch das Jawort Ja eingeleitet: Jha, Ihr habtt Ime auffgeholffen, wie recht ist.73
Die Fragen und Antworten spiegeln wahrscheinlich die soziale Stellung der Personen vor Gericht wider. Darüber hinaus lassen sie erkennen, dass auch der Prokurator rechtskundig war, denn er benutzte — wenngleich seltener als Vogt — den Satz wie recht ist.74 Er musste vor Gericht auf folgende Weise ums Wort bitten (fol. 80v):
Procurator: Her foyt vnd Erßam[m]en hern, vergoennet mir zu reden. Die Antwort ist nicht so gehoben wie die Antwort auf die Frage des Vogtes: [Seite: 60] S[ente]ntia: Man gan es euch.75
Die angeführten Beispiele zeigen, wie die Höflichkeitsform in der 2. Person Plural für eine Einzelperson, die übrigens im Deutschen zum erstenmal im 9. Jh. erscheint,76 benutzt wurde. In diesen Situationen kommunizieren Repräsentanten der höheren Schicht der Olmützer Bevölkerung, der Vogt, Gerichtsschreiber und Prokurator, miteinander. Die Gerichtsordnung führt jedoch auch eine Rede des Vogts an, mit der dieser einer unbestimmten Person, einem Olmützer, Besitz übergibt. In seiner Rede benutzt der Vogt das Du: In diese gobe, die dir gegeben ist vor gerichte / Ader in die erbschafft, die du durch rechtlichs erkendtnis erhaldtenn host, weysze ich dich ein, als dir das vrteil ertailet hott vnd szecze des die Scheppen zu geczeugenn vnd die andern dingkpflichtigenn, das ich dich hie in dieses gutt, hauss, hoff vnd alles, was dorinnen ist, essey farend ader vnfarende, mit was nahmen das benendt werden magkh, eingeweyset habe, als recht yst.77
Neben den Äußerungen des Vogts, der Gerichtsschreiber oder des Prokurators gibt es in der Gerichtsordnung auch eine Passage, die die Worte des Gerichtsdieners, des sog. fronebote, anlässlich eines Mordfalles wiedergibt: Czether vber den morder. Czeter vber den moerder. Czehter vber den moerder, der diesen menschen ermordett vnd sein weip zu einer widtwen vnd seine kinder zu waesen gemacht hott.78 Diese drei Sätze musste der Gerichtsdiener wörtlich zitieren.
Die angeführten Belege vermitteln einen lebendigen Eindruck von der Kommunikation vor Gericht. Allerdings enthält die Olmützer Gerichtsordnung keine Ratschläge und Vorschriften, die dem Gerichtsredner das Erregen von Emotionen oder die Körpergestik untersagen; solche Regeln sind etwa in der im Jahre 1472 in Augsburg gedruckten Gerichtsordnung überliefert.79 Es gibt auch keine Hinweise in Bezug auf das Protokollieren, das — wie die Olmützer Gerichtsbücher belegen — ein fester Bestandteil des damaligen Gerichtswesens in Olmütz war. Daraus lässt sich ableiten, dass jeder Schreiber sich während seiner Lehrjahre in der Stadtkanzlei für die Protokolle Strukturierungsmuster einzelner Textsorten angeeignet hat, so dass die Gerichtsordnung diesbezüglich keine Informationen bieten musste. [Seite: 61]
Die Olmützer Gerichtsordnung von Heinrich Polan ist ein wichtiges Dokument nicht nur für Rechtshistoriker, die sich mit der Rezeption des römischen Rechts befassen, sondern auch für Historiolinguisten, die die Entwicklung der frühneuhochdeutschen Rechtssprache untersuchen. Das Werk ist sorgfältig gegliedert und sein Verfasser orientierte sich an den Bedürfnissen der Benutzer. Das zeigt nicht nur die Struktur der Gerichtsordnung, sondern wird auch in den die Gerichtsrhetorik betreffenden Passagen deutlich. Während Polan juristische Erläuterungen und Zitate in lateinischer Sprache am Rande in Form von Glossen anführt, vermittelt er Inhalte der Gerichtsverfahren als sentenzhafte und leicht einprägsame Verhaltensmaßregeln, die auf die unmittelbare Kommunikation vor Gericht zugeschnitten sind. Die Redner bekommen aber keine praktischen Empfehlungen, etwa wie sie mit Argumenten umgehen sollen. Die Körpergestik, die in anderen Gerichtsordnungen aus dieser Zeit meistens explizit untersagt wurde, blieb in Polans Werk unerwähnt. Gerichtsschreiber und Notare werden zwar in der Olmützer Gerichtsordnung erwähnt, aber Ratschläge hinsichtlich prozessrelevanter Schriftformen und deren Strukturierung bekommen sie nicht, denn ganz offensichtlich ging es Polan vor allem um die mündliche Kommunikation in einem Verfahren.
Weitere Untersuchungen zu diesem Thema sollen die Satzstruktur behandeln; zu analysieren sind die Konjunktionen, die Satzgliedstellung, die Bildung der Satzrahmen und die Modelle der Satzgefüge. Die Ergebnisse dieser Analyse werden im Kommentar des Vorworts zu der Edition der Olmützer Gerichtsordnung präsentiert, die in Vorbereitung ist.