Quelle: Rudolf Leeb, Regensburg und das evangelische Österreich. In: Peter Schmid, Heinrich Wanderwitz (Hrsg.), Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus. (= Regensburger Kulturleben. Band 4. Hrsg. von der Stadt Regensburg, Kulturreferat). Regensburg 2007. S. 229 - 249.
Digitalisiert mit freundlicher Erlaubnis des Autors von Heino Speer, Mai/Juni 2015. Die "Hypertextualisierung", also die Überführung von Quellenangaben in direkt anklickbare Links auf digitale Exemplare der zitierten Werke, ist naturgemäß beschränkt auf diejenigen Texte, die bereits gemeinfrei sind.
Klagenfurt am Wörthersee, Juni 2015.
Die Geschichte des Protestantismus in Österreich ist merkwürdig eng mit der Stadt Regensburg verbunden. Dies hängt mit dem besonderen Schicksal des Protestantismus in den österreichischen Ländern während der Zeit der Reformation und Gegenreformation zusammen. Es gab in österreichischen Ländern durchaus eine starke, vitale und auch öffentlich-rechtlich anerkannte Reformation, die dann im 17. Jahrhundert in der Gegenreformation fast zur Gänze unterging. Nur in bestimmten Landstrichen in Oberösterreich, Steiermark, Kärnten, Tirol und Salzburg blieb das evangelische Bekenntnis im Untergrund am Leben. Dieser sogenannte Geheimprotestantismus wurde zwar im Laufe von fast 200 Jahren durch Ausweisungen, Emigrationen und Zwangsumsiedlungen dezimiert, doch in einigen Regionen Oberösterreichs, Steiermarks und Kärntens konnte er bis zum Toleranzpatent Josefs II. 1781, das den Protestantismus wieder legalisierte, überleben. Vor allem bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zum Toleranzpatent Josefs II., hat Regensburg für die Protestanten in Österreich immer eine besondere Rolle gespielt und auch danach sind die Kontakte nicht abgerissen. Während dieses Zeitraums hat sich die Rolle Regensburgs dabei mehrmals verändert. Die folgenden Ausführungen möchten einen ersten Überblick über diese bemerkenswerten Beziehungen der lutherischen Reichsstadt Regensburg zum evangelischen Österreich bieten.1
Um die Rolle Regensburgs für den Protestantismus in Österreich im 16. Jahrhundert verstehen zu können, ist es zuvor notwendig, einen kurzen Blick auf die konfessionelle Lage in den Gebieten des heutigen Österreich zu dieser Zeit zu werfen.2
In den österreichischen Ländern entwickelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine eigenartige, regional unterschiedliche konfessionelle Situation. Im Erzstift Salzburg, also dem [Seite: 230] Territorium des Salzburger Erzbischofs, in Tirol und auch in Vorarlberg wurden die reformatorischen Regungen konsequent bekämpft. Trotzdem gab es dort eine mehr oder weniger unterdrückte Reformation im Untergrund, die vor allem in Salzburg stark war. In diesen Ländern gab es keine öffentlichen evangelischen Predigtstellen, da keine evangelischen Prediger auf den Pfarren saßen. In Tirol und Salzburg entstand schon im 16. Jahrhundert auf diese Weise ein illegales evangelisches Laienchristentum, der sogenannte "Geheimprotestantismus".
In den Donauländern (Niederösterreich und Oberösterreich) und in Innerösterreich (Steiermark, Kärnten, Krain und Görz) gelang es im Unterschied dazu, unter dem Schutz des mächtigen evangelischen Adels und der von ihm völlig dominierten Landtage die geordnete evangelische Predigt zu etablieren. Allerdings war es aufgrund der Haltung der habsburgischen Landesherren lange nicht möglich, eine eigene evangelische Kirchenorganisation neben der alten katholischen zu errichten. Ab 1555 hatten die habsburgischen Landesherren mit dem Augsburger Religionsfrieden, der ihnen das jus reformandi zusprach, sogar das Reichsrecht auf ihrer Seite. Trotzdem geriet die alte Kirche völlig in die Defensive. Die Reformation konnte sich dabei aber nur innerhalb des einen alten Diözesan- und Pfarrsystems ausbreiten, an dessen Spitze rechtlich gesehen immer noch der katholische Bischof stand, auch wenn er praktisch keinen Einfluss auf die neu entstandenen evangelischen Pfarren hatte. Schließlich gelang es diesen Ländern 1568 (Donauländer) und 1572 (Innerösterreich) trotz des Augsburger Religionsfriedens die Legalisierung des Protestantismus zu erreichen, sodass nun zwei Kirchenorganisationen nebeneinander bestanden. Diese Bikonfessionalität fand dann mit der am Ende des 16. Jahrhunderts einsetzenden Gegenreformation ihr Ende.
Aufgrund dieser speziellen konfessionellen Entwicklung und Situation existierten vor allem in der Zeit vor der Legalisierung des Protestantismus im religiösen Leben nicht überall klare konfessionelle Grenzen. Dies gilt vor allem für die Lage in Tirol und Salzburg, ist aber auch ein Phänomen der anderen habsburgischen Erblande. Diese konfessionelle Situation ist mit die Hauptursache für die regen Kontakte und Beziehungen zwischen Regensburg und Österreich im 16. Jahrhundert. Denn sowohl in Regensburg als auch in Österreich gab es Personen, denen diese konfessionelle Situation missfiel. Deshalb beurteilen die im Regensburger Stadtarchiv erhaltenen Briefe, die zwischen diesen Personen in den österreichischen Ländern und in Regensburg hin und her gingen, die Vorgänge in Österreich unter einem ganz bestimmten Blickwinkel. Es ist die Perspektive des sogenannten "Gnesioluthertums".3 Die Regensburger Briefe sind Partei.
Der den Gnesiolutheranern im 17. Jahrhundert beigelegte Name meint "echte" Lutheraner bzw. "eigentliche" Lutheraner. Dies beschreibt durchaus ihr Anliegen. Die Gruppe formierte sich kirchenpolitisch nach der Niederlage der protestantischen Partei im Schmalkaldischen [Seite: 231] Krieg zur Zeit des von Kaiser Karl V. diktierten Interims. Das Interim, ein vom Kaiser 1548 erlassenes Sondergesetz für die Protestanten, sollte die durch die Reformation entstandenen evangelischen Kirchen aufheben und sie wieder in die alte katholische Kirche eingliedern.4 Damals zeigten sich die Wittenberger Theologen unter Melanchton, der nach dem Tod Luthers die Führung übernommen hatte, gegenüber der katholischen Partei bis zu einem gewissen Grad kompromissbereit, indem sie bei manchen Punkten, die in ihren Augen als nebensächlich erschienen, der katholischen Partei entgegenkamen. Der theologische und liturgische Spielraum, den das Luthertum bot, wurde möglichst weit ausgenutzt, um so der kaiserlichen Politik - soweit es vertretbar war - entgegenzukommen. Warum sollte man z.B. nicht Messgewänder tragen, Lichter auf dem Altar haben, warum nicht mancher heiligen Gestalten gedenken, wenn man dies auf evangelische Weise tat usw. Der Kern der Lehre wurde dabei in keinem Punkt aufgegeben. Man hielt die betreffenden Punkte für "Mitteldinge" (Adiaphora), die man halten konnte oder auch nicht. Außerdem vertraten die Wittenberger eine Rechtfertigungslehre, mit der man mit der katholischen Partei immerhin ins Gespräch kommen konnte. All dies ging den Gnesiolutheranern viel zu weit. Kompromisse seien in einer solchen Situation fehl am Platz. Jetzt müsse die Wahrheit klar und laut bekannt und so das Erbe Luthers verteidigt werden. Melanchton und seine Schüler (die sogenannten Philippisten) hätten Luthers Lehre verfälscht. Obwohl das Interim bereits nach einigen Jahren obsolet war, reichte die kurze Zeit aus, eine Parteibildung im Luthertum entstehen zu lassen, die für mehrere Jahrzehnte fortbestand. Denn die Gnesiolutheraner behielten diese geschichtliche Wertung des Interims bei. Das Zeitalter der eigentlichen Reformation war für sie vorbei und abgeschlossen, es galt nunmehr das Erbe Luthers und seiner Reformation für die Zukunft zu bewahren und gegen alles "Interimistische" zu kämpfen.5 In den österreichischen Ländern war aufgrund der besonderen konfessionellen Lage aber das evangelische religiöse Leben nach dem Urteil der Gnesiolutheraner stark interimistisch geprägt. Dies war die Ursache für ihre Aktivitäten.
Die zentrale Figur in Regensburg war hierbei Nikolaus Gallus, der eine typisch gnesiolutherische Biographie aufweist.6 Wie andere evangelische Reichsstädte musste der Rat der Stadt Regensburg nach dem Schmalkaldischen Krieg das vom Kaiser diktierte Interim 1548 [Seite: 232] formell annehmen, mit dem das Kirchenwesen der Stadt wieder in die alte Kirche eingegliedert und damit praktisch rekatholisiert wurde. Doch der damals in Regensburg unter den Geistlichen zur leitenden Gestalt aufgestiegene Nikolaus Gallus leistete Widerstand. Er rief zum öffentlichen Bekennen der Wahrheit und zu zivilem Ungehorsam auf und erwies sich darin als typischer Gnesiolutheraner. Der Rat musste angesichts der allgemeinen machtpolitischen Lage Gallus entlassen. Dieser ging gemäß seinem eigenen Selbstverständnis als "Exul Christi" in die damalige Zentrale des sich als Gruppe gerade sammelnden Gnesioluthertums, nämlich nach Magdeburg, das wegen seines offenen Widerstandes gegen das Interim sogar eine Zeitlang belagert wurde. In Magdeburg versammelten sich Männer seines Schlages. Neben Flacius Illyricus, Nikolaus Amsdorf wurde auch Gallus eines der Häupter der Bewegung.7 Diese Gruppe führte einen publizistischen Kampf nicht nur gegen die katholische Partei, sondern auch gegen die von Melanchton angeführte Wittenberger Theologie. Sie warfen den Wittenbergern hier Verrat an der wahren Lehre vor, wo doch stattdessen in der Zeit der Bedrängnis und der Verfolgung lautes Bekennen und leidender Ungehorsam gefordert sei. Ginge man Kompromisse ein und gäbe im Kleinen nach, so helfe man nur bei der Wiedereinsetzung des Papsttums und des Antichrists. Leute wie Gallus waren um des unverfälschten wahren Bekenntnisses willen bereit, dafür persönliche Unbill und Nachteile auf sich zu nehmen, z.B. den Verlust der Pfarrstelle oder die Emigration. Als 1552 die Bedrohung durch das Interim vorbei war, fühlten sich die Gnesiolutheraner als die moralischen Sieger und es war für sie eine Gewissensfrage, das reformatorische Erbe in ihrem Sinne zu verteidigen und zu bewahren. Damals wurde Gallus von der Stadt Regensburg zurückberufen und nun als Superintendent eingesetzt.8
Ab nun widmete er seine Kraft neben seiner eigentlichen seelsorgerlichen Arbeit ganz dem kirchenpolitischen Einsatz für ein reines und aufrechtes Luthertum, wobei dieses Wirken weit über die Grenzen Regensburgs hinausreichte. Im Laufe der Jahre wurde Gallus durch diese Aktivitäten eine zentrale Anlaufstelle und ein wichtiger Bezugspunkt innerhalb eines nun entstehenden Netzwerkes. Die im Regensburger Stadtarchiv erhaltene reiche Korrespondenz zeigt, dass Briefe mit Lageberichten aus vielen Regionen des Reiches, selbst aus dem damals außerhalb der Reichsgrenzen liegenden Königreich Ungarn (heutiges Burgenland, Zips), bei Gallus eintrafen. Vor allem aber ist das Regensburger Stadtarchiv insbesondere für die österreichischen Länder eine Fundgrube für diese Phase des Gnesioluthertums und birgt zugleich einen archivalischen Schatz für die österreichische Reformationsgeschichte insgesamt.9 [Seite: 233]
Die ersten wichtigen Kontakte sind ab 1554 belegt. Es sind dies Briefe der einflussreichen donauländischen Adeligen Johannes von Perckhaim (1554) und Georg Sigmund von Dietrichstein (1557).10 Der Inhalt und der vertrauliche Ton dieser Berichte an Gallus setzen bereits länger bestehende Kontakte mit Regensburg voraus. Diese müssen wahrscheinlich schon in den Zeiten des Kampfes um das Interim bzw. kurz nach der Rückkehr von Gallus nach Regensburg geknüpft worden sein. Bereits diese Briefe verraten, dass man sich als "gnesiolutherische Gemeinschaft" zusammengehörig fühlte. Von diesem Zusammengehörigkeitsgefühl ist die gesamte Korrespondenz geprägt. Ihr können wir entnehmen, dass das Wirken von Gallus in die österreichischen Länder sich auf folgende Bereiche erstreckte:
In den Augen der Gnesiolutheraner lauerten in den österreichischen Ländern für die Evangelischen viele Gefahren. Sie vermissten hier klare und feste konfessionelle Grenzen. Evangelische und katholische Bevölkerungsteile lebten miteinander. Ein reformgesinnter katholischer Pfarrer in der Heimatgemeinde, der das Abendmahl unter beiderlei Gestalt austeilte, konnte z.B. für einen Protestanten akzeptabel sein, sodass er den Sonntagsgottesdienst besuchte usw. Vielerlei seelsorgerliche Probleme ergaben sich daraus für die Gnesiolutheraner: Darf man die Kinder zur Not von einem katholischen Pfarrer taufen lassen, wenn kein Evangelischer in der Nähe ist, darf man bei ihm heiraten, die Krankenkommunion erbitten, ihn im Notfall holen, selbst dann wenn dieser Pfarrer reformgesinnt ist, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt spendet, die Messe auch auf Deutsch liest usw.11 Die Gnesiolutheraner sahen in einer solchen Situation die reine Lehre gefährdet. Sie warnten davor, Kompromisse einzugehen, die in ihren Augen für das Seelenheil gefährlich waren. Ihr Ziel war es, die "Papisten" und "Interimisten" zu bekämpfen, indem man klare Bekenntnisfronten schuf. Evangelische Christen, die unter katholischer Obrigkeit lebten, wollte man nicht nur trösten, sondern zugleich auch zu lautem Bekennen ermuntern, um die Reformation rein zu erhalten und das Wort Gottes zu stärken. Deshalb schrieben Gnesiolutheraner wie Cyriakus Spangenberg und der Salzburger Emigrant Martin Lodinger an die Protestanten in das vom Erzbischof katholisch regierte Erzstift Salzburg, wo die Protestanten, wie schon erwähnt, ohne eigene Seelsorger und ohne eigenes Pfarrnetz leben mussten. Die Gnesiolutheraner warnten sie vor den Gefahren des konfessionellen Indifferentismus und riefen sie zu Widerständigkeit durch lautes Bekennen der [Seite: 234] wahren evangelischen Lehre auf.12 Auch Regensburg beteiligte sich selbstverständlich dabei. Sehr anschaulich wird der hier geschilderte Sachverhalt am Regensburger Prediger Wolfgang Waldner, der früher in Steyr in Oberösterreich gewirkt hatte. Er war 1548 dem Druck des Bischofs von Passau ausgewichen und hatte Österreich verlassen, weil er in Fragen des Seelenheils keine Kompromisse eingehen wollte. Über Augsburg kam er als Pfarrer nach Nürnberg.13 Als kämpferischer, ja militanter Gnesiolutheraner, der sich auf der Kanzel kein Blatt vor den Mund nahm, musste er 1558 die Nürnberger Stelle verlassen und wurde mit Hilfe des gnesiolutherischen Netzwerkes vom schon erwähnten Cyriakus Spangenberg dann zu Gallus nach Regensburg vermittelt, wo er wieder eine Pfarrstelle bekam und hinfort zusammen mit Gallus im Sinne des Gnesioluthertums wirkte. Dieser Wolfgang Waldner veröffentlichte 1566 eine Schrift, zu der bezeichnenderweise Gallus das Vorwort und Cyriakus Spangenberg das Nachwort verfassten: Nothwendiger || Bericht für die Verfolgten || Christen / so an andern orten die || Predigt des Göttlichen worts || und die Sacrament nothalben || suchen müssen: || Wolffgangus Waldner. || Mit einer Vorrede || M. Nicolai Galli. || Vnd einer Beschlussrede || M. Cyriaci Spangenbergi. || [...] || Gedruck zu Eisleben durch || Andream Petri. || (1566. || ?).14 Schon in Nürnberg hatte Waldner im innerlutherischen Abendmahlstreit eine lateinische Schrift Joachim Westphals ins Deutsche übersetzt, mit einer Vorrede versehen und die Schrift in dieser Vorrede 1554 an seine alte Wirkungsstätte in Steyr gerichtet, als ob er noch der rechtgläubige Seelsorger der dortigen Gemeinde wäre. Er wollte mit der Schrift nach eigenem Bekunden "den armen Kirchen sonderlich in Baiern, Österreich und Salzburg" helfen.15 Waldner ist immer über die Vorgänge in Österreich informiert gewesen und hat an den dortigen Entwicklungen stets Anteil genommen. An ihn schrieben die österreichischen Prediger und Adeligen genauso wie an Gallus selbst.16 Er ist ein typisches Beispiel für das Beziehungsgeflecht zwischen Regensburg und dem evangelischen Österreich.
Am wichtigsten und wirksamsten blieben für dieses Netzwerk aber die von Regensburg aus auf Anfrage hin erteilten brieflichen Ratschläge an Pfarrer sowie die Kontaktpflege mit Adeligen, die als Patronatsherren oder Inhaber von Pfarrvogteien Einfluss auf die Pfarrbesetzungen hatten, bzw. die Kontaktpflege mit einflussreichen gleichgesinnten Beamten in den Landesbehörden wie [Seite: 235] Bartholomäus Pica in Graz oder Matthias Klombner in Laibach.17 Denn diese Kontakte ermöglichten die Vermittlung von geeigneten Pfarrern. Darin erblickte man nämlich die große Chance zur Stärkung des wahren Luthertums. Zwar war evangelischerseits der Pfarrermangel nicht mit jenem der katholischen Seite vergleichbar, doch herrschte aufgrund der sich immer weiter einwurzelnden Reformation in den Donauländern und in Innerösterreich Bedarf an evangelischen Predigern, da eine eigene evangelische Universität bzw. theologische Fakultät fehlte. Diese konnte nur der katholische habsburgische Landesherr einrichten bzw. bestätigen, was politisch natürlich undenkbar war. Der Einfluss Regensburgs ist besonders gut im Falle von Kärnten zu greifen. Bedeutende Pfarrer und Theologen in Kärnten, mit denen Gallus als Ratgeber nachweislich in Verbindung stand, bildeten die Leitung des Klagenfurter Kirchenministeriums: Martin Knorr, Hans Faschang und Johann Hauser, dazu zählte aber auch der Advokat der Landschaft Johann Kraus.18 Der wichtigste Kontaktmann in das Herzogtum Steiermark war für die Regensburger Theologen der genannte Pica,19 der Einfluss des Gallus reichte aber bis nach Laibach in das Herzogtum Krain, wo er vor allem mit dem dortigen Landschaftssekretär Matthias Klombner korrespondierte.20 Gallus hat wesentlich zur gnesiolutherischen Prägung wichtiger Kreise des Laibacher Kirchenministeriums beigetragen.21
Da in den österreichischen Ländern in dieser Zeit auch der Druck evangelischer Schriften verboten war, der Bedarf an solcher Literatur wie in anderen evangelisch dominierten Regionen aber groß war, nahm man in Regensburg auch Bücherbestellungen entgegen. Das entsprechende Schrifttum wurde von den Regensburgern besorgt und mittels der Möglichkeiten, die eine Handelsstadt wie Regensburg bot, an die Bestimmungsorte gesandt.22
Aufgrund der geschilderten politischen Rahmenbedingungen herrschte in den habsburgischen Erblanden während des politischen Ringens der evangelisch dominierten Landtage mit den katholischen Landesherren ein Mangel an wissenschaftlich-theologisch ausgebildeten und zugleich kirchenpolitisch erfahrenen Personen. Es fehlten Theologen, die Erfahrung mit dem Aufbau einer Kirchenorganisation hatten. Es gab Bedarf an professioneller Politikberatung, insbesondere an solcher, die die Religionspolitik der immer stärker protestantisch dominierten Landtage mit dem Protestantismus im Reich abzustimmen in der Lage war. Bis 1570 hat Gallus über seine Kontakte mit Gleichgesinnten auf die Politik der Landstände Einfluss gehabt. Konkret greifbar ist diese Tätigkeit erstmals kurz nachdem Ferdinand I. ein scharfes Verbot des [Seite: 236]Laienkelches erlassen hatte. Damals wurde Gallus von donauländischen Adeligen kontaktiert.23 Nach den erhaltenen Quellen verdichtete sich diese Tätigkeit von Gallus um das Jahr 1566, als nach der Niederlage Maximilians II. gegen die Osmanen die Landstände der Donauländer und der innerösterreichischen Herzogtümer ihre Landesherren unter Druck zu setzen begannen. Maximilian II. und Erzherzog Karl von Innerösterreich sollten nach dem Willen der dortigen Landstände auf das jus reformandi verzichten, das ihnen der Augsburger Religionsfriede zugesprochen hatte. Die Erzherzöge sollten die Reformation in ihren Ländern legalisieren und eine evangelische Kirchenorganisation erlauben. Da die Verschuldung der Landesherren und ihrer Staatshaushalte nach der Niederlage gegen die Osmanen enorme Ausmaße angenommen hatte und sie deswegen dringend eine Entschuldung benötigten, hatten die Länder, die das Steuereinhebungsrecht besaßen, ein wirksames Druckmittel in der Hand. Während dieser Zeit und während der Verhandlungen der Länder mit den Landesherren24 wurde Gallus zumindest von Teilen des oberösterreichischen Adels und jenes von Kärnten kontaktiert.
Die Oberösterreicher bestärkte er in ihrer eingeschlagenen Linie, das Druckmittel der Steuerbewilligung voll auszureizen.25 Für die zukünftige Kirchenleitung schlug er gleich zwei Gnesiolutheraner vor, den Braunschweiger Joachim Mörlin und Cyriakus Spangenberg. Durchgesetzt haben sich dann später aber die Namen gemäßigter Vertreter des Luthertums, was einer Niederlage der Gnesiolutheraner gleichkam.26 Dies lag nicht zuletzt an Kaiser Maximilian selbst, der eindeutig die Wittenberger Richtung favorisierte. Dass man in Regensburg damals durchaus die Gefahr eines Sieges der Philippisten und Interimisten in Österreich befürchtete, zeigt eine gegen diese Richtungen vom in Niederösterreich tätigen Joachim Magdeburgius präventiv verfasste "confessio", die von 18 Gnesiolutheranern unterzeichnet und verbreitet wurde.27 Dieses Bekenntnis mit scharfen Attacken gegen die römisch-katholische Kirche, gegen die Adiaphoristen und Synergisten (Wittenberger) wurde 1567 bezeichnenderweise in Regensburg gedruckt. Den Druck hatte Wolfgang Waldner vermittelt. Bereits noch 1567 war eine zweite Auflage nötig, die in Eisleben gedruckt wurde, da inzwischen manche Prediger ihre Unterschrift zurückgezogen hatten.28 Magdeburgius war einer jener Berichterstatter aus Österreich, mit denen Gallus ständig in Kontakt stand.29 Im Umfeld [Seite: 237] der Legalisierung des Protestantismus von 1568 und der damals in Auftrag gegebenen Agende war die Zahl der nach Regensburg eingehenden Briefe besonders groß. Als dann 1571 die Agende für Niederösterreich erschien und sie keineswegs gnesiolutherisch geprägt war, hatte Gallus ihr gegenüber größte Bedenken, ja lehnte sie sogar entschieden ab. In typisch gnesiolutherischer Weise machte er nicht viel Unterschied zwischen evangelischen Interimisten, Adiaphoristen und katholischen Papisten.30
In Kärnten äußert sich der Einfluss von Gallus in Regensburg ebenfalls durch ein Bekenntnis. Allerdings trug dieses, im Unterschied zu jenem von Magdeburgius in Niederösterreich, deutlich offizielleren Charakter, da es im Landtag verlesen wurde: Christliche einfeltige be=||kendtnus der Euangelischen Prediger || in Kerndten/ an die Hochlöbliche Land=||stend daselbs/ vberantwort und ver=||lesen im Landtag zu Clagenfurt/ Anno/ M.D.LXVI.31 Es war offenbar von den Kärntner Landständen in Auftrag gegeben worden, um damit Vorwürfen der katholischen Partei zu begegnen, dass die Reformation eine mutwillige "spaltige" Neuerung sei.32 Die Grundlage für dieses offizielle Bekenntnis der Kärntner evangelischen Stände ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Bekenntnis des Nikolaus Gallus gewesen, das von den unterzeichneten Predigern für diesen Anlass modifiziert und neu redigiert worden war. Es dürfte bereits aus dem Jahre 1557 stammen, weil der steirische Landschaftssekretär Bartholomäus Pica damals in einem Brief an Gallus davon berichtet, mit welcher Freude er dessen für die Landstände Kärntens verfasstes Bekenntnis gelesen habe.33
Insgesamt zeigen die Bestände des Regensburger Archivs jedenfalls, dass die Donauländer und Innerösterreich bei der Formierung des Gnesioluthertums einen nicht unwesentlichen Anteil hatten.
Mit dem Jahr 1561 trat für die Gnesiolutheraner eine schwere Krise ein. Sie verloren ihr theologisches Zentrum, die Universität Jena und damit zugleich ihren wichtigsten politischen Rückhalt.34 Nach einem öffentlichen Streitgespräch wurde Flacius wegen seiner Position im Erbsündenstreit und der damit verbundenen politischen Komplikationen vom Herzog seiner Professur in Jena enthoben. Jene, die sich zu seiner Position bekannten, mussten Professuren und Pfarrstellen verlassen, ein Exodus der Anhänger des Flacius setzte ein. Mindestens 13 von [Seite: 238] ungefähr 40 dieser abgesetzten Theologen wechselten daraufhin nach Österreich auf diverse Stellen.35 Ein wichtiger Vermittler war dabei sicherlich Gallus bzw. das von ihm gepflegte Netzwerk. Flacius selbst ging bezeichnenderweise nach Regensburg, wo er bei seinem alten Mitstreiter Nikolaus Gallus unterkam. Gallus hatte schon 1554-1557 für Flacius in Regensburg Mittlerdienste und Hilfe während dessen Arbeit an dem monumentalen Geschichtswerk der Magdeburger Zenturien geleistet.36 Regensburg wurde für kurze Zeit zur wichtigsten Basis des Gnesioluthertums. Offenbar schon kurz nach dem Verlust der theologischen Fakultät in Jena hatten beide nach einem Weg gesucht, einen Ersatz für diese zu finden. So reifte 1561/62 ein Plan, der nun sehr bezeichnend ist und eindrücklich das Verhältnis zwischen Regensburg und dem Protestantismus in Österreich beleuchtet. In Regensburg sollte eine Universität gegründet werden, in der Landeshauptstadt von Kärnten Klagenfurt eine Art Filiale ("semiacademiola").37 Die Wahl fiel deshalb auf Klagenfurt, weil die Stadt wichtige politisch-rechtliche Voraussetzungen bot. Sie gehörte nämlich im Unterschied zu den anderen Landeshauptstädten dem Land selbst und war nicht direkt dem Landesherrn unterstellt. Man war in Klagenfurt gerade dabei, die Stadt zu einem protestantischen Bollwerk auszubauen. Außerdem hatten die Gnesiolutheraner in Kärnten viele Gesinnungsgenossen und alte Kontakte und erhofften sich dadurch eine Operationsbasis. Sie hatten dort, wie überhaupt in Innerösterreich, mächtige und auch vermögende Fürsprecher beim Adel. In Briefen aus Innerösterreich wurde von einigen Adeligen auch finanzielle Unterstützung für diesen Plan zugesagt. Eine Volluniversität kam deshalb nicht in Frage, weil eine öffentlich anerkannte Universität in die Kompetenz des habsburgischen Landesherren gefallen wäre, dieser hätte aber einer protestantischen Fakultät nie zugestimmt. Deshalb zielte man auf eine Art Akademie, wo man einen quasiuniversitären Lehrgang für den künftigen protestantischen akademischen Nachwuchs angeboten hätte. So eine Akademie wäre noch in die Machtkompetenz des Landes Kärnten gefallen. Diese Konstruktion macht auch klar, dass die Gnesiolutheraner von Regensburg über Klagenfurt nach Südosten wirken wollten. Klagenfurt hatte auch eine slowenische Gemeinde. Dort begann das slowenischsprachige Gebiet. Hinzuweisen ist auch darauf, dass das Kärnten nahe gelegene venezianische Herrschaftsgebiet im Blickfeld der Regensburger lag — Flacius selbst stammte ja aus Istrien. Mit dem ehemaligen Bischof von Koper/Capodistria Pier Paolo Vergerio, der dann als evangelischer herzoglicher Rat in Tübingen wirkte, stand Gallus ebenfalls in brieflichem Kontakt.38 [Seite: 239]
Der Plan war, von der gnesiolutherischen Zentrale Regensburg aus, über die gnesiolutherischen Vorposten in den innerösterreichisehen Ländern nicht nur nach Italien, sondern vor allem in die slawischsprachigen Regionen und Länder zu wirken. Nach dem Selbstverständnis der Gnesiolutheraner hatte man einen reformatorischen Kultur- und Bildungsauftrag wahrzunehmen. Diesen Kulturauftrag wollte man mit einer evangelischen Mission unter den katholischen Slawen verwirklichen. Dazu sollte in Regensburg auch eine eigene Buchdruckerei eingerichtet werden, da in Kärnten eine solche protestantische Druckerei aufgrund des landesherrlichen Verbots politisch undurchführbar war. In Regensburg hatte schon 1553-1556 der am dortigen Gymnasium tätige Stephan Konsul an der Übersetzung der reformatorischen Werke von Primus Truber in das Kroatische gearbeitet, hier vor allem an der für die burgenländischen Kroaten (damals Königreich Ungarn) gedachten Übersetzung der Postille des Johannes Brenz.39 Gallus war demnach über die slowenische Reformation immer aus erster Hand informiert wie auch über das inzwischen in Gang gekommene slawische Übersetzungswerk.
Ja es scheint sogar, dass man mit diesem Programm ein Fernziel vorbereiten wollte: die Mission unter den Osmanen, die "Türkenmission".40 Mit der Verwirklichung dieser Vision glaubte man letztendlich in fernerer Zukunft die Osmanengefahr entschärfen zu können. Man folgte dabei der alten — schon in der Antike und im Mittelalter zu belegenden — Vorstellung, dass die Christianisierung feindlicher Völker letztlich Frieden schafft, indem sie diese nichtchristlichen Völker befriedet und zu Verbündeten macht.
Noch im Jahre 1562 hat Gallus den Antrag zur Universitätsgründung beim Stadtrat in Regensburg eingereicht.41 Es ist uns jedoch weder eine Reaktion des Stadtrates in Regensburg, noch eine Reaktion der Kärntner Landstände überliefert. Der Plan versandete. Die realpolitischen Chancen waren von vornherein sehr gering gewesen. Abgesehen von den finanziellen Fragen war der Streit um die Erbsünde ein Problem des Gesamtprotestantismus geworden. Die Angelegenheit war zu sensibel und hätte eine eindeutige Parteinahme bedeutet, die weder der Stadtrat noch der Kärntner Landtag wollten — auch wenn in letzterem gnesiolutherische Adelige saßen. Trotzdem ist der Plan als solcher bemerkenswert und charakteristisch für das Verhältnis zwischen Regensburg und den Regionen des heutigen Österreichs, sowie Sloweniens, aber auch typisch für die Evangelisierungsbemühungen der Gnesiolutheraner. Zu ihrem Kreis zählte auch der Kärntner Adelige Hans Ungnad von Sonneck, der in ihrem Umfeld als Lichtgestalt galt, weil er sein Vermögen für die berühmte slawische Übersetzungsanstalt in Urach in Württemberg einsetzte. Es scheint, dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts solche Bemühungen nur bei den Gnesiolutheranern zu beobachten sind. [Seite: 240]
Ein wichtiges Instrument der gnesiolutherischen Politik war ganz allgemein die Vermittlung von Predigern auf Pfarrstellen. Auf diese Weise hat Gallus vielleicht den stärksten Einfluss ausgeübt. 1567 wandten sich z.B. die Landstände des Herzogtums Krain an Gallus mit der Bitte, ihnen einen geeigneten Nachfolger für den schwer erkrankten Sebastian Krell zu vermitteln.42 Sebastian Krell hatte Flacius bei seiner Flucht nach Regensburg begleitet, dann an der Laibacher Landschaftsschule gewirkt und war schließlich Trubers Nachfolger als Superintendent in Laibach geworden. Neben Truber und Bohoric war er der bedeutendste Sprachformer des Slowenischen, der eines seiner Hauptwerke, sein "Handtbüchlein", mit dem "Catechismus von fünferlei sprachen" auch in Regensburg drucken ließ.43 Ein deutlicher Hinweis für diese Rolle Regensburgs als Personalvermittler ist der Umstand, dass nicht wenige Prediger aus Regensburg selbst kamen, die zum Teil prestigeträchtige Posten besetzten wie Hieronymus Haubold, Hieronymus Peristerius, Benedikt Steiner u.a.44 In diesem Zusammenhang muss auf einen weiteren wichtigen Personaltransfer von Regensburg nach Österreich eingegangen werden. 1574 übernahmen Regensburger Pfarrer das gerade von Maximilian ertrotzte, neu eingerichtete prestigeträchtige Wiener Landhausministerium. Allerdings hatte es in Regensburg zuvor einen Umsturz im Kirchenministerium gegeben. Der Superintendent Josua Opitz und die meisten Pfarrer von Regensburg waren während des Erbsündenstreites zu Flacianern und deswegen abgesetzt worden. Nach einigen Diskussionen innerhalb der niederösterreichischen Stände wurde Opitz zum ersten Pfarrer des Wiener Landhausministeriums ernannt.45 Die Militanz von Opitz und seiner (nicht aus Regensburg stammenden) Kollegen Tettelbach und Becher, die ebenfalls Flacianer waren, hat allerdings der Reformation in Wien und Österreich letztlich auch geschadet und nachgewiesenermaßen Unwillen innerhalb der Evangelischen erzeugt.46
Wolfgang Viereckel, der damals ebenfalls Regensburg verlassen musste, kam in Niederösterreich auf einer Pfarre unter.47 Der bedeutende Regensburger Johann Mühlberger wurde Anfang des 17. Jahrhunderts Pfarrer von Hernals und damit praktisch zum ersten Pfarrer von Wien.48
Weitaus häufiger wurde Regensburg aber in einer anderen Angelegenheit in Anspruch genommen. Der österreichische Protestantismus brachte ab ca. 1560 immer häufiger eigenen Theologennachwuchs hervor, der allerdings auswärtig ordiniert werden musste. Oft wurden auch junge Absolventen an den protestantischen Fakultäten im Reich von österreichischen Adeligen und Städten für Pfarr- und Lehrerstellen angeworben. Zur Übernahme einer Pfarrstelle bedurfte es aber der Ordination mit vorangegangenem Examen. Die Ordination musste für nahezu alle Kandidaten in einem lutherischen Kirchenwesen außerhalb der [Seite: 241] habsburgischen Erblande erfolgen. Die Pfarramtskandidaten wurden dazu von ihrem Patronatsherrn an eine der Universitäten oder aber auch nach Regensburg geschickt.49 Die Prüfung durch ein offizielles lutherisches Konsistorium war seit der Legalisierung des Protestantismus 1568 bzw. 1572 auch aus politischen Gründen wichtig, um gegenüber dem Landesherrn in Österreich die lutherische Rechtgläubigkeit nachzuweisen. Allein Gallus hat während seiner Amtszeit etwa 50 Kandidaten in der Neupfarrkirche für Pfarrstellen in Österreich geprüft und nach Probepredigten ordiniert.50 Bei einer katholischen Visitation in Niederösterreich im Jahre 1566 gaben Pfarrer bereits an, von Gallus in Regensburg ordiniert worden zu sein.51 Nach seinem Tod sind von 1574 bis 1624 noch einmal über 130 Ordinationen in einem dafür eigens angelegten Verzeichnis festgehalten worden: "Lista der Ordinanden so auff vorgehend Examen dem Buch der Concordien sich unterschrieben, und an andere orth vociert worden."52
Insgesamt beläuft sich die Zahl dieser Ordinationen auf Pfarren in Österreich auf fast 200. Regensburg war allerdings nicht der einzige Ort, wo die österreichischen Länder ihre Kandidaten ordinieren ließen. Die Quellenlage ist jedoch schwierig, da die Überlieferung fragmentarisch ist. Die mir bisher bekannt gewordenen Vergleichszahlen sind trotz aller Lücken doch lehrreich. So haben zwischen 1578 und 1616 in Pfalz-Neuburg 16 Ordinationen stattgefunden.53 In einem Konkordienbuch von 1580 der Universitäts- und Landesbibliothek in Jena sind handschriftlich für den Zeitraum von 1590 bis 1607 ebenfalls 16 Kandidaten vermerkt.54
Sehr gut dokumentiert ist im Unterschied dazu das Zentrum des Luthertums Wittenberg.55 Zur Zeit von Nikolaus Gallus gab es in Wittenberg im selben Zeitraum ca. 30 Ordinationen für den Raum des heutigen Österreich, also um ca. 20 weniger als in Regensburg. Insgesamt ordinierte man in Wittenberg zwischen 1539 und 1620 an die 180 Pfarramtskandidaten für die habsburgischen Länder. D.h. Regensburg übertraf mit seinen Ordinationen sogar Wittenberg. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis, das die Rolle Regensburgs eindrucksvoll illustriert und zugleich auch ein Indiz für die Stärke des Gnesioluthertums in Österreich in diesem Zeitraum ist, auch wenn gewiss nicht alle Ordinierten gnesiolutherisch gesinnt waren. Neben der geographischen Nähe waren es die in den Zeiten von Gallus begründeten langjährigen und eingespielten Kontakte, die Regensburg mit Wittenberg zu den wichtigsten Anlaufstellen für solche [Seite: 242] Ordinationen werden ließen. Die späteren Ordinationen belegen das Fortbestehen der Verbindungen Regensburgs nach Österreich über den Tod von Gallus hinaus.
Genau diese alten Verbindungen dürften neben der geographischen Nähe und den Handelskontakten auch ausschlaggebend gewesen sein, dass während der Gegenreformation viele Emigranten aus den habsburgischen Ländern Regensburg zu ihrem Zufluchtsort gewählt haben. Regensburg zählte mit Nürnberg, aber auch Ulm, zu den Hauptzentren der bürgerlichen Emigration aus Österreich. Aber auch die Namen der bedeutendsten Adelsgeschlechter begegnen uns hier. Werner Wilhelm Schnabel hat diese Emigrationen in die oberdeutschen Reichsstädte in eindrucksvoller Weise analysiert und dargestellt.56 Regensburg hat dabei offenbar besonders von den in der Regel vermögenden Emigranten aus Österreich profitiert. Den Hauptanteil bildeten Emigranten aus Oberösterreich, die zumeist aus den Städten Linz, Steyr und Wels stammten (mindestens192 Personen) und in mehreren Wellen hierher zogen.57 Zum Dank für die Aufnahme so vieler Exulanten spendete die oberösterreichische "Ritter- und Landschaft" übrigens 1627 für den Bau der Dreieinigkeitskirche 600 Gulden.58 Die Hauptwelle an Einwanderern ist in den Jahren 1626-1629 am Höhepunkt der Gegenreformation in Oberösterreich bzw. den Donauländern zu beobachten. Es kamen aber auch Emigranten aus der Steiermark und Kärnten in die Reichsstadt an der Donau.
Für Prediger und Lehrer scheint Regensburg ohnehin die erste Adresse gewesen zu sein. Manche von ihnen machten in Regensburg selbst Karriere. Der Linzer Landhausprediger M. Johann Caementarius wurde Superintendent von Regensburg. Zu erinnern ist selbstverständlich an Johannes Kepler, der zuletzt in den Diensten des Landes Oberösterreich gestanden war und als Emigrant in Regensburg starb. An weiteren Predigern aus Österreich, die dann auf Stellen in Regensburg unterkamen, sind der ehemalige Pfarrer von Gmunden Daniel Tanner und die beiden Matthäus Schmoll (Vater und Sohn) zu nennen. Hinzuweisen ist aber auch auf [Seite: 243] jene, die sich zwar in Regensburg niederließen, aber hier wegen ihrer großen Zahl keine neue Anstellung finden konnten, wie die ehemaligen "Wiener" Prediger von Hernals (Johannes Mühlberger, Elias Ursinus).59 Für viele ausgewiesene Prediger war Regensburg eine erste Zwischenstation, um dann anderswohin weiter zu ziehen, wie z.B. der ehemalige Superintendent von Innerösterreich Jeremias Homberger.
Ein eigenes Kapitel stellen die von Karl Schwämmlein untersuchten musikalischen Beziehungen zwischen Regensburg und Österreich dar, die gerade in den Zeiten der Emigration besonders sichtbar wurden.60 Herausragend sind hier die Komponisten Paul Homberger und Johannes Brassicanus, die aus Regensburg stammten, in Österreich wirkten und als Emigranten wieder nach Regensburg zurückkehrten.
Nicht wenige prominente Namen, die in der Geschichte Regensburgs ihren festen Platz haben, sind Namen von Emigrantenfamilien aus den österreichischen Ländern, deren Angehörige schnell Karriere gemacht haben bzw. in wichtige Positionen in der Stadt aufstiegen, wie die Hueber, Händel, Löschenkohl, Gumpelzhaimer. Schon die zweite Generation der Emigranten stellte Ratsherren.61 Die vermögenderen Familien haben als fromme Protestanten als Stifter in Regensburg ihre Spuren hinterlassen. Hinzuweisen ist auf die Paramentenstiftung von Anna Juliana Regina von Stubenberg (1661-1726) für die Neupfarrkirche und die Pfarrkirche von St. Oswald 1716 und 1717 sowie auch auf entsprechende vasa sacra in den Regensburger Kirchen.
Für die in den Donauländern und Innerösterreich Zurückgebliebenen blieb nach der Gegenreformation — so wie schon im 16. Jahrhundert den Protestanten in Tirol und Salzburg — nur der Gang in die Illegalität. So blieben in bestimmten Landstrichen in Salzburg (Gebirgsregionen), Tirol, Oberösterreich, Kärnten und Steiermark mehr oder weniger im Untergrund und im Verborgenen weiter evangelisches Leben und lutherische Frömmigkeit lebendig. Diese Periode in der Geschichte des österreichischen Protestantismus dauerte bis zum Toleranzpatent 1781. Es handelte sich im Wesentlichen um eine häusliche Andacht, um ein "Privatexercitium", das aber in Zeiten der Bedrängnis und Verfolgung als Bekenntnisbewegung auch an die Öffentlichkeit treten konnte. Die dramatischen Höhepunkte solcher Entwicklungen bilden die Ausweisungen und Emigrationen bzw. die sogenannten Transmigrationen, d.h. Zwangsumsiedlungen nach Siebenbürgen, die oft Deportationen [Seite: 244] gleichkamen. Die Emigrationen setzten mit jenen der Deferegger und Dürnberger 1684 ein (über 1000 Personen),62 und fanden ihren Höhepunkt in der großen Salzburger Emigration von 1731/32 (ca. 22.000 Personen).63 Die Transmigrationen wurden in den Jahren 1734-1737, 1752-1757 und 1775-1776 in mehreren Wellen durchgeführt. Sie betrafen Evangelische aus Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark.64 Insbesondere die große Salzburger Emigration hat die europäische evangelische Öffentlichkeit als ein Medienereignis aufgewühlt.
Der gängige und durchaus berechtigte Begriff "Geheimprotestantismus" ist dabei insofern zu relativieren, als dieses evangelische Leben keineswegs völlig geheim bleiben konnte und in der Bevölkerung meistens wohl so etwas wie ein offenes Geheimnis war.65 Die Evangelischen wohnten auch keineswegs immer in abgelegenen Gegenden im Gebirge, sondern häufig entlang der internationalen Verkehrswege im Talboden. Dies aufzuzeigen ist in unserem [Seite: 245] Zusammenhang von Bedeutung, denn es ist zu betonen, dass die Geheimprotestanten keineswegs in der Isolation lebten. Der — trotz aller Gegenmaßnahmen — immer funktionierende Nachschub an evangelischer frommer Erbauungsliteratur ist bereits ein deutlicher Hinweis darauf.66 Diese Bücher wurden vor allem in Nürnberg, aber auch in Regensburg besorgt. Es ist davon auszugehen, dass Regensburg auch einer jener Orte war, der von Geheimprotestanten hin und wieder besucht wurde, um an einem regulären evangelischen Gottesdienst mit Abendmahlsfeier teilnehmen zu können. Regensburg war in dieser Zeit aber auch aus einem anderen Grund Ziel der österreichischen Geheimprotestanten: Es war Sitz des Corpus Evangelicorum geworden. Das Corpus Evangelicorum war die regelmäßig alle 14 Tage im Regensburger Rathaus zusammentretende Versammlung der Gesandten der evangelischen Territorien. Dieses 1653 konstituierte Gremium hatte über die korrekte Durchführung der Religionsbestimmungen des Westfälischen Friedens von 1648 zu wachen, d.h. über die Regelungen bezüglich des Zusammenlebens der Konfessionen bis hin zum Extremfall der im Frieden vorgesehenen legalen Emigration oder Ausweisung und alle damit zusammenhängenden Fragen.67 Die erste wirklich große Bewährungsprobe für das Corpus Evangelicorum stellte die Ausweisung der Deferegger dar. Im Zusammenhang dieser Ausweisung hören wir das erste Mal, dass Abgesandte aus dem Defereggental beim Corpus Evangelicorum in Regensburg vorstellig geworden waren, über ihre rechtlichen Möglichkeiten Erkundigungen eingeholt bzw. sich beraten hatten lassen, um dann zu Hause Bericht zu erstatten. Anlässlich dieser Ausweisung wurde offenbar vor Ort in Regensburg von einem Unbekannten eine Auswahl der einschlägigen Akten des Corpus Evangelicorum mit anderen Dokumenten zusammengestellt und publiziert.68 Regensburg als Sitz des Corpus Evangelicorum, als der für sie und ihre Probleme mit der katholischen Obrigkeit zuständigen Reichsbehörde, war den Geheimprotestanten in allen betreffenden Regionen nachweislich bekannt, sie besaßen sogar Exemplare des Westfälischen Friedens. Im Vorfeld praktisch jeder Ausweisung und Transmigration sind intensive Kontakte und Gesandtschaften nach Regensburg belegt. Die einschlägigen Fälle häufen sich ab der Ausweisung der Deferegger, um dann mit der großen Salzburger Emigration 1731/32 ihren Höhepunkt zu erreichen. Zur Zeit der Zuspitzung der Lage in den Salzburger Gebirgsregionen hat zwischen dem Corpus Evangelicorum in Regensburg und den betroffenen Landstrichen ein äußerst intensiver Nachrichtenaustausch stattgefunden. Als beim Corpus Evangelicorum bekannt wurde, dass in Salzburg über 20 000 Personen bereit waren sogar zu emigrieren, wenn ihnen nicht evangelische Pfarrer zugestanden würden, muss in der Stadt wohl nicht nur das Corpus Evangelicorum in helle Aufregung versetzt worden sein.69 [Seite: 246]
Aufschlussreich sind die Ereignisse während des Durchzugs bzw. Aufenthalts der Salzburger Emigranten in Regensburg.70 Es war die Gruppe der sogenannten Dürnberger bei Hallein, die den Weg über Regensburg nahm bzw. nehmen musste. Insgesamt 740 Personen kamen am 13./14. Dezember 1732 in der Stadt an. Die Salzburger hatten zu diesem Zeitpunkt bereits in der protestantischen europäischen Welt den Ruf von Glaubenshelden. Sie wurden während ihres Zuges in der Regel von einer Welle der Hilfsbereitschaft getragen. Die Aufnahme der Salzburger, denen als Glaubensflüchtlinge oft auch große Verehrung entgegengebracht wurde, war in Regensburg bestens vorbereitet und organisiert. 20 Wagen wurden den Emigranten entgegengesandt. Regensburger, die Salzburger bei sich beherbergen wollten, hatten sich zuvor in eine Liste eintragen lassen, auch Gesandte der evangelischen Territorien waren darunter, die darüber hinaus auch für neue Kleidung und evangelische Erbauungs- und Andachtsliteratur sorgten. Während ihres Aufenthaltes wurden für die Salzburger in Regensburg von Dienstag bis Donnerstag um 8 Uhr morgens Predigtgottesdienste und um 14 Uhr Katechismusstunden gehalten, in denen die gesamte Glaubenslehre durchgenommen wurde. Zur Verwunderung aller erwiesen sich die Salzburger als sehr beschlagen. Die gesamten Vorgänge erzeugten nach den zeitgenössischen Berichten bei den frommen Regensburgern "Freude und Erweckung".71 Ähnlich wie in den anderen evangelischen Städten in Deutschland, durch die Salzburger zogen, waren also die Salzburger auch in Regensburg für die frommen Gemüter bzw. die Pietisten der Anlass zur Erbauung, ja sie wurden in diesen Kreisen als Vorbilder für Glaubensfestigkeit propagiert.
In der damaligen erhitzten Atmosphäre kam es aber auch zu Misstönen und konfessionell motivierten Konflikten innerhalb der Stadt. Durch die Aufsehen erregenden Vorgänge war der Katholizismus in der protestantischen Welt und in aufgeklärten Kreisen in Misskredit geraten, auch gemäßigt katholische Kreise zeigten ihren Unwillen. In dieser Situation hat im Regensburger Dom ein Jesuit in seinen Predigten die Salzburger Emigranten offenbar als Aufrührer und Rebellen bezeichnet. Er peitschte in einem gleichsam rituellen Akt auf der Kanzel öffentlich die in seinen Augen häretischen lutherischen Bücher aus. Vielleicht handelte es sich bei diesen Büchern um die ersten gerade publizierten Flugschriften über die Salzburger Emigration, die ab nun in Massen erschienen und in denen die katholische Kirche natürlich schlecht wegkam, zum Teil auch verunglimpft wurde. Den evangelischen Gesandten, die sich auch als Privatpersonen öffentlich für die Salzburger eingesetzt hatten, wurde vom jesuitischen Prediger die Verletzung ihrer Neutralitätspflicht vorgeworfen. Es wird aber auch berichtet, dass der Bischof von Passau der Gruppe bei ihrer Durchreise durch Passau zur Linderung der Not ebenfalls Geld gespendet hatte. Am 7. 1. 1733 zog der Treck weiter. Die von [Seite: 247] der Stadt Regensburg beherbergten Dürnberger waren inzwischen von Holland angeworben worden, wo es ihnen allerdings in der Mehrzahl nicht gut ergangen ist.72 Ihr Aufenthalt hatte der Stadt 3 465 Gulden gekostet. Diese Kosten wurden einerseits durch die Spenden der Regensburger selbst und durch die aus ganz Europa eingehenden Spendengelder aus der eigens dafür in Regensburg eingerichteten Emigrationskasse gedeckt.73 Nur fünf Monate später im Mai beherbergte und verpflegte die Stadt übrigens die evangelischen Berchtesgadener, die zugleich mit den Salzburgern ausgewiesen worden waren. Diesmal handelte es sich um über 1000 Personen.74
Für unsere Fragestellung sehr interessant ist der Umstand, dass während des Aufenthaltes der Salzburger in Regensburg die Stadt beim Kaiser verklagt wurde. Regensburger Bürger bzw. Einwohner Regensburgs wurden beschuldigt, dass sie es gewesen seien, die die Salzburger in ihrer Heimat mit vielen Briefen aufgewiegelt und zum Abfall von der katholischen Religion verleitet hätten.75 Das Bemerkenswerte an diesem Vorwurf ist, dass er sich nicht etwa allein gegen die evangelischen Gesandten bzw. das Corpus Evangelicorum richtet, sondern gegen die Bürger der Stadt selbst. Auch ein Pfarrer der Stadt wird der Agitation beschuldigt. Historisch gesehen trifft der erhobene Vorwurf natürlich so nicht zu, die Geheimprotestanten in den Salzburger Gebirgsregionen standen in direkter Kontinuität mit der Reformation des 16. Jahrhunderts, sie hatten ihre religiösen Überzeugungen von ihren Vorfahren vererbt bekommen. Diese Anklage könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass es im evangelischen Regensburg Bürger gab, die Kontakte ins Salzburgische unterhielten oder aktiven Anteil am Schicksal der dortigen Glaubensgenossen nahmen, und die gewiss auch die Entwicklungen in den anderen österreichischen Ländern mit Aufmerksamkeit verfolgten. In der betreffenden Anklageschrift heißt es z.B., dass in Salzburg Briefe aus Regensburg verlesen würden "nicht anders, als wenn selbige ein Theil des Evangelii wären"76 und es bleibt die Frage, ob dies nur offizielle Schreiben des Corpus Evangelicorum waren. Die Stadt Regensburg hat die Vorwürfe jedenfalls von sich gewiesen. Personen, die in der betreffenden Anklageschrift namentlich verdächtigt wurden, wurden von der Stadt zwar verhört, die Sache hat man insgesamt aber in die Länge gezogen und im Sande verlaufen lassen.77
Mit dieser Episode werden wir — nach dem heutigen Forschungsstand — nachdrücklich auf die große Unbekannte für diesen Zeitraum hingewiesen: Wir wiesen eigentlich kaum etwas über das wahre Ausmaß der Kontakte der in Regensburg ansässigen Emigranten und ihrer Nachkommen in ihre alte Heimat. Der Zustrom von Emigranten aus Österreich riss seit den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts nie ab und mit ihnen auch nicht die Kontakte und die Informationen aus erster Hand. Es bleibt die Frage zu prüfen, ob nicht auch die nachfolgenden Generationen der Emigrantenfamilien zur Zeit der Ausweisungen noch solche Kontakte [Seite: 248] pflegten bzw. ob sie ein besonderes Verantwortungsgefühl gegenüber dem Schicksal der Geheimprotestanten besaßen, das bei ihnen oder auch bei anderen frommen Regensburgern vielleicht auch durch eine pietistisch gefärbte "Erweckung" neu angefacht wurde. Es wäre zu untersuchen, ob nicht entsprechende Kreise in der Stadt existierten, die z.B. den evangelischen Abgesandten aus den österreichischen Alpenregionen materielle, rechtliche oder logistische Unterstützung angedeihen ließen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit muss aber die Regensburger evangelische Gemeinde durch die seit dem späten 17. Jahrhundert bis zum Toleranzpatent von 1781 immer wieder in die Stadt kommenden bäuerlichen Abgesandten aus den österreichischen Ländern, durch Buchträger bzw. Bücherschmuggler usw. und auch durch die Handelskontakte der Stadt immer über die konfessionelle Lage im Alpenraum unterrichtet gewesen sein.
Angesichts dieser beeindruckenden Geschichte an Beziehungen ist es nur natürlich, dass die Verbindungen auch nach dem Toleranzpatent nicht plötzlich abgerissen sind. So haben die nach dem Toleranzpatent neu gegründeten oberösterreichischen Gemeinden Scharten, Thening, Wels u.a. das Regensburger Gesangbuch übernommen und auch sonst um mancherlei Unterstützung in Regensburg nachgefragt.78 Doch die bedeutende Rolle Regensburgs in der Geschichte des österreichischen Protestantismus ging langsam zu Ende. Ein schönes Symbol für Beziehungen aus dieser Zeit zwischen Regensburg und dem evangelischen Österreich soll hier am Ende stehen. Zur Einweihung der evangelischen Kirche in Linz im Jahre 1844 spendete die Regensburger Gemeinde der Linzer Schwestergemeinde einen schönen frühhistoristischen Abendmahlskelch mit der Inschrift: "Die Gemeinde Regensburg der Schwestergemeinde in Linz zum Andenken an den 20. Oct. 1844."79
In der Zeit der Reformation war die Regensburger Pfarrergasse die Zentrale eines Kommunikationsnetzes für die Gnesiolutheraner im Erzstift Salzburg und im habsburgischen Raum. In gewisser Weise erfüllte damals Regensburg eine Art Mittlerfunktion zwischen dem österreichischen Gnesioluthertum und jenem im Reich. Diese Kontakte waren intensiv und dauerten auch nach der Zeit des Gnesioluthertums bis in die Zeit der Gegenreformation an. Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Protestantismus und das Verantwortungsgefühl der Regensburger evangelischen Kirchengemeinde für das evangelische Kirchenwesen in Österreich werden an den in Regensburg vorgenommenen Ordinationen der zukünftigen Pfarrer besonders anschaulich. Im 17. Jahrhundert war Regensburg nicht zuletzt auch deshalb ein wichtiger Zielort von Emigrantenfamilien mit Fachkenntnissen und Unternehmergeist. Sie [Seite: 249] wurden schnell und geräuschlos integriert, wobei die Stadt davon in mehrfacher Hinsicht profitierte. In der Zeit des Geheimprotestantismus war für die Evangelischen aus Österreich Regensburg der Ort, wo man Rechtsbeistand und auch sonst Hilfe erwarten konnte.
Die Beziehungen zwischen der Reichsstadt Regensburg und dem evangelischen Österreich im geschilderten Zeitraum sind beeindruckend. Sie allein würden es rechtfertigen, von besonderen geschichtlichen Beziehungen zwischen Regensburg und Österreich zu sprechen.