Der Begriff und das Wesen des Rechts folgt aus dem Begriff der Gesellschaft: ubi societas, ibi ius. Das Recht ist überall gegenwärtig, wo Menschen beisammen wohnen. Die durch das gesellschaftliche Zusammensein bedingten Verhältnisse und Beziehungen der Einzelnen bedürfen der Regelung, damit jeder wisse, was er tun dürfe und was er unterlassen müsse.
Das Recht ist anfänglich das schlichte Complement der Sitte, das nur durch die tatsächliche Übung zur Anerkennung zu gelangen vermag. Die völlige Trennung des Rechts von der in den Gebräuchen sich darstellenden Sitte erfolgt erst, als in der Form von Gesetzen ausgesprochene Rechtsregeln zustande kommen, die unbedingte Geltung besitzen, unabhängig von der Übung und der zugrunde liegenden Rechtsüberzeugung; d. h. als die gesetzgebende Gewalt, als ein besonderer Factor des gesellschaftlichen Zusammenseins, die Aufgabe der Rechtsbildung übernimmt.N.3.1.1
Das Recht ist also anfänglich Gewohnheitsrecht, das Recht der germanischen Völker des frühen Mittelalters im besonderen Stammesgewohnheitsrecht. Bei den germanischen Völkern war nämlich der Stamm der Träger der Rechtsbildung: das Recht beruhte auf der Stammeszugehörigkeit. Auch nach der dauernden [Seite 306] Niederlassung blieb das Recht Stammesrecht und gestaltete sich nicht zum Rechte des Territoriums. Dies brachte das mittelalterliche Princip der persönlichen Rechte hervor. Das Recht richtet sich nach der Geburt und Abstammung des Einzelnen, nicht nach dem Territorium, worin er sich aufhält.N.3.1.2 Man wird zu einem Rechte geboren. Des Stammesrechts ist nur derjenige teilhaftig, der vermöge seiner Abstammung dem Stamme angehört. Der Franke lebt nach fränkischem, der Baire nach bairischem, der Sachse nach sächsischem Recht, wo er sich immer befinden mag. Das Recht wohnt in der Person und wandert mit ihr.
Das jüngere Princip der territorialen Rechte beginnt in den Staaten des Westens erst vom X. Jahrhundert an (abgesehen von den Kapitularien — Reichsgesetzen — der fränkischen Könige) allmälig zur Geltung zu gelangen, ohne jedoch das Princip der Stammesrechte gänzlich verdrängen zu können.N.3
Aber auch die Herrschaft des Territorialprinzips vermochte nicht in den westeuropäischen Staaten eine einheitliche Rechtsordnung, die Einheit des Rechts zu begründen. Im Gegenteil, die Ausbildung des Lehnsstaates bewirkte eine noch grössere Zerklüftung der Rechtsordnung. Indem die feudalen Grossen in ihren Territorien die Landeshoheit erwerben, spaltet sich das Staatsgebiet in ebensoviele Sondergebiete, in welchen die Landesherrlichkeit (Landeshoheit), Fundament und Quelle je einer besonderen Rechtsordnung wird. Ebenso leben die nach und nach von der grund- und landesherrlichen Gewalt befreiten Städte vermöge ihrer Autonomie ein eigenes Rechtsleben. Wir begegnen in den mittelalterlichen Staaten nirgends einem einheitlichen, im gesammten Staatsgebiet geltenden Reichsrecht oder nationalen Recht. Die Rechtsbildung bewegt sich zum allergrössten Teil in den Bahnen der particulären Rechtsentwicklung. Neben den Stammes-, bezw. Land-, Stadt- und Hofrechten besteht entweder überhaupt kein Reichsrecht, oder es besitzt nur sehr untergeordnete Bedeutung. Die Ursache hiervon ist einerseits, dass in den mittelalterlichen Staaten kein nationaler [Seite 307] Gemeingeist, kein allumfassendes Nationalgefühl vorhanden war, das ein einheitliches Gewohnheitsrecht aller Staatsangehörigen hervorgebracht hätte; anderseits gab es keine kraftvolle Centralgewalt, welche vermittelst der Reichsgesetzgebung und -Gerichtsbarkeit ein nationales (Reichs-)Recht begründet hätte. Die Rechtsgewohnheit, der wirksamste Factor der mittelalterlichen Rechtsbildung ist — England ausgenommen — gleichfalls vorwiegend an der Bildung der particularen Rechte: der Stammes- (Land-), Stadt- und Hofrechte tätig.
Im Gegensatze zur particulären Richtung des westeuropäischen Rechtslebens wird das Rechtsleben Ungarns durch die Tendenz der Einheitlichkeit charakterisiert. Der kräftige Gemeingeist und öffentlich-rechtliche Sinn des ungarischen Volkes verhinderte die Feudalisierung des ungarischen Staatswesens und die Spaltung des Staatsgebietes in Lehnsprovinzen. Die Rechtsbildung bewegte sich von Anbeginn in der Richtung des einheitlichen Landes(Reichs-)rechts, und erlangte die particuläre Rechtsentwicklung nur geringe Bedeutung.
In Ungarn bestand von Anbeginn ein Landesrecht, das im gesammten Staatsgebiet Geltung besass. Das treibende Element dieses einheitlichen Rechts war der nationale Gemeingeist, die gemeinsame Rechtsüberzeugung. Die Bildung des ungarischen Landesrechts beginnt mit der Landnahme. Die ungarischen Eroberer nahmen dieses Land nicht einfach in Besitz, sondern gründeten an den Ufern der vier Flüsse eine neue Gesellschaft und einen Staat und schufen demgemäss eine ihren nationalen Eigentümlichkeiten entsprechende neue Rechtsordnung.
Die politische Selbständigkeit der sieben (oder acht) Stämme, welche vor der Vereinigung zur Nation bestanden hatte, beeinflusste die nach der Landnahme einsetzende Rechtsbildung in keinerlei Weise. Wie die ungarische Nation seit der Vereinigung eine öffentlich-rechtliche Einheit, ein staatliches Ganze bildet, so erscheint auch das ungarische Recht seit der Landnahme als ein einheitliches Landesrecht. Der ehemalige Stammesverband gab bei den Ungarn, anders, als in den germanischen Staaten, keine Grundlage particulärer Rechtsbildungen ab. Dasselbe gilt bezüglich der im Lande vorgefundenen Bevölkerung. Während in den Staatengründungen der germanischen Völker das römische Recht als das persönliche Recht der [Seite 308] unterworfenen älteren Bevölkerung auch ferner seine Geltung behielt, dem gegenüber das Recht der germanischen Eroberer gleichfalls nur als persönliches Recht, Stammesrecht erschien, suchen wir in Ungarn vergeblich nach den Spuren eines solchen rechtlichen Dualismus; es findet sich keine Spur, dass die unterworfenen Volkselemente, seien es Germanen oder Slaven, im Gegensätze zu den ungarischen Eroberern unter der Herrschaft besonderer Stammesrechte gestanden hätten.N.3.1.4 Ein einheitliches Recht, das der Rechtsüberzeugung des staatsbildenden ungarischen Volkes entsprossen war, herrschte im Gesammtgebiet des ungarischen Staates.
Das Recht wurde anfänglich auch in Ungarn nicht von der organisierten Staatsgewalt geschaffen: sondern es war die Schöpfung der im Volke lebendigen Rechtsüberzeugung, die nur vermittelst der Übung sich offenbart und festsetzt. Das beweist der Ursprung des ungarischen Wortes jog (d. h. Recht), das von dem Begriffe des Guten, Richtigen, Wahren ausgeht. Jog stammt von jó, d. i. gut. Jog ist gleich jobb, d. h. das Bessere.N.3.1.5 Gut und richtig ist, was die Zustimmung derjenigen findet, mit denen wir leben. Wer in der Weise vorgeht, dass er den Beifall der anderen erwirbt, handelt recht, d. h. nach dem Recht (Jobb, jog).N.3.1.6 Im Bewusstsein des ungarischen Volkes identificierte sich der Begriff des Rechts durchaus mit dem Gerechtigkeitsbegriffe, ja er identificiert sich noch heute. Die unteren [Seite 309] Volksklassen sagen nicht: nekem jogom van (ich habe recht), sondern: nekem igazam van (eigentlich: ich habe das Wahre oder das Gerechte) u. s. w.
Das ursprüngliche Gewohnheitsrecht des ungarischen Volkes ist unserer Kenntnis entzogen. Es wurde nicht wie das Gewohnheitsrecht der germanischen Völker, nach der dauernden Niederlassung niedergeschrieben. Auch das Gewohnheitsrecht der ersten Jahrhunderte des Königtums ist uns nur sehr wenig — aus den erhaltenen Urkunden — bekannt: das Zeitalter der Árpáden hat uns keine schriftliche Aufzeichnung des Landesgewohnheitsrechts, namentlich kein Rechtsbuch, dergleichen im Westen um diese Zeit zu so grosser Bedeutung gelangten, hinterlassen. Dass jedoch die Gewohnheit, wie bei den mittelalterlichen Völkern überhaupt, der wichtigste Factor der Rechtsbildung war, bezeugen die Urkunden, welche Schritt auf Tritt die alte Gewohnheit des Landes, die antiqua regni consuetudo erwähnen und anziehen.
Das ursprüngliche Recht der Ungarn machte nach der Errichtung des Königtums bedeutende Veränderungen durch. Ungarn trat dank der apostolischen Tätigkeit Stefans des Heiligen in die Reihe der westlichen Staaten. Die notwendige Folge war, dass die factischen Lebensverhältnisse und die sociale Ordnung sich nach Massgabe der Forderungen der westlichen Kultur veränderten, was natürlich auf die weitere Entwicklung des ungarischen Rechtes einwirken musste. Das ungarische Recht konnte sich den leitenden europäischen Rechtsgedanken und Einrichtungen nicht länger verschliessen; es huldigte ihnen fortab, ohne aber darum seinen nationalen Charakter und seine Eigentümlichkeit abzustreifen.
Das grosse Werk der Neugestaltung vollbrachte auf dem Gebiete des Rechtslebens, ebenso wie auf dem Gebiete der staatlichen Organisation, hauptsächlich die königliche Gewalt. Der König nimmt als Quelle der richterlichen Gewalt und Hüter des inneren Friedens nach dem Beispiele der westeuropäischen Herrscher das Recht der Satzung in Anspruch. Damit tritt neben das vorher alleinherrschende Gewohnheitsrecht das in den königlichen Decreten begriffene Gesetzesrecht (gesatzte Recht), als integrierender Bestandteil des Landesrechts.
Doch blieb trotz der königlichen Gesetzgebung die Gewohnheit (consuetudo) die oberste Quelle des Rechts. Nicht bloss [Seite 310] während der Árpádenzeit, auch nachher das ganze Mittelalter hindurch konnte nach der Anschauung des ungarischen Volkes einzig das Gewohnheitsrecht Rechtsgebote von dauernder Geltung hervorbringen. Die von der königlichen Gewalt ausgehende Rechtsbildung, die königlichen Decrete vermochten allein kraft der nationalen Rechtsüberzeugung, vermittelst Rechtsgewohnheit der Landesbewohner den Charakter der Beständigkeit zu gewinnen und sich als Recht, d. h. als von der königlichen Gewalt unabhängige, dauernde Regeln mit allgemein bindender Kraft zu behaupten. Es war das ganze Mittelalter hindurch auch in Ungarn eine fundamentale Tatsache, ein Axiom des Rechtslebens, dass das Recht nicht von der Gewalt geschaffen werden, sondern sich allein vermöge der Rechtsüberzeugung des Volkes, bezw. der Rechtsübung, worin jene Überzeugung zum Ausdrucke gelange, bilden könne.N.3.1.7 Darum wird auch das durch königliche Verordnung begründete Rechtsgebot als consuetudo bezeichnet.N.3.1.8 Wol ist der König befugt, Rechtsregeln zu schaffen und auf diese Weise die Lücken des Rechts auszufüllen und für die Erhaltung des Friedens zu sorgen; aber sein Nachfolger ist nicht verpflichtet die Decrete seines Vorgängers in Kraft zu lassen, er darf sie abändern und aufheben. Die in den königlichen Decreten enthaltenen Rechtsregeln erlangen erst dadurch dauernden Bestand, sie werden erst dadurch wirkliches Recht, dass die Rechtsüberzeugung der Nation sie gutheisst und durch lange Übung sanctionirt; doch beruht nun die Rechtskraft nicht mehr auf der königlichen Verordnung, sondern eben der beständigen Übung, der Gewohnheit.N.3.1.9
Dies Axiom findet sich bereits bei dem grossen Codificator des mittelalterlichen ungarischen Rechts, Stefan Werbőczi, ausgeführt. „Alles Recht Ungarns", sagt Werbőczi in Übereinstimmung mit der Auffassung seiner Zeit, „stammt ursprünglich aus [Seite 311] dem päpstlichen und kaiserlichen Recht". Diesem gemeinen d. i. allen christlichen Staaten gemeinsamen Rechte steht das heimische Recht, die municipalis consuetudo gegenüber, worunter wir das im Lande geltende Recht überhaupt verstehen müssen. Das heimische Recht ist also Gewohnheitsrecht, und baut sich nach Werbőczi auf drei constitutiven Elementen und Grundlagen auf: den Gesetzen oder richtiger den königlichen Decreten, den königlichen Privilegien und endlich den Urteilssprüchen der ordentlichen Richter des Landes.N.3.1.10 Sowol die Gesetze, als die Privilegien und die richterlichen Entscheidungen müssen erst durch die Übung, die consuetudo zu Bestandteilen des Landesrechts erhoben werden.N.3.1.11 Aus den Ausführungen Werbőczis ist klar ersichtlich, dass der von der Gewohnheit und Praxis nicht recipierte Teil des Gesetzes und Richterrechts, ferner der Privilegien seine Geltung und Rechtsverbindlichkeit einbüsst. Das Recht kann auch im mittelalterlichen Ungarn, ebenso wie bei den Germanen, nur bezeugt, nicht gemacht werden.
[Literatur:
Joh. Jony Commentatio historico-iuridica de origine et processu iuris Hunno-hungarici 1727
Joh. Fleischhacker, Historia iuris Hungarici 1791
Graf A. M. Cziráky, Ordo historiae iuris civilis Hungarici 1794
Paul Hajnik, Historia iuris Hungarici privati 1807
Emerich Kelemen, Historia iuris Hungarici privati 1818
Joh. Markovits, Adumbratio historica iuris privati Hungarici 1829
Paul Szlemenics, Törvényeink története az Árpádok korában. Akad. Évk. [Geschichte unserer Gesetze unter den Árpáden Akad. Jahrb.] VI. S. 72—227
Stefan Endlicher, Die Gesetze des Heiligen Stefan 1849
Wenzel, Magyarország jogtörténetének rövid vázlata [Kurzer Abriss der ungarischen Rechtsgeschichte] 1872
A magyar magánjog rendszere [System des ungarischen Privatrechts] 1872. I.]
Die Könige machten von ihrem Gesetzgebungsrechte zunächst im Interesse der Rechtssicherheit, der Erhaltung des öffentlichen Friedens Gebrauch. Die Decrete Stefans des Heiligen, Ladislaus des Heiligen und Kálmáns enthalten hauptsächlich strafrechtliche und processuale Bestimmungen. [Seite 312]
Stefan der Heilige gab gleich in den ersten Jahren seiner Regierung Gesetze, worin er Leib und Leben, die persönliche Freiheit und das Vermögen des Einzelnen, namentlich das private Grundeigentum und die Herrschaft über die Sklaven, ferner den Hausfrieden sicherte und die böswillig verlassenen Frauen, die Wittwen und Waisen in Schutz nahm. Andererseits sicherte er die wirtschaftlichen und militärischen Grundlagen der königlichen Gewalt und bedrohte den Hochverrat mit schweren Strafen. Dem Beispiel des ersten Königs folgte die Gesetzgebung Ladislaus des Heiligen und Kálmáns, in welcher das strafrechtliche und processrechtliche Element noch mehr überwiegt.
Mit der Regierung Andreas II. tritt in der Richtung und den Gegenständen der königlichen Gesetzgebung eine wesentliche Veränderung ein. Nicht mehr die Sicherung des Rechtsfriedens, die Regelung des Strafrechts und der Rechtspflege, sondern die Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der Staatsangehörigen, besonders der Adeligen gegenüber der königlichen Regierung und der Besitzaristokratie, bildet nun die Aufgabe der Gesetzgebung. Die Goldene Bulle und die späteren Decrete haben überwiegend öffentlich-rechtlichen Inhalt. Privatrechtliche Bestimmungen finden sich nur ausnahmsweise, insoferne gewisse Institutionen des Privatrechts (Besitzrecht, Erbrecht) die öffentlich-rechtliche Stellung und Freiheit der Adeligen näher berührten.
Wir bezeichnen die von den Königen erlassenen Gesetze als Decrete. Sie sind nur zum Teil auf uns gekommen. Die Decrete der Könige des ersten Jahrhunderts besitzen wir nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt, sondern in der Form von Gesetzessammlungen. Die Decrete des XIII. Jahrhunderts sind nach ihrer äusseren Erscheinung Privilegien, Freibriefe und unterscheiden sich nur hinsichtlich ihres Inhalts von den gewöhnlichen Privilegien. Allgemeine Regeln lassen sich darüber, wie die königlichen Decrete geschaffen wurden, nicht aufstellen. Stefan der Heilige gab seine Gesetze mit Mitwirkung des aus [Seite 313] den geistlichen und weltlichen Grossen gebildeten Rates: das bezeugen die zahlreichen Stellen der Sammlung seiner Decrete, worin der Zustimmung des königlichen Rates gedacht wird.N.3.2.1 Die Decrete Ladislaus des Heiligen und Kálmáns wurden auf Reichstagen erlassen, an welchen ausser den Prälaten und den hohen königlichen Beamten auch „das Volk" zugegen war, allerdings nicht um die zu erlassenden Rechtsgebote förmlich zu votieren und anzunehmen, sondern einfach zum Zwecke der Kenntnisnahme, damit die Vollstreckung des Gesetzes erleichtert werde. Unzweifelhaft ist es, dass die Decrete des XIII. Jahrhunderts auf das Drängen der öffentlich-rechtlich berechtigten Nation, d. i. der Adeligen erlassen wurden, und dass das Decret von 1298 auf den formalen Beschlüssen der Prälaten und Adeligen beruht, wozu nachher die Einwilligung, wir können sagen: die Sanction des Königs, und die Zustimmung der Barone trat. Die constitutionelle Form der königlichen Gesetzgebung, und damit die Teilung der gesetzgebenden Gewalt zwischen dem Könige und der Nation gehört der folgenden Periode an.
Die Rechtsverbindlichkeit der vom König erlassenen Rechtsgebote gründet sich auf die königliche Gewalt. Der Nachfolger ist an die Gesetze seines Vorgängers nur insoferne gebunden, als diese von der Rechtsgewohnheit recipiert wurden. Das beweisen die Urkunden, ja auch die späteren Decrete, welche sich nicht auf die Gesetze der früheren Könige, sondern auf die alte Gewohnheit des Landes berufen.
Wir wollen nun im einzelnen zu den erhaltenen Decreten übergehen.
1. Die Decrete Stefans des Heiligen sind in den Handschriften in zwei Bücher geteilt. Der älteste und zuverlässigste, und auch kürzeste Text wurde 1846 von Wilhelm Wattenbach, dem Verfasser von „Deutschlands Geschichtsquellen" im steirischen Kloster Admont entdeckt; er weicht hinsichtlich der Einteilung und des Inhalts sehr wesentlich von demjenigen Texte ab, den die Herausgeber der Corpus Juris Hungarici benützten. Da der Admonter Text aus dem XII. Jahrhundert stammt, hat er den zweifellosen Vorrang der [Seite 314] Authenticität gegenüber den späteren Abschriften.N.3.2.2 Zufolge der Admonter Handschrift umfasst das I. Buch der Gesetzessammlung Stefans des Heiligen 35, das II. Buch 21 Kapitel. Das erste Buch ist warscheinlich bald nach der Krönung entstanden, als der König laut dem Bericht der Vorrede, „nach dem Muster der früheren und jetzigen Herrscher", seinem Volke Gesetze gab, mit Rat und Zustimmung der geistlichen und weltlichen Grossen. Das zweite Buch ändert die Bestimmungen des ersten mehrfach ab. Wann dieses spätere Decret entstanden ist, lässt sich nicht feststellen; es kann nicht bezweifelt werden, dass es gegenüber dem ersten Decret einen beträchtlichen Fortschritt bedeutet und um vieles zweckmässigere und gerechtere Bestimmungen enthält.N.3.2.3
Die beiden Bücher der Admonter Handschrift bilden in der dem Corpus Juris zugrunde liegenden Handschrift ein Buch, und zwar das zweite Buch der Decrete Stefans des Heiligen. Als erstes Buch erscheinen die Ermahnungen Stefans des Heiligen an seinen Sohn Emerich (De morum institutione ad Emericum ducem liber). Obwol die Ermahnungen im Admonter Codex nicht enthalten sind, kann an ihrer Authenticität kaum gezweifelt werden. Als eigentliches königliches Decret können wir die Ermahnungen nicht betrachten; doch bilden sie eine wichtige Quelle für die Kenntnis der Rechtsprincipien und Einrichtungen, welche zur Zeit Stefans des Heiligen herrschten.N.3.2.4 [Seite 315]
2. Die Decrete Ladislaus des Heiligen sind uns handschriftlich in drei Büchern überliefert. Nach dem Text des Corpus Juris Hungarici umfasst das I. Buch 42, das II. Buch 18, das III. endlich 29 KapitelN.3.2.5. Das erste Buch enthält die Beschlüsse der Szabolcser „Synode", die König Ladislaus der Heilige mit den Bischöfen, Äbten und Grossen seines Landes, in Gegenwart „des ganzen Klerus" und des Volkes am 24. Mai 1092 in Szabolcs an der Teiss abhielt. Das zweite und dritte Buch weist in der überlieferten und aller Wahrscheinlichkeit nach sehr verderbten Gestalt zahlreiche Lücken und Widersprüche und unzusammenhängende Bestimmungen auf. Das zweite Buch ist vermutlich gleich zu Beginn der Regierung Ladislaus des Heiligen entstanden und zwar wie die Vorrede meldet, auf einem Reichstage am Heiligen Berge (Martinsberg). Es enthält auf die verschiedensten Missetaten bezügliche Strafsätze. Das dritte Buch ist späteren Ursprungs, als das zweite, es ist jedoch in der uns bekannten Fassung keine einheitliche Gesetzesschöpfung, kein Decret, sondern eine Privatarbeit: ein Auszug oder eine Sammlung mehrerer Decrete. Es enthält zum Teil strengere, zum Teil mildere Bestimmungen, als das zweite Buch.N.3.2.6
3. Die Decrete Kálmáns erscheinen in der Handschrift, die den Herausgebern des Corpus Juris Hungarici vorlag, in zwei Bücher geteilt. Das erste besteht aus 84, das zweite aus 15 Kapiteln. Im ersten Buche sind zufolge der Einleitung die Beschlüsse der etwa im Frühling 1096 zu Kartal [Seite 316] (Comitat Pest) oder Tarczal (Comitat Zemplén) stattgefundenenN.3.2.7 Reichstages enthalten, die ein Mönch deutscher Herkunft, namens Alberich, auf Anregung des Erzbischofs Seraphin von Esztergom, niederschrieb. Die Vorrede Alberichs lässt vermuten, dass er die Beschlüsse mehrerer Versammlungen oder Beratungen zusammenfasste. Das eine steht fesst, dass wir es nicht mit dem wortgetreuen Text des vom König erlassenen Decrets (oder der Decrete), sondern mit den Aufzeichnungen, bezw. der Compilation eines Privaten zu tun haben, der infolge seiner bescheidenen Stellung den Beratungen des Hauses nur von der Schwelle des Beratungssaales folgen konnte und obendrein der Beratungssprache — des Ungarischen — nicht vollkommen mächtig war.N.3.2.8
Das zweite Buch besteht zufolge den zuverlässigeren Handschriften, welche Endlicher seiner Ausgabe zugrunde legte, aus wesentlich verschiedenen Bestandteilen. Die ersten drei Kapitel enthalten einige Artikel des Judenprivilegs, die Kapitel 4—15 sind Beschlüsse des zu Esztergom abgehaltenen II. Concils.N.3.2.9
4. Die Reihe der Decrete des XIII. Jahrhunderts wird durch das Decret von 1222, die Goldene Bulle, eröffnet. Sie ist das wichtigste Denkmal der ungarischen Verfassungsgeschichte, ein Verfassungsgrundgesetz, und kann daher füglich mit der englischen Magna Charta von 1215 verglichen werden, obwol zwischen beiden mehrfache wesentliche Unterschiede bestehen. Die Magna Charta erscheint als Vertrag; die Goldene Bulle hingegen ist ein in privilegialer Form gegebenes königliches Decret. Erstere zeugt von einem bedeutend entwickelteren Staatsleben, und ist um vieles ausführlicher, als die Goldene Bulle. Darin stimmen jedoch beide Urkunden überein, dass die eine sowol, als die andere die Grundzüge der Verfassung enthält und die Freiheit der Nation, die politischen [Seite 317] Rechte des Adels gegenüber der königlichen Gewalt zu sichern trachtet. Die Goldene Bulle gewährte im Grossen und Ganzen keine neuen Rechte, ebensowenig, als die Magna Charta, sondern codificierte und gewährleistete bloss die alten Rechte. Obwol sie nicht auf alles Einzelne eingeht, berücksichtigt sie doch sämmtliche freien Landesbewohner, was bei dem zunehmenden Einflusse der Besitzaristokratie und der im Sinken begriffenen Macht des Königtums unerlässlich war. Während die Magna Charta kein anderes Ziel kennt, als die Rechte der Stände zu wahren und das Königtum zu beschränken, will die Goldene Bulle nicht bloss die Rechte und Freiheiten des Adels garantieren, sondern trachtet andererseits die königliche Gewalt zu befestigen, damit sie den Übergriffen der Besitzaristokratie Widerstand leisten und die öffentlichen Interessen mit Erfolg verfechten könne. Insoferne dürfen wir die Goldene Bulle über die Magna Charta stellen.N.3.2.10
Das hochbedeutsame Decret wurde in sieben Originalexemplaren ausgefertigt, doch ist von diesen keines erhalten. Die späteren Transsumpte lassen jedoch keine Zweifel an der Authenticität der Bulle bestehen. Das älteste bekannte Transsumpt stammt aus dem Jahre 1318.N.3.2.11
5. Das II. Decret König Andreas II. von 1231. Die Goldene Bulle vermochte nicht die Übel zu beheben, welche die schlechte Regierung Andreas II. im Gefolge hatte. Auf das Drängen des Papstes und der hohen Geistlichkeit gab [Seite 318] Andreas II. im Verein mit seinen Söhnen Béla und Kálmán nach Beratung mit den Prälaten und weltlichen Grossen 1231 ein neues Decret heran. Dieses II. Decret gründet sich zum grossen Teil auf die Goldene Bulle und übernimmt daraus die meisten Bestimmungen Wort für Wort. Dennoch bestehen zwischen den beiden zahlreiche und recht wesentliche Unterschiede. Das II. Decret ist nicht infolge eines vom gemeinen Adel ausgeübten Druckes entstanden, wie neun Jahre vorher die Goldene Bulle, sondern ist auf den Vergleich der geistlichen und weltlichen Herren zurückzuführen. Überallhin wurde die christliche, oder vielmehr kirchliche Anschauung hineingetragen; auch als Sanction erscheint gleichfalls nicht mehr das ius resistendi, sondern der Kirchenbann: der Erzbischof von Esztergom wurde ermächtigt, den König oder seine Söhne, falls sie dem Freibriefe zuwiderhandeln, in den Bann zu tun.N.3.2.12
6. Das Decret vom Jahre 1267, das König Béla IV. und dessen Söhne, Stefan der jüngere König, und Béla, Herzog von Slavonien, auf dem Reichstage zu Esztergom auf Bitten des Adels erliessen, besteht aus 10 Artikeln. Das Decret bildet sozusagen einen Auszug der Goldenen Bulle, deren wichtigste Bestimmungen erneuert werden; doch enthält es auch neue Verordnungen: so die Beseitigung des obligaten schriftlichen Verfahrens in den Angelegenheiten der Adeligen, ferner die Bestimmung, dass die Güter des in der Schlacht gefallenen Adeligen mangels Leibeserben nicht an den König, sondern an die Sippe des Verstorbenen fallen.N.3.2.13
7. Das Decret von 1290 wurde von König Andreas III. nach der Krönung, auf dem Reichstage zu Ó-Buda, an welchem „sämmtliche Prälaten, Herren und Adelige" teilnahmen, gegeben. Es besteht aus 41 (34) Artikeln und geht gleichfalls zum grossen Teile auf die Goldene Bulle zurück; aber es finden sich auch [Seite 319] mehrere neue Bestimmungen, welche die seit der Entstehung der Goldenen Bulle stattgefundene Verfassungsentwicklung getreulich wiederspiegeln.N.3.2.14
8. Das Decret vom Jahre 1298. Von dem im August 1298 zu Pest nächst der Minoritenkirche abgehaltenen Reichstage ist bereits die Rede gewesen.N.3.2.15 Die Beschlüsse der Prälaten, des niederen Klerus und der Adeligen wurden vom König und den Baronen (den weltlichen Herren) bestätigt und mit deren Siegeln gefestet. Der Text dieses Decrets ist uns nur durch das Transsumpt König Wladislaus I. von 1440 überliefert worden. Es besteht zufolge des Transsumpts aus 80 Artikeln; doch sind bloss die ersten 44 Artikel eigentliche Reichstagsbeschlüsse; der mit dem 45. Artikel beginnende zweite Teil des Decrets muss als eine executive Verordnung des Königs und der Baronen betrachtet werden. Das Decret von 1298 stützt sich nicht mehr auf die Goldene Bulle, sondern enthält zahlreiche, bedeutende Neuerungen.N.3.2.16 [Seite 320]
[Literatur: Gustav Wenzel, Az országos és a particularis jogok [Das Landesrecht und die Particularrechte] 1876;
Magyarország városai és városjogai [Ungarns Städte und Stadtrechte] 1877.
Kálmán Demkó, A felső-magyarországi városok életéről [Aus dem Leben der oberungarischen Städte] 1890.
Das zweite constitu[ti]ve Element des Landesrechts bildeten nach Werbőczis Lehre die königlichen Privilegien, insoferne nämlich die Rechtsgewohnheit des Landes (municipalis consuetudo) die in den königlichen Freibriefen enthaltenen Rechtssätze zu allgemeiner Geltung erhob.
Die mittelalterliche Bedeutung des Privilegs als Rechtsquelle erklärt sich aus der feudalen Staatsverfassung, die eben durch die Herrschaft des individuellen Princips charakterisiert wird. Den mittelalterlichen Staaten ist die Idee der gleichen Untertanschaft und Abhängigkeit der Landesbewohner gegenüber der gemeinsamen höchsten Gewalt unbekannt. Die Staatsangehörigen verknüpft kein allgemeiner Untertanenverband, sondern der persönliche, vertragsmässige Lehnsverband mit einander. Hieraus folgt die Sonderstellung aller der Einzelnen, die Mannigfaltigkeit der Rechtslage, die besonders, mittelst der Privilegien (Freibriefe, chartae, chartes, charters) geregelt werden muss. Königliche Privilegien bestimmen die Rechte und Pflichten der geistlichen und weltlichen Grossen gegenüber dem König, als ihrem Oberlehnsherrn. Ebenso erfolgt die Befreiung der Corporationen und Gemeinden, namentlich der Städte von der lehnsherrlichen oder grundherrlichen Gewalt mittelst Freibriefe. Desgleichen gewähren die geistlichen und weltlichen Herren den Einzelnen und Corporationen, die sich auf dem ihnen untertanen Gebiete befinden, Privilegien, worin sie die Freiheiten und Verpflichtungen der Untertanen festsetzen und das Privat- und Strafrecht und das Gerichtsverfahren in selbständiger Weise regeln. Das Privileg durchsetzte und überzog solcherart das gesammte Rechtsleben und ward zu einem mächtigen Factor der Rechtsbildung.
Der Begriff des Privilegs bestimmt sich einerseits durch den Begriff der Freiheit (libertas), welche der Mächtigere [Seite 321] dem weniger Mächtigen zusichert; andererseits durch die Form, in welcher der König und die geistlichen und weltlichen Herren das Recht der Satzung ausüben. Allmälig betrachtete man jeden Rechtssatz, der nicht unmittelbar durch die Gewohnheit entstanden war, als Privileg, und bezeichnete jede Urkunde, worin ein Recht gewährt oder gesichert wurde, als Privileg.
In Ungarn kommen im XIII. Jahrhundert die königlichen Decrete in der Form von Privilegien zustande. Alle wichtigeren Rechtsverhältnisse werden teils in königlichen, teils in grundherrlichen Freibriefen geregelt, ja Privilegien bilden sogar den Ausgangspunkt des Municipalrechts.N.3.3.1
Die durch königliches Privileg frei gewordenen Gebietsgemeinen nehmen je länger, desto mehr das Recht der Willkür (ius statuendi) in Anspruch und ordnen den Rechtsverkehr in selbständiger Weise. Wir bezeichnen das Recht, das die Versammlung oder die Obrigkeit einer freien Gebietsgemeine schafft, als Municipalrecht oder Statut (Willkür).
In Ungarn repräsentieren die Municipalrechte das particuläre Recht, gegenüber dem Landesrecht.
Eine particuläre Rechtsbildung findet sich zuerst in den Städten. Die Grundelemente der Stadtrechte stammen zum grossen Teile aus der Fremde; denn die Gäste (hospites), von deren Gemeinden die Entwicklung des städtischen Lebens ausgieng, brachten ihr Recht mit sich. Doch als die städtische Freiheit sich ausgebildet hatte und das Recht der hospites ein wirkliches Stadtrecht geworden war, hatte dieses Recht, eingedämmt zwischen die zwingenden Bestimmungen der königlichen Freibriefe und unter dem Einflusse des Landesgewohnheitsrechts allmälig einen ungarischen Charakter angenommen.
Die ältesten Stadtrechte, so das Recht von Székesfejérvár, Buda, Selmeczbánya, Nagyszőllős und Zágráb, entwickelten sich auf der Grundlage des Willkürrechts ursprünglich auf ungarischem Boden. Die später gegründeten Städte (bezw. zu Städten erhobenen Gemeinden) erhielten durch Bewidmung oder Rechtsmitteilung das fertige Recht der älteren Städte. So entstanden auch in Ungarn Stadtrechtsfamilien, Mutterrecht und Tochterrechte. Namentlich das Recht von Buda ward das [Seite 322] Mutterrecht zahlreicher ungarischer Städte.N.3.3.2 Die unmittelbare Entlehnung aus ausländischen Stadtrechten gehört erst der nächsten Periode an, und gelangte niemals zu wesentlicher Bedeutung. Auf unsere Tage ist aus dieser Periode bloss ein Denkmal der statutarischen Stadtrechte gekommen, das in deutscher Sprache verfasste Stadt- und Bergrechtsbuch von Selmeczbánya aus der Regierungszeit Belas IV., das fast wörtlich mit dem Rechtsbuch der mährischen Stadt Iglau übereinstimmt.N.3.3.3
Auch ausserhalb der Städte gab es particuläre Rechtsbildungen, die gleichfalls auf grund des durch die territoriale Sonderstellung bedingten Willkürrechts enstanden. Hierher gehört das Recht der Széklyer, der Kumanen, der Siebenbürger und Zipser Sachsen, ferner das slavonische und kroatische Recht.
Die particuläre Rechtsentwicklung der Széklyer fusst in der alten Stämme- und Geschlechterverfassung, die sie unveränderlich beibehielten, auch nachdem in den übrigen Landesteilen die königliche Gespanschaftverfassung eingeführt worden war. Aus dieser Periode besitzen wir ausser einigen unbedeutenden UrkundenN.3.3.4 kein Denkmal der particulären Rechtsbildung des Széklyerlandes.
Die Grundlage der particulären Rechtsentwicklung der Siebenbürger Sachsen bildet das diploma Andreanum von 1224. Dieselbe Bedeutung hat für die Zipser Sachsen der Freibrief von 1271, für die Kumanen das grosse Privileg von 1279.N.3.3.5
Die Sonderstellung Slavoniens in betreff der Verwaltung bewirkte die Bildung eines slavonischen Particularrechts, dessen bedeutendstes Denkmal das im Jahre 1273 auf einer Provinzversammlung entstandene s. g. slavonische Statut ist.N.3.3.6 [Seite 323]
Auch ein Denkmal des kroatischen Particularrechts hat sich erhalten: das interessante Statut des Kreises Vinodol (Vallis vinaria), das im Jahre 1288 entstand und in alt-kroatischer Sprache abgefasst ist.N.3.3.7
Als drittes constitutives Element des Landesrechts nennt Werbőczi die Gerichtsurteile, nämlich die im Königsgericht, in oder ausserhalb der Curie vom König, Palatin, Hofrichter, Tavernicus oder Kanzler gefällten Entscheidungen. Dergleichen Gerichtsurteile besitzen wir in grösserer Zahl erst aus dem XIII. Jahrhunderte; da die Urteile in der Curie vor der Regierung König Bélas III. nicht in Schrift gesetzt wurden.N.3.3.8
Bei der bedeutenden Centralisation der Gerichtsbarkeit in Ungarn war die Praxis der königlichen Curie natürlicher Weise von dem grössten Einfluss auf die Bildung des Gewohnheitsrechts.
Wichtige Quellen der Erkenntnis des geltenden Rechts bilden die Urkunden, worin die Rechtssätze in concreter praktischer Anwendung erscheinen, besonders die s. g. Formeln, das sind die bei der Herstellung von Urkunden benützten Vorlagen, welche eben die ausgeprägten Rechtsanschauungen enthalten. Wahrscheinlich gab es bereits während dieser Periode Formelsammlungen ; doch sind uns keine erhalten. Die älteste Sammlung (ars notarialis) stammt aus der Zeit Ludwig des Grossen.N.3.3.9N.3.3.10 [Seite 324]
Literatur:
Josef Vass, Hazai és külföldi iskolázás az Árpádkorszak alatt [Einheimischer und ausländischer Unterricht während der Árpádenzeit] 1875.
Eugen Abel, Egyetemeink a középkorban [Unsere Universitäten im Mittelalter] 1881.
Remig Békefi, Árpâdkori közoktatásügyünk és a veszprémi egyetem létkérdése [Das Unterrichtswesen der Árpádenzeit und die Frage der Veszprémer Universität] Századok Jg 1896 S. 321 ff.
In den westlichen Staaten treten uns während des Mittelalters drei Rechtssysteme entgegen, welche gewissermassen das gemeinsame Recht aller christlichen Staaten bildeten, nämlich das germanische Recht, dem späterhin das Lehnrecht entspross, das römische Recht und das kanonische Recht.
Unter dem Ausdrucke: germanisches Recht begreifen wir das Recht derjenigen Völker germanischer Herkunft, die auf dem Boden des einstigen weströmischen Kaisertums Staaten gründeten : nämlich das Recht der Franken, Alemannen, Longobarden, West- und Ostgothen, Sachsen u. s. w.N.3.4.1 Nach dem Sturze des römischen Reiches übernahmen im [Seite 325] westlichen Europa die germanischen Völker die Führung sowol auf dem Gebiete des Kultur-, als insbesondere des Rechtslebens und begründeten mittelst der Aufnahme romanischer Elemente eine neue Kultur und ein neues Recht, woraus sich allmälig die staatliche und sociale Ordnung des Mittelalters formte.
Der Übertritt der ungarischen Nation zum Christentum und die Errichtung des Königtums erhob Ungarn in die Reihe der westeuropäischen Staaten. Seither steht der Einfluss des westeuropäischen, d. h. des germanischen Rechts auf die ungarische Rechtsbildung ausser Zweifel. Die Gründung des Königtums ist schon an sich eine Folge des Eindringens der westeuropäischen Staatsgedanken. Die königlichen Decrete des ersten Jahrhunderts beweisen zur genüge die bedeutende Wirkung, welche die im Westen herrschenden Institutionen auf die einzelnen Zweige des ungarischen Rechtslebens ausübten.
Infolge der Einwanderungen aus dem Westen kam das germanische Recht in Ungarn auch unmittelbar zur Geltung. Die Gemeinden der in den verschiedenen Landesteilen angesiedelten Sachsen, Baiern, Flamänder und Italiener erhielten das Privileg, nach ihrem eigenen (heimischen) Recht, wie es in den Quellen heisst, dem ius theutonicum zu leben. Dadurch war die Herrschaft des germanischen Rechts in den Territorien der Siebenbürger und Zipser Sachsen, ferner in einem Teil der Städte gesichert. Aber es wäre irrig zu glauben, dass die Stadtrechte ausschliesslich auf dem fremden Recht beruht hätten; das Königtum bildete (wie oben ausgeführt worden) vermittelst der Bestimmungen der Stadtprivilegien je länger, desto mehr ein selbständiges, allgemeines Stadtrecht aus. Anders in Polen. Die polnischen Städte recipierten schlechthin die deutschen Stadtrechte.N.3.4.2 Der unmittelbare Einfluss des germanischen Rechts war in Ungarn zu allen Zeiten von untergeordneter und particulärer Bedeutung. Das Landesrecht entwickelte sich aus dem nationalen Rechtsbewusstsein und recipierte niemals das auf germanisch-rechtlichen Grundlagen entstandene Lehnrecht.
Das römische Recht,N.3.4.3 das nach dem Falle des [Seite 326] römischen Reichs als persönliches Recht der unterlegenen Volkselemente seine Geltung behielt, war nicht mehr das echte, klassische römische Recht, sondern ein tief gesunkenes, barbarisch gewordenes römisches Recht, entsprechend dem allgemeinen Niedergange der Kultur, der dem Ende des römischen Weltreiches folgte. Die Entdeckung des echten, klassischen römischen Rechts ist das Verdienst der Glossatoren von Bologna. Die mit dem XII. Jahrhundert einsetzende grossartige Tätigkeit der Glossatoren setzte den Reichtum und die Vortrefflichkeit des römischen Rechts ins hellste Licht und empfahl dieses, als geeignet, das gemeine Recht aller höher stehenden Völker zu bilden, zur allgemeinen Annahme. In den Rechtsschulen wurde daher hauptsächlich das römische Recht vorgetragen und unterrichtet, und die natürliche Folge davon war, dass die gelehrten Juristen, sobald sie sich in Amt und Stellung befanden, die römischen Rechtsprincipien im praktischen Leben anzuwenden und zu verwirklichen trachteten.
Das war das erste, als theoretische Reception bezeichnete Stadium der mittelalterlichen Reception des römischen Rechts. Auch in Ungarn lässt sich im Laufe des XIII. Jahrhunderts ein Eindringen des römischen Rechts in diesem Sinne bemerken. Zahlreiche Urkunden dieser Zeit bezeugen, dass die Aussteller im römischen Rechte bewandert waren und dessen Grundsätze anwendeten.N.3.4.4
Dieser theoretischen Reception folgte in vielen Staaten, vor allem im deutschen Reiche die praktische Reception, d.h. das römische Recht wurde in seinem gesammten Umfange zum geltenden Rechte erhoben und das alte einheimische Recht zur Seite geschoben und verdrängt. Eine Reception des römischen Rechts in diesem Sinne ist in Ungarn niemals erfolgt. Die ungarische Rechtsbildung war von Anbeginn eine einheitliche und so brauchte man nicht darauf zu verfallen, was der Rechtsparticularismus in Deutschland nötig machte: als Grundlage des einheitlichen Rechts das fremde römische Recht zu recipieren. Ein anderer, wol weniger bedeutender Grund, weswegen die praktische Reception in Ungarn unterblieb, mag die geringere Entwicklung des ungarischen Gewerbes und Handels gewesen sein. Die durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem [Seite 327] römischen Recht angebahnte Reception wurde nämlich besonders durch die stetig wachsende Bedeutung der Industrie und des Handels gefördert. Im Laufe des XII. und XIII. Jahrhunderts hatte sich der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft vollzogen und ein höheres Wirtschaftsleben entwickelt, das ein entwickelteres Sachen- und Obligationenrecht benötigte. Als solches bot sich den Völkern des Mittelalters das römische Recht dar; und je höher das Wirtschaftsleben sich entfaltete, desto mehr schritt die Reception vor.
Das kanonische Recht hält in gewissem Sinne die Mitte zwischen dem römischen und germanischen Recht, indem es aus beiden schöpfte.3.4.5
Anfänglich galt das römische Recht als Recht der Kirche: die Geistlichen leben nach römischem Recht. Daher die Rechtsparömie: Ecclesia vivit lege Romana. Später berücksichtigt jedoch die Kirche die Institutionen des germanischen Rechts in stetig bedeutenderem Masse; als sie sich dem Höhepunkte ihrer Macht nähert, hat sie sich bereits aus römisch- und germanischrechtlichen Elementen ein besonderes, eigenartiges Rechtssystem als ihr Eigenrecht errichtet: das s. g. kanonische Recht.
Die Kirche ist nach ihrer Bestimmung kein Rechts-, sondern ein religiös-ethisches Institut und bedarf als solches nur insoferne einer rechtlichen Organisation, als sie eine dem Staat gegenüber selbständige religiöse Gemeinschaft bildet. Infolge der Primitivität des mittelalterlichen Staatswesens gelangte jedoch die Kirche auch auf dem Gebiete der Rechtsbildung zu grosser Bedeutung, indem sie ihre Wirksamkeit auf zahlreiche Lebenskreise und Angelegenheiten erstreckte, deren Regelung in einem entwickelteren Staate Sache der Staatsgewalt ist. Die päpstliche Gesetzgebung, deren Blütezeit in das XIII. Jahrhundert fällt, baut das kanonische Recht zu einem grandiosen Gebäude auf.
Die Kirche beansprucht das Recht der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit in den Verlöbnis- und Ehesachen; und [Seite 328] zwar ordnet sie nicht allein die unmittelbar aus dem Eheverbande sich ergebenden Rechtsverhältnisse, sondern auch die übrigen connexen Verhältnisse, so die Legitimität der Kinder, die Klagen um Mitgift, Wittum u.s.w. Die Testamentsangelegenheiten gehören gleichfalls vor das Forum der Kirche, da sie verpflichtet ist darüber zu wachen, dass dem letzten Willen des Testators die schuldige Pietät entgegengebracht werde. Natürlich zog die Kirche das Patronatsrecht und die Zehntsachen ebenfalls in den Kreis der kirchlichen Gesetzgebung und der geistlichen Gerichte. Einen sehr bedeutenden Einfluss übte die Kirche auf die Entwicklung des Strafrechts aus; es concurrierte mit der Staatsgewalt in der Bestrafung aller Missetaten, die unmittelbar als Verbrechen gegen die Religion oder die Sittlichkeit erschienen. Die grosse Bedeutung der geistlichen Gerichtsbarkeit, sowol in bürgerlichen, als in Strafsachen, bewirkte naturgemäss die Ausbildung eines besonderen, vom Verfahren der weltlichen Gerichte vielfach abweichenden Processes.
Die im Rahmen des kanonischen Rechts entstandenen processualen, civil- und strafrechtlichen Einrichtungen und Gedanken beeinflussten allenthalben die Entwicklung des weltlichen Rechts. Auch das ungarische Landesrecht blieb nicht unbeeinflusst. Als die Staatsgewalt erstarkt und den weltlichen Wirkungskreis der Kirche mehr und mehr an sich zieht, übernimmt sie zugleich den grössten Teil der von der Kirche hervorgebrachten Institutionen, die nun dem staatlichen Recht einverleibt werden.
Der juristische Unterricht gelangte an den Universitäten (studium generale), die sich im XL und XII. Jahrhundert auf grund des Princips der freien Vereinigung aus den Domschulen entwickelt hatten, erst infolge der Tätigkeit der Glossatoren von Bologna zu grösserer Bedeutung.N.3.4.6 Die erste Domschule Ungarns, an der auch das Recht gelehrt wurde, war die Schule zu Veszprém. Seit wann, wissen wir nicht genau; es ist uns überhaupt nicht bekannt, wann die Veszprémer Domschule zur Universität erhoben wurde.N.3.4.7 Die erste unzweideutige [Seite 329] Spur dessen, dass in Ungarn nicht allein das kanonische, sondern auch das römische Recht unterrichtet wurde, liefert uns die Bulle Papst Innocents IV. von 1254, welche an die Prälaten Frankreichs, Englands, Schottlands, der pyrenäischen Königreiche und Ungarns gerichtet ist und die Verleihung kirchlicher Beneficien (seien es höhere oder geringere) an Doctoren des römischen Rechts untersagt.N.3.4.8 Der Papst begründet das strenge Verbot unter anderem damit, dass in den genannten Staaten die weltlichen Geschäfte nicht nach den kaiserlichen Gesetzen — d. i. dem römischen Recht —, sondern nach der Rechtsgewohnheit (consuetudo) entschieden werden und daher der Unterricht des römischen Rechts keine Notwendigkeit bildet. Doch wenn auch irgendwo auf Befehl des Herrschers das römische Recht gelehrt würde, solle das Verbot betreffend die Ausschliessung der Legisten von den Kirchenämtern dessen ungeachtet zu recht bestehen. Die ungarische Schule, worauf sich wegen des dort stattfindenden Rechtsunterrichts das Verbot des Papstes bezog, war die Domschule zu Veszprém. Das erfahren wir aus den Urkunden König Ladislaus IV. anlässlich der grossen Feuersbrunst, die 1276 den Veszprémer Dom und die Universität gänzlich einäscherte. Der König vergleicht die Veszprémer Schule der Universität zu Paris und sagt, dass darin die Rechtsgelahrtheit „behufs Erhaltung der Rechte des Landes" die vornehmste Stelle eingenommen habe.N.3.4.9 Aus der Schilderung der Feuersbrunst ersehen wir, dass die Veszprémer Schule über eine solch’ reiche Bibliothek verfügt hatte, wie sie im Mittelalter einzig den Universitäten, als den Mittelpunkten der Pflege der Wissenschaften zu gebote standen; und wir vernehmen, dass das Kapitel unter seinen Mitgliedern fünfzehn Doctoren des römischen und des kanonischen Rechts zählte,N.3.4.10 die sicherlich den Rechtsunterricht besorgten. Es ist wahrscheinlich, dass die Veszprémer Universität infolge der durch die Feuerbrunst verursachten schweren Verluste ihre Wirksamkeit noch unter König Ladislaus völlig einstellte. [Seite 330]
Das alte ungarische Recht kennt, gleich dem germanischen,N.3.2.1 zwei Familienkreise und Begriffe : die Familie im weiteren Sinne, das Geschlecht, die Sippe (genus, generatio, ung. nem oder nemzetség) und die eigentliche Familie, die Familie im engeren Sinne (familia, domus, ung. család). Wir werden von beiden besonders handeln.
Im Urstaate ist der Geschlechtsverband nicht bloss ein verwandtschaftlicher, sondern zugleich ein politischer, öffentlich- rechtlich bedeutsamer Verband. Das Geschlecht ist die erste, ursprünglichste Form des öffentlichen Lebens. Die Angehörigen desselben Geschlechtes bilden eine politische und wirtschaftliche Einheit. Das Geschlecht besitzt eine feste öffentlich-rechtliche Organisation: man bezeichnete es daher als had, d. h. Heer, den Vorsteher des Geschlechts als hadnagy (s. v. etwa wie maior generationis) und leben diese Benennungen noch heute in der Sprache des ungarischen Volkes fort. Die Geschlechtshäuptlinge sind einerseits die Richter der Geschlechtsgenossen, andererseits deren Anführer im Krieg.
Die Rechtstellung und Existenz des Einzelnen gründet sich im Urstaate fast ausschliesslich auf die Zugehörigkeit zu [Seite 331] einem Geschlechte. Dieses sichert ihm Schutz gegen Angriffe und Verletzungen und gewährt ihm einen Anteil an dem gemeinsamen Geschlechtsbesitz (Geschlechtsländereien, descensus).
Mit der Errichtung der monarchischen Staatsverfassung verschwindet die öffentlich-rechtliche Bedeutung des Geschlechtsverbandes. Die politische Organisation der Geschlechter fällt auseinander, ebenso wie der Stammesverband. Doch die grosse Bedeutung des Geschlechtsverbandes für das Rechtsleben besteht fort und wirkt das ganze Mittelalter hindurch.
Die alten Geschlechter spalten sich, wie wir das bei den Széklyern beobachten können, nach der näheren Verwandschaft in Sippen oder Linien. Es entsteht ein neuer, ausschliesslich auf die Tatsache der gemeinsamen Abstammung zurückgreifender Begriff des Geschlechts, der dem Begriffe der landeserobernden Geschlechter nicht mehr entspricht. Im Zeitalter der Árpádenkönige versteht man unter einem Geschlecht die Gesammtheit jener Familien, in denen das Bewusstsein der gemeinsamen Abstammung lebendig ist, die Gesammtheit derjenigen, die ihren Stammbaum auf denselben Ahnherrn zurückführen — wie es in den Urkunden heisst: ab uno avo descendentes.N.3.4.2
Die Geschlechtsgenossen bilden auch nach dem Untergange der politischen Geschlechtsverfassung ein Schutz- und Trutzbündnis: sie sind verpflichtet in Abwehr und Angriff einander wechselseitig zu unterstützen.N.3.4.3 Die Sippegenossen schützen den Einzelnen gegen widerrechtliche Angriffe; und der Verletzte zwingt mit der Unterstützung der Sippe den Täter zur Sühne. Für den erschlagenen Geschlechtsgenossen fordern die anderen Genugtuung und erhalten das Wergeld des Getödteten.N.3.4.4 Im Processe stehen der Partei die Geschlechtsgenossen als Eideshelfer zur Seite und zeugen für die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit des Parteieides.N.3.4.5 Wenn die Freiheit eines Geschlechtsgenossen angezweifelt wird, bringen die [Seite 332] Sippengenossen den Nachweis der Freiheit, indem sie erklären, er stamme aus ihrer Sippe.N.3.4.6
Die Besitznahme des Landes erfolgte — wie oben ausgeführt worden — nach Geschlechtern. Jedes Geschlecht hatte einen — wol nicht unbedeutenden — Landstrich inne (descensus), der das gemeinsame Eigentum des Geschlechts bildete und gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde. Bereits im Zeitalter der Urverfassung beginnt jedoch die Teilung der Geschlechtsländereien: das Geschlechtsland wird zuerst unter die Sippen aufgeteilt, die im Schosse des alten Geschlechts entstanden sind, später unter die einzelnen Familien der Sippe, des neuen Geschlechts und so entwickelt sich stufenweise und allmälig das private Grundeigentum. Doch behält der Geschlechtsverband (im neueren Sinne) auch nach der Entstehung des Privateigentums seine Bedeutung auf dem Gebiete des Besitzrechts. Die durch die Teilung des alten Geschlechtslandes hervorgegangenen Grundstücke wurden trotz der Teilung und des Sonderbesitzes als ein zusammenhängendes und dem Geschlechte gehöriges Ganze betrachtet und fielen bei unbeerbtem Tode des Besitzers wieder an das Geschlecht heim.N.3.4.7 Der im Schosse der Geschlechter gebräuchlichen Teilungen geschieht in den Urkunden des XIII. Jahrhunderts häufig Erwähnung.N.3.4.8
Infolge der Teilung des Geschlechtslandes sind es natürlich die Geschlechtsgenossen, die neben einander zu sitzen kommen: sie werden nun Nachbarn. Verwandtschaft und Nachbarschaft sind anfänglich stets identische Begriffe, und bleiben es noch lange in vielen Fällen.N.3.4.9 Solange der Geschlechtsverband ungelockert bestand, konnte das aus dem Geschlechtsland hervorgegangene Erbe überhaupt nicht veräussert werden; auch später haben die Mitglieder der Sippe ein Näher- und Retractrecht, um das Eindringen ausserhalb der Sippe Stehender in den ursprünglichen [Seite 333] Geschlechtsbesitz zu verhindern.N.3.4.10 Dasselbe Recht stand den Verwandten zu, wenn ein Mitglied der Sippe irgend ein Verbrechen mit dem Verlust des Vermögens büsste, desgleichen, wenn ein Teil des Erbgutes als Wittum gesetzt oder als Quartalitium abgeteilt wurde.N.3.4.11 Die grosse Bedeutung des Geschlechtsverbandes zeigt auch Art. X. der Goldenen Bulle: wenn ein Adeliger, der ein königliches Amt bekleidet, in der Schlacht fällt, soll der König dem Sohn oder Bruder des Gefallenen ein ähnliches Amt, oder Land verleihen.
Die Sippe besteht aus den männlichen Verwandten vom Mannstamme (die das deutsche Recht als Schwertmagen bezeichnet). Bloss diese haben wir unter den propinqui, cognati und proximi der Urkunden zu verstehen,N.3.4.12 denn die Töchter traten mit der Verheiratung in das Geschlecht des Gatten über. Darum waren sie anfänglich vom Geschlechtserbe ausgeschlossen, und auch später, als den Töchtern in Ermangelung männlicher Leibeserben ein Anspruch auf den vierten Teil des Erbgutes eingeräumt wurde, konnten die (männlichen) Geschlechtsgenossen das Quartalitium gegen Erstattung des wahren Schätzungswertes (condigna aestimatio) an sich bringen und den Übergang des Erbes in fremde Hände verhindern.
Auch das Recht der Vormundschaft stützt sich auf den Geschlechtsverband.N.3.4.13 Vormund ist der nächste Agnat; denn es liegt zunächst im Interesse des Geschlechts, für die Erziehung des unmündigen Kindes und die Regelung seiner Vermögensverhältnisse zu sorgen.
Die Ausbildung des Donationalsystems führte einen langen, harten Kampf zwischen den Principien des Geschlechtsrechts und des Königsrechts herbei, der wie wir unten sehen werden, in der nächsten Periode mit dem Sieg des Geschlechtsprincips endete. [Seite 334]
Der engere Familienkreis, die familia,N.3.4.14 domus begreift die Gesammtheit derjenigen, die unter der Gewalt desselben Hausvaters stehen: die Gattin, Kinder und Mündel.N.3.4.15 Die Familie wird durch die hausväterliche Gewalt zusammengehalten, die ebenso wie bei den Römern und GermanenN.3.4.16, eine unbeschränkte, souveraine Gewalt ist. Das beweisen vor allem die auf den Familienverband bezüglichen Benennungen. Das ungarische Wort család (d. h. Familie) ist nichts als eine ablautende Form von cseléd, Diener, Dienstbote, Untergebener.N.3.4.17 In der Volkssprache nennt der Vater die Kinder noch heute cselédek, Weib und Tochter fehércselédek (fehér s. v. wie weiss). Andererseits bezeichnet die ungarische Frau den Gatten noch heute als ihren Herrn (úr), den Vater oder älteren Bruder des Gatten als ihren "grösseren", den jüngeren Schwager als ihren "kleineren Herrn" : denn die Wittwe stand einst unter der Gewalt der Genannten. Herr, úr, bedeutet eben den Inhaber einer gewissen Gewalt. Die Quellen bezeugen gleichfalls die Schrankenlosigkeit der Hausgewalt sowol der Gattin, als den Kindern gegenüber. Sie verwandelte sich nur allmälig in eine beschränkte Gewalt, die nicht mehr den [Seite 335] Machtinteressen des Hausvaters dienstbar ist. Während die Hausgewalt im ältesten Recht eine Herrschaftsgewalt war, erscheint sie im späteren Recht als eine Schutzgewalt, die nicht im Interesse des Inhabers der Gewalt, sondern für die Schutzbedürftigen da ist.
Der Hausvater besass ursprünglich das unbeschränkte Recht der Züchtigung und war Herr über Leben und Tod der Hausgenossen. Ein Überbleibsel dieses alten Rechts tritt uns in jener Bestimmung des Ladislaischen Decrets entgegen, dass der Gatte die auf Ehebruch ertappte Frau ungestraft tödten durfte.N.3.4.18 Der Hausvater hatte auch ursprünglich das Recht, Weib und Kinder im Notfalle zu verkaufen oder zum Pfand (als Geisel) zu setzen.N.3.4.19 Ja, zufolge des Zeugnisses der Urkunden war es noch im späteren Recht gestattet, dass der Bruder die unter seiner Hausgewalt stehende Schwester als Sklavin verpfände.N.3.4.20 Das hausväterliche Recht, seine Hausleute zu verkaufen, bildet den Ausgangspunkt des alten ungarischen Eherechts. Wir werden unten sehen, dass die Ehe nach dem alten Recht der Ungarn eine Kaufehe war und die Frau dem Inhaber der Hausgewalt abgekauft wurde. Bereits Stefan der Heilige stellte diesbezüglich Schranken auf: der Hausvater sollte die Wittwe oder die von ihrem Gatten treulos verlassene Frau nicht zur Eingehung einer zweiten Ehe zwingen, d. h. nicht verkaufen dürfen.N.3.4.21
Die Mitglieder der engeren Familie, die Hausangehörigen, lebten in Vermögensgemeinschaft, die auch nach dem Tode des Hausvaters fortbestehen konnte, falls nämlich die Söhne die Erbteilung unterliessen. Nach aussen vertritt der Hausvater die häusliche Vermögensgemeinschaft;N.3.4.22 doch wird der Anspruch der Gattin und der Kinder auf das Hausvermögen auch zu Lebzeiten des Hausvaters geschützt, wie aus den strafrechtlichen [Seite 336] Bestimmungen betreffend die Vermögenseinziehung hervorgeht. Wird das Vermögen wegen eines Verbrechens des Hausvaters eingezogen, so gebürt der Gattin und den Kindern ein Drittel des Hausvermögens.N.3.4.23 Im Falle eines Verbrechens der Frau ist der Hausvater verpflichtet, das Frauengut auszufolgen.N.3.4.24 Die Frau und die Kinder treten nach dem Tode des Hausvaters anfänglich nicht kraft eines Erbrechts, sondern kraft der Vermögensgemeinschaft in den Genuss des Hausvermögens. Dadurch erklärt sich die Bestimmung Stefans des Heiligen, wonach der Wittwe, ferner der treulos verlassenen Frau an dem Vermögen des Gatten lebenslänglich, bezw. bis zur Eingehung einer neuen Ehe der Niessbrauch zusteht.N.3.4.25
Der hausväterlichen Gewalt sind ausser den unmündigen auch die in der Hausgemeinschaft verbliebenen mündigen Kinder unterworfen. Die Emancipation von der väterlichen Gewalt, der Erwerb der Eigenrechtlichkeit erfolgt einzig vermittelst der Gründung eines besonderen Haushaltes, der Abschichtung vom Hausvermögen. Solange keine Aufteilung stattgefunden hat, herrscht der Vater im Vermögen; andererseits haften der Vater und die unabgeteilten Hausgenossen bezw. Brüder sowol in privat-, als in strafrechtlicher Beziehung wechselseitig für einander.N.3.4.26 Die Wirkungen der hausväterlichen Gewalt zeigten sich besonders im Strafrecht. Die Ausschliessung aus der nationalen Rechtsgemeinschaft, die Friedlosigkeit ergriff ursprünglich auch die Hausgenossen, die Frau und Kinder. Ladislaus der Heilige milderte das alte Recht, indem er sogar bei dem schwersten Verbrechen, dem Diebstahl, die strafrechtliche Haftung auf die Kinder über zehn Jahren beschränkte.N.3.4.27 Nach dem Decret König Kálmáns durften gar nur die Kinder des Diebes, die ihr fünfzehntes Jahr überschritten hatten, verkauft werden.N.3.4.28 Art. XXV: 1231 hob endlich die Criminalhaftung der Familienmitglieder bei [Seite 337] Diebstahl gänzlichN.3.4.29 auf. Das s. g. slavonische Statut von 1273 bestimmt hinsichtlich der Vermögensstrafen (Einziehung der Güter, Bussen), dass weder der Vater von wegen des abgeschichteten Sohnes oder umgekehrt, noch die abgeteilten Brüder für einander bestraft werden können; es ergibt sich hieraus, dass diese Vermögensnachteile die in Vermögensgemeinschaft lebenden Hausgenossen unterschiedlos betrafen.N.3.4.30
Trotz einzelner Überbleibsel des alten strengen Rechts, büsst die Hausgewalt mehr und mehr ihre einstige Machtvollkommenheit ein. Die Frau und die Kinder gelangen allmälig zu grösserer Selbständigkeit und eigenen Vermögensrechten. Neben das Princip der Vermögensgemeinschaft drängt sich das individuelle Eigentum; und neben dem ererbten Vermögen gewinnt das erworbene Gut, worüber der Hausvater nach jeder Richtung frei verfügen darf, stetig wachsende Bedeutung.
Die unmündigen Kinder gelangen nach dem Tode des Vaters unter die vormundschaftliche Gewalt des nächsten männlichen Geschlechtsgenossen. Der Vormund kann über das Vermögen des Mündels nicht frei verfügen ; und auch wenn er einen Teil des Erbes ausdrücklich zu dem Zwecke veräussert, um eine auf demselben lastende Schuld zu tilgen, z. B. die Wittumsforderung der Mutter zu befriedigen, darf das Mündel nach erreichter Mündigkeit die Veräusserung rückgängig machen.N.3.4.31 [Seite 338]
Literatur: Endlicher, Gesetze des Heiligen Stefan S. 66 ff.Békefi, A rabszolgaság Magyarszágon [Die Sklaverei in Ungarn] 1901.
Nur die Freien sind Rechtssubjecte, d. i. mit Rechtsfähigkeit ausgestattete Personen. Die Freiheit ist die unerlässliche Bedingung der Rechtsfähigkeit; die Sklaven sind keine Rechtssubjecte, sondern Objecte des Rechtsverkehrs; sie können weder Rechte erwerben, noch Rechtsgeschäfte schliessen. Die bedingungsweise Freigelassenen (libertini, ung. torló) sind wol rechtsfähig, doch ist ihre Handlungsfähigkeit eine beschränkte, wie die der unter hausväterlicher Gewalt stehenden Freien.
Das alte ungarische Recht unterschied betreff der Handlungsfähigkeit zwei Alter: das handlungsfähige und handlungsunfähige Alter. Die Quellen bezeichnen das handlungsfähige Alter als gesetzliches Alter, legitima aetas oder Mannesalter, virilis aetas,N.3.2.2.1 ohne aber das Jahr anzugeben, mit dessen Vollendung es beginnt. Es kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass die strafrechtliche Haftung mit dem handlungsfähigen Alter begann, und wir können daher die Handlungsfähigkeit zur Zeit Ladislaus des Heiligen an das vollendete zehnte, zu Kálmáns Zeit an das fünfzehnte Jahr knüpfen.N.3.2.2.2 Es stimmt das mit dem Rechte der westeuropäischen Völker überein; bereits in den germanischen Volksrechten beginnt die Handlungsfähigkeit mit dem 12. oder 14. oder 15. Jahre.N.3.2.2.3
Das erreichte Alter der Handlungsfähigkeit bewirkt bloss bei jenen Jünglingen die volle Selbständigkeit (Eigenrechtlichkeit), deren Vater verstorben ist und die bis zur Mündigkeit unter der Vormundschaft eines Geschlechtsgenossen standen. Die unter väterlicher Gewalt stehenden Söhne hingegen werden infolge des Princips der häuslichen Vermögensgemeinschaft [Seite 339] erst mit dem Austritt aus dem Vaterhause und der Gründung eines besonderen Herdes rechtlich selbständig.3.2.2.4
Die Frauen bleiben anfänglich auch nach erreichtem gesetzlichem Alter unter der Hausgewalt des Vaters oder des nächsten männlichen Verwandten. Noch zu Werbőczis Zeiten erlangen die Frauen erst durch die Heirat die Eigenrechtlichkeit und können dann die erzwungenen Verträge widerrufen.3.2.2.5 Die Geschlechtsvormundschaft über die Frauen schwächt sich übrigens im Laufe der Zeiten immer mehr ab und der Kreis der Rechtsgeschäfte und Handlungen, die von den Frauen selbständig vorgenommen werden können, erweitert sich. Das tritt besonders im Recht der Eheschliessung und im ehelichen Güterrecht zu tage. Der Inhaber der Hausgewalt darf die Frau nicht mehr wider ihren Willen verkaufen, d. h. zur Ehe zwingen; sie kann nach ihrem eigenen Willen eine Ehe eingehen, doch steht dem Inhaber der Hausgewalt das Recht des Einspruchs zu. Die Frau kann nach Auflösung der Ehe über ihr Wittum frei verfügen, desgleichen über ihr Mädchenerbe (quartalitium) und das unter welchem Titel immer erworbene Sondergut. Sie kann auch mit königlichen Schenkungen ausgestattet werden und darüber kraft königlichen Privilegs frei schalten;3.2.2.6 als die Grundherrschaft zur Ausbildung gelangt, üben sie die Jurisdiction über ihre Hintersassen durch Amtleute (s. g. Hofrichter) aus.3.2.2.7 [Seite 340]
Die Sklaverei setzt sich durch die Geburt fort. Die Kinder eines Sklaven sind ebenfalls Sklaven. Daher war es den Freien bei Strafe des Verlusts der eigenen Freiheit verboten, eine Sklavin zu ehelichen.3.2.2.8 Die freie Frau hingegen, die einen Sklaven heiratete, behielt ihre persönliche Freiheit, doch folgten die Kinder dem Stande des Vaters.3.2.2.9 Wenn der Sklave sich betrügerischer Weise für frei ausgegeben hatte, konnte der Vater oder die anderen nächsten Verwandten der freien Frau die Ehe als connubium indignum anfechten.3.2.2.10 Der andere wichtige Entstehungsgrund der Sklaverei war die Verknechtung. Der zur Sklaverei Verurteilte gieng in der Regel auch seiner Familie und seines Vermögens verlustig: seine Frau und Kinder wurden gleichfalls als Sklaven verkauft, seine Güter und Fahrhabe zu gunsten der königlichen Schatzkammer eingezogen.3.2.2.11 Das spätere Recht kennt ausser der ständigen Sklaverei einen vorübergehenden Knechtschaftszustand: den Freiheitsverlust für gewisse Zeit, die Verpfändung der Freiheit. Wenn der zur Bussezahlung Verpflichtete seiner Verpflichtung nicht nachkommen mochte, gab der Richter ihn und seine Familie so lange zu Pfand (vadium) in die Gewalt des Verletzten, bis jemand die Busse an des Verpflichteten Statt bezahlte.3.2.2.12 Ebenso konnte der Inhaber der Hausgewalt die seiner Gewalt untergebenen Hausgenossen für eine Zeit an Zahlungsstatt verknechten.3.2.2.13 Der Sklave durfte nur mit Einwilligung des Herrn Zeugnis ablegen und eine Ehe eingehen. Der Herr kann seinen Sklaven die Ehe mit fremden Sklaven oder Freien untersagen und bloss Heiraten untereinander zulassen.3.2.2.14 Die Sklaverei endete durch Freilassung. [Seite 341] Vollkommene Rechtsfähigkeit gab jedoch nur die unbedingte Freilassung, in welchem Falle der Sklave das Gut seines früheren Herrn frei verlassen durfte.3.2.2.15 Der bedingt Freigelassene (libertus, libertinus) gewann nur eine beschränkte Rechtsfähigkeit und verblieb gewissermassen in der Gewalt des Herrn.
Der heutige Begriff der Staatsbürgerschaft war dem Mittelalter unbekannt. Die Bedingungen des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit waren nicht festgesetzt, noch die Rechtsfolgen, die sich an die staatsbürgerliche Qualität knüpften. Wer sich im Lande dauernd niederliess, wurde Staatsbürger.
Die Fremden (Ausländer) sind nach der Rechtsauffassung des Mittelalters vom Rechtsschutze ausgeschlossen und daher rechtsunfähig. Ebenso wie in den westeuropäischen Staaten,3.2.2.16 ist auch in Ungarn von Anbeginn der König der Schutzherr der Fremden. Diese Anschauung von den königlichen Pflichten findet sich bereits in den Ermahnungen Stefans des Heiligen an seinen Sohn Emerich.3.2.2.17 Aus späterer Zeit bezeugen besonders die Verordnungen König Kálmáns, dass das Königtum den Fremden besonderen Schutz und Gunst zuwendete und die Niederlassung der fremden Gäste (hospites), wie sie in den Quellen allgemein bezeichnet werden, zu fördern trachtete.3.2.2.18 Wir haben gesehen, dass die Entwicklung des städtischen Lebens von den Gemeinden der hospites ausgieng.
Die Einwanderung und Ansiedelung geschah zumeist in Massen und wurde die Rechtstellung der Ansiedler mittelst collectiver Privilegien geregelt. Doch gab es auch höhergestellte fremde Edelleute und Ritter in beträchtlicher Zahl, wie uns [Seite 342] Kézai berichtet,3.2.2.19 die einzeln oder höchstens in kleineren Scharen hereinkamen. Sie erhielten gewöhnlich vom König Land geschenkt und genossen so dieselben Rechte, wie die Abkömmlinge der alten Geschlechter.3.2.2.20 Trotz der günstigen Aufnahme, welche die Fremden in Ungarn fanden, gab es dennoch einzelne Beschränkungen der Fremden, die allerdings vorwiegend öffentlich- rechtlicher Natur waren, doch auch die privatrechtliche Rechtsfähigkeit berührten. Art. XI der Goldenen Bulle machte die Verleihung hoher königlicher Ämter von der Zustimmung des Reichstages abhängig ;3.2.2.21 Art. XXVI verbietet königliche Schenkungen an Fremde, die ihnen bisher geschenkten oder von ihnen durch Kauf erstandenen Besitzungen sollen die Landesbewohner an sich ziehen dürfen.3.2.2.22 Das war eine empfindliche Beschränkung der Fremden hinsichtlich des Eigentumerwerbs; sie verschwand jedoch, sobald der Fremde erklärte, dass er sich im Lande niederlassen und hier wohnen wolle,3.2.2.23 denn es sind uns aus dieser Zeit keine besonderen Bedingungen des Erwerbs der Staatsangehörigkeit bekannt.
Ähnlichen Bestrebungen begegnen wir in den Städten. Es bildet einen ständigen Punkt der Stadtprivilegien, dass städtische Grundstücke oder Häuser nur dann an Fremde veräussert werden dürfen, wenn diese gewillt sind sich dauernd in der Stadt niederzulassen.3.2.2.24 Ja auch die auf Burgland oder Königsgut oder auf den Gütern privater Grundherren in Feldgemeinschaft lebenden nicht-adeligen Freien widersetzen sich der Ansiedelung von Fremden in ihrer Mitte und suchen dergleichen "Hergelaufene" [Seite 343] (extorres) von dem Genusse des gemeinschaftlichen Grundbesitzes auszuschliessen.3.2.2.25
Die Staatsangehörigkeit und der Adel konnten (ausser mittelst königlicher Besitzschenkung) simultan dadurch erworben werden, dass ein adeliges Geschlecht mit königlicher Erlaubnis einen Fremden in ihren Schoss aufnahm.3.2.2.26
Literatur: Julius Kováts, A házasságkötés Magyarországon [Die Eheschliessung in Ungarn] 1883. Baron Erwin Roszner, Régi magyar házas- sági jog [Das alte ungarische Eherecht] 1887. — Aus der reichen Literatur über das germanische und kanonische Eherecht seien hervorgehoben : Friedberg, Das Recht der Eheschliessung in seiner geschichtl. Entwicklung 1865; Verlobung und Trauung 1876. Sohm, Das Recht der Eheschliessung 1875; Trauung und Verlobung 1876. Dargun, Mutterrecht und Raubehe 1883. Post, Entwicklungsgeschichte des Familienrechts 1890. Esmein, Le mariage en droit canonique 1891. Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts 1893. Brissand, Mariage par achat 1900.
Die vergleichende Rechtsgeschichte zeigt als die beiden ältesten Formen der Eheschliessung den Frauenraub und den Frauenkauf. Wie die beiden Formen bei den einzelnen Völkern sich entwickelten und welches ihr Verhältnis war, lässt sich mangels historischer Daten nicht immer genau feststellen.
Es steht nunmehr unzweifelhaft fest, dass nach dem ältesten ungarischen Recht die Eheschliessung in der Form des Kaufgeschäftes vor sich gieng.3.2.3.1 Vor einigen Jahren ist uns ein hierauf bezüglicher höchstwichtiger Bericht zugänglich geworden : die Mitteilungen des persischen Schriftstellers Gurdêzi, die ein sicherlich viel klareres und ausführlicheres Bild des ungarischen Eheschliessungsrechts entwerfen, als es die Schilderung der germanischen Ehe bei Tacitus ist.3.2.3.2
Gurdêzis Bericht lautet folgendermassen : "Die Ungarn [Seite 344] haben den Gebrauch, dass sie, wenn sie sich verehelichen, Waren (Kaufpreis) bringen. Nach der Beschaffenheit der Frau und ihrem Vermögen an Rindern, können die Waren (der Kaufpreis) mehr oder weniger betragen; sie werden vor dem Zelte aufgestapelt. Der Vater des Mädchens führt hierauf den Vater des Bräutigams in sein Haus und zeigt ihm alles, was er an Wiesel-, Marder-, Eichhorn-, Zobel-, Fuchsfellen und Seidenstoffen besitzt, im Werte von zehn Pelzgewändern; das wickelt er dann in einen Teppich und packt es auf das Pferd, das dem Vater des Bräutigams gehört, und begleitet diesen heim. Dann werden die Waren (Kaufpreis), die in Rindern, Geld und Hausrat bestehen, zusammengezählt. Alles dies wird dem Bräutigam übersendet. Nach dem das geschehen, führt man das Mädchen in das Haus" (nämlich des Bräutigams, bezw. seines Vaters).3.2.3.3
Hier haben wir also das Recht der Eheschliessung, wie es die ursprüngliche Rechtsgewohnheit des ungarischen Volkes ausbildete, vor uns. Dem Vater oder demjenigen, unter dessen Hausgewalt sie steht, wird für die Frau ein Kaufpreis angeboten. Das Angebot macht in der Regel der Vater des Bräutigams, denn dieser ist infolge des Princips der häuslichen Vermögensgemeinschaft zumeist noch rechtlich unselbständig und verfügt nicht über eigenes Vermögen. Ein eigenes Vermögen erlangt er erst durch die Gründung des besonderen Herdes und Familienstandes, indem er sich vom Vater abschichtet. Die Höhe des Kaufpreises ist von seiten des Rechts nicht festgesetzt, sondern richtet sich nach dem Vermögen der Frau. Wenn der Vater der Frau den Kaufpreis für genügend erachtet, zeigt er dem Vater des Bräutigams sein Vermögen, besonders was er der Tochter als Ausstattung mitzugeben gewillt ist; das letztere hat, so scheint es, bei den vornehmen Ungarn den Wert von zehn Pelzgewändern und wird vom Vater des Bräutigams allsogleich [Seite 345] mitgenommen. Dann schätzt der Vater der Frau die als Kaufpreis gegebenen Waren ab und bringt sie nebst der Frau in das Haus des Bräutigams.
Wir sehen: der Bräutigam kauft die Braut von dem Inhaber der hausväterlichen Gewalt, dem Muntwalt (um einen deutschrechtlichen Ausdruck zu gebrauchen); doch gibt dieser dem Bräutigam mit der Frau den Kaufpreis zurück, damit er zur Sicherstellung der Frau diene. Gurdêzi drückt dies so aus, dass die Gegenstände, woraus der Kaufpreis besteht, gezählt (geschätzt) werden müssen.
Gurdêzis vollkommen zuverlässiger Bericht3.2.3.4 wird durch die Ausdrücke der ungarischen Sprache vollauf bestätigt. Bisher war es eben einzig die Sprache, die Anhaltspunkte bot für die Meinung, dass nach altem ungarischen Recht die Ehe in der Form des Kaufgeschäftes geschlossen wurde. Man erklärte auch bisher mittelst der Annahme des Frauenkaufes die Bezeichnung des Nupturienten als völegény, ursprünglich vevölégeny, s. v. w. kaufender Geselle, derjenigen, die von Seite des Bräutigams bei der Trauungsceremonie mitwirken als vöfelek, (vevöfelek) s. v. w. kaufende Partei,3.2.3.5 des heiratsfähigen Mädchens als eladó leány, d. h. verkäufliches Mädchen, der Braut als ara3.2.3.6 s. v. w. verkauft (vergleiche ár, Preis; árú, Ware).
Der ehebegründende Kaufvertrag erscheint in Gurdêzis Bericht als ein Bargeschäft, indem der Leistung des Käufers, der Zahlung des Kaufpreises, die Übergabe der Ware, die Geleitung der Braut in das Haus des Bräutigams, unmittelbar nachfolgt. Aber bereits Gurdêzis Bericht lässt ahnen, was in der späteren Rechtsentwicklung bei den Ungarn, ebenso wie bei den germanischen Völkern, klar zu Tage tritt: dass die Eheschliessung aus zwei Rechtsgeschäften besteht; das eine ist [Seite 346] die eigentliche Eheschliessung, das Zustandekommen des Kaufgeschäfts mittelst Zahlung des Kaufpreises; das zweite ist die Erfüllung des zustandegekommenen Kaufvertrags seitens des Verkäufers: die Hingabe der gekauften Braut an den Mann, die Geleitung in das Haus des Bräutigams (in den westeuropäischen Rechten und später auch in Ungarn traditio puellae genannt). Daher meldet Gardezi: "Nachdem das geschehen (d. h. nachdem der Kaufvertrag abgeschlossen ist), führt man das Mädchen in das Haus".3.2.3.7
Nach dem Übertritt des ungarischen Volkes zum Christentum, fassten allmälig auch die kirchlichen Lehren über die Ehe feste Wurzeln in Ungarn, was umso leichter war, als die Ehe bei den Ungarn, sowol nach dem Berichte Gurdêzis, als der Chroniken,3.2.3.8 eine monogame war. Das angestammte Recht der Eheschliessung musste bald den christlichen Lehren weichen. Nach der Lehre der Kirche ist die Ehe ein Sacrament, die auf göttliches Gebot gegründete innigste Verbindung von Mann und Weib, die nur durch wechselseitige Einwilligung der Beiden Zustandekommen kann: consensus facit nuptias. Diese Lehre stand in scharfem Widerspruche zu dem Kaufvertragscharakter, der dem alten ungarischen (und germanischen) Recht der Eheschliessung zu grunde lag; denn nach der Lehre der Kirche ist es nicht mehr der Inhaber der Hausgewalt, der den Ehevertrag schliesst, sondern die Braut, die verkauft wird, selbst. Die Ehe ist ein Consensualvertrag; es bedarf zu deren Giltigkeit bloss des übereinstimmenden Willens der Nupturienten.
Es gelang der Kirche weder in den germanischen Staaten, noch in Ungarn, ihre Lehre allsogleich gegen das althergebrachte Recht und die alten Ehegebräuche durchzusetzen. Dem widerstand die Macht des Familienrechts, das dem Hausvater betreff der Eheschliessungen auch ferner wesentlichen Einfluss sicherte. Wol verliert die Eheschliessung den Charakter des Kaufvertrags. Der Hausvater darf die seiner Gewalt [Seite 347] untergebene Frau nicht mehr als sein Eigentum nach freiem Willen verkaufen, denn das Schwergewicht der Eheschliessung ruht nun in der Einwilligung der Frau; doch muss die Frau vom Hausvater gefreit werden, sein Wort fällt gleichfalls mit entscheidendem Gewicht in die Wagschale und kann seine Zustimmung nicht entbehrt oder umgangen werden. Das bezeugen die Verordnungen Stefans des Heiligen. Die Wittwe, desgleichen die verlassene Frau kann nicht mehr zur Eingehung einer neuen Ehe gezwungen werden;3.2.3.9 doch muss andererseits der Frauenräuber auch dann büssen, wenn er die Verwandten des Mädchens versöhnt hat.3.2.3.10 Das Königtum lässt derart der Hausgewalt und dem daraus fliessenden Einwilligungsrecht des Hausvaters kräftigen Schutz angedeihen.
Der Bräutigam zahlt keinen Kaufpreis mehr; der Kaufpreis verwandelt sich in das Wittum, d. i. das Vermögen, das der Frau vom Manne oder für den Mann verordnet wird; bereits nach dem Berichte Gurdêzis wurde ja der Kaufpreis zu Händen des Bräutigams zurückerstattet, um nach Auflösung der Ehe die wirtschaftliche Existenz der Frau sicherzustellen. An die Stelle des Kaufpreises tritt die arrha, das Aufgeld oder Handgeld, als Symbol des einstigen Kaufpreises, das sich allmälig zum Brautgeschenk oder Verlobungsring umgestaltet und nun gleichfalls der Frau gehört.3.2.3.11 Es zeigt die Macht des alten Rechts, dass der Volksgebrauch, obwol die Kirche keinerlei Form für die Eheschliessung vorschrieb, dennoch gewisse Formen anwendete; namentlich das Wechseln der Ringe, das Verlöbnis und die Trauung.3.2.3.12 [Seite 348]
Infolge der Sacramentalität und der weittragenden Bedeutung der Ehe für das ganze Leben forderte die Kirche, dass die Ehegatten bevor sie das eheliche Zusammenleben begönnen, sich in die Kirche begeben und Gottes Segen erflehen sollten. Die kirchliche Einsegnung (benedictio) ist die älteste Form der Mitwirkung der Kirche bei der Eheschliessung; sie fand anfänglich aus Anlass der Hingabe der Braut, der traditio puellae statt. Später, als unter dem Einfluss der Kirche die Ehe zu einem Consensualvertrag geworden war und die Parteien die Ehe mittelst wechselseitiger Einwilligung schlossen, trachtete die Kirche, dass die eheliche Willenserklärung (consensus nuptialis) "im Angesicht der Kirche" (in facie vel in conspectu ecclesiae) geschähe, damit die Legitimität und Ehelichkeit des Zusammenlebens im Streitfalle leichter erwiesen und die Ehe vom Concubinat unterschieden werden könne. Es gelang der Kirche das ganze Mittelalter hindurch nicht, dieser Forderung Anerkennung zu verschaffen; erst das Tridentiner Concil (1545—1563) schrieb die kirchliche Form der Eheschliessung (die Erklärung des Consenses vor dem zuständigen Pfarrer und zweien Zeugen) unter Strafe der Nichtigkeit obligatorisch vor. Bis dahin begnügte sich die Kirche damit, dass der erfolgte eheliche Consens in irgend welcher Form nachgewiesen werde; doch wünschte sie stets, dass die Gatten vor dem Beginn des Zusammenlebens in die Kirche gehen, die Messe hören und den priesterlichen Segen empfangen sollten. Ein Resultat dieser Bestrebung der Kirche ist eine wichtige Bestimmung des unter König Kálmán abgehaltenen zweiten Concils, welche für die Eheschliessung die kirchliche Form vorschreibt, wenn auch nicht ganz mit der rechtlichen Wirkung, die fast fünf Jahrhunderte darnach das Tridentinum seinem Gebote beilegte. Der Concilbeschluss3.2.3.13 lautet folgendermassen: "Die heilige Synode beschloss, dass [Seite 349] alle Eheschliessungen angesichts der Kirche, in Gegenwart eines Priesters vor geeigneten Zeugen mit Hingabe eines Zeichens als Handgeld, durch den übereinstimmenden Willen der Parteien vor sich gehen sollen, sonst werden sie nicht für Ehen, sondern für Werke der Unzucht erachtet werden".
Diese Bestimmung bezeichnet eine wichtige Fortbildung des alten ungarischen Rechts unter der Einwirkung der kirchlichen Lehren. Das Wesen der Eheschliessung beruht nun in dem übereinstimmenden Willen der Nupturienten, der nach dem Wunsche der Kirche behufs bequemeren Nachweises in Gegenwart des Priesters und geeigneter Zeugen geäussert werden soll.3.2.3.14 Doch das genügt an sich noch nicht; es bedarf zudem der Überreichung irgend eines als Handgeld fungierenden Gegenstandes (signum subarrhationis), der den Kaufpreis von einst vertritt. Die Ehe ist kein Kaufvertrag, kein Realvertrag mehr, sondern ein Consensualvertrag, den die zukünftigen Ehegatten selbst schliessen. Aber sie ist noch kein reiner Consensualvertrag. Das signum subarrhationis, d. i. das Zeichen der Handgeldleistung, nämlich der Ring ist ein Überbleibsel des älteren Rechts, das an den ursprünglichen Kaufvertragscharakter der Eheschliessung erinnert; an die Stelle des Kaufpreises tritt das Handgeld (arrha), das durch den Ring dargestellt wird, und die Perfection des Ehevertrags zu äusserlichen Ausdrucke bringt.
Von dem sacramentalen Charakter der Ehe ausgehend, brachte die Kirche auch in Ungarn (ebenso wie in den Staaten des Westens) die Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit in Ehesachen an sich.3.2.3.15 Die Kirche bestimmt die Voraussetzungen der Eheschliessung und setzt die Ehehindernisse fest, so das unreife Alter, Zwang, Blutsverwandtschaft, Schwägerschaft, cognatio spiritualis, Weihe, Verbrechen, Glaubensunterschied. In den königlichen Decreten finden sich hierüber nur vereinzelte Bestimmungen, die den Geboten der Kirche Geltung verschaffen sollen. [Seite 350]
Die Ehe ist nach der Lehre der Kirche ein unauflösbarer Bund fürs Leben. Das Princip der Unauflösbarkeit vermochte in Ungarn nur allmälig Wurzel zu fassen. Stefan der Heilige gestatte noch der Frau3.2.3.16, die ihr Gatte treulos verlassen hatte, eine neue Ehe einzugehen; der Mann hingegen, falls er nach eingegangener neuer Ehe seiner verlassenen Gattin heimkehrte, sollte sich bloss mit Einwilligung des Bischofs von neuem verehelichen dürfen. Während der Regierung König Kálmáns nahm das s. g. I. Concil zu Esztergom noch den Standpunkt ein, dass die Ehe wegen treulosen Verlassens und Ehebruchs aufgelöst werden könne, ja dass die Frau, die der Gatte ungerechter Weise des Ehebruchs zeihe, einen andern heiraten dürfe.3.2.3.17 Bereits das II. Concil sprach jedoch die Unauflösbarkeit der Ehe aus: Quod Deus coniunxit, homo non separet, und trachtete das Princip mit Strenge durchzuführen.3.2.3.18
Um die Schliessung ungiltiger Ehen zu verhindern, schrieb die Kirche die Eheaufgebote vor; doch machte die Unterlassung des Aufgebots die Ehe allein nicht ungiltig.3.2.3.19
Die rechtliche Wirkung der Ehe äusserte sich zunächst darin, dass die Frau in die Hausgewalt, genauer: die eheherrliche Gewalt des Gatten gegeben wurde, die anfänglich eine eben so unbeschränkte Gewalt war, als die des Hausvaters über seine Kinder.3.2.4.1 Ein Überbleibsel dieses alten Rechts ist, dass den Gatten noch das Decret König Ladislaus des Heiligen ermächtigte, die auf Ehebruch ertappte Frau zu tödten. Falls er sie jedoch unschuldiger Weise getödtet hatte, musste er den Verwandten [Seite 351] der Frau büssen;3.2.4.2 dies zeigt, dass sein Züchtigungsrecht nur noch ein beschränktes war. Die Frau wurde ursprünglich, ebenso wie die Kinder, für das Verbrechen des Gatten (bezw. Vaters) als Sklavin verkauft; wol milderte sich die strafrechtliche Haftung im Laufe der Zeit, doch war sie noch im XIII. Jahrhundert nicht ganz verschwunden.3.2.4.3 Wenn die Frau das Heim verliess, hatte der Gatte das Recht sie in jedem Falle zurückzufordern.3.2.4.4 Andererseits durfte aber auch der Gatte die Ehegemeinschaft nicht willkürlich auflösen; falls er dies tat und "aus Abscheu vor seinem Weibe" ins Ausland floh oder sich freiwillig in die Knechtschaft begab, gieng sein gesammtes Vermögen in den Besitz und Nutzniessung der verlassenen Frau über und verblieb ihr bis zur Eingehung einer neuen Ehe,3.2.4.5 was wie wir oben gesehen haben, noch das I. Concil unter König Kálmán gestattete.3.2.4.6 Allmälig erlangt die Frau ein grösseres Mass von Selbständigkeit gegenüber dem Manne. Die eheherrliche Gewalt streift im Laufe der Zeiten ihren Herrschaftscharakter ab und verwandelt sich mehr und mehr in eine Schutzgewalt, die berufen ist die Interessen der Frau zu wahren. Der Gatte ist der Gerichtsvormund der Frau; hat die Frau eine Missetat verübt, ist der Gatte verpflichtet die von ihr verwirkte Busse zu zahlen, oder sie — z. B. bei Diebstahl — aus der angedrohten Sklaverei zu lösen.3.2.4.7
Für unsere Kenntniss des ältesten ehelichen Güterrechts der Ungarn ist desgleichen Gurdêzis Bericht die wertvollste Quelle.
Wir ersehen daraus, dass der für die Frau gegebene ursprüngliche Kaufpreis bereits zu der Zeit, aus welcher der Bericht stammt, sich in eine dos im Sinne des Mittelalters, in ein der Frau zugewendetes Vermögen verwandelte, das in diesem Stadium der Entwicklung zugleich das Äquivalent des von der Frau als Ausstattung eingebrachten Vermögens bildete. [Seite 352]
Bei dem im alten ungarischen Recht herrschenden Geschlechtersystem und dem Princip der häuslichen Vermögensgemeinschaft, wonach einerseits der Grundbesitz bloss den männlichen Mitgliedern der Sippe gehört und andererseits die Verwaltung des Hausvermögens auschliesslich dem Hausvater zusteht, hat die Dotierung der Frau seitens des Gatten keine andere Bedeutung, als dass die Frau vermittelst derselben in die häusliche Vermögensgemeinschaft eintritt, die nun ihre wirtschaftliche Existenz sichert und ihr Versorgung bietet, nicht nur bei Lebzeiten des Mannes, sondern auch im Wittwenstande. Daher kann der Bericht Gurdêzis, dass man die als Kaufpreis gegebenen Gegenstände: Rinder, Geld und Hausrat, zählen (schätzen) müsse, nicht so verstanden werden, als ob die Frau im Falle der Auflösung der Ehe nur auf jene Fahrhabe Anspruch hätte, — denn jene Sachen können ja während der längeren Dauer der Ehe zugrunde gehen; sondern die Frau nimmt auf grund der Dotation an der häuslichen Vermögensgemeinschaft am Genusse des Hausvermögens teil, solange ihr Gatte lebt, und auch nach dessen Tode bis zur Eingehung einer neuen Ehe, in welchem Falle ihr aus dem Hausvermögen eine entsprechende Ausstattung als dos namens des verstorbenen Gatten, ausgefolgt werden muss.3.2.4.8
Dieses Entwicklungsstadium des ehelichen Güterrechts spiegelt sich in der merkwürdigen Verordnung Stefans des Heiligen wieder, welche noch durchaus auf dem Boden der häuslichen Vermögensgemeinschaft steht und deren volles Verständnis uns erst der Bericht Gurdêzis vermittelt hat. Die Frau, die durch die Dotation seitens des Mannes in die häusliche Vermögensgemeinschaft eintrat, bleibt — zufolge des Decrets Stefan des Heiligen3.2.4.9 — nach dem früheren Ableben des Gatten [Seite 353] mit ihren Kindern im Hausvermögen sitzen; nicht zu Gnadenbrod, sondern zu gemeinsamem und gleichem Besitz- und Nutzniessungsrecht mit den Kindern, und niemand darf die Wittwe daraus ausschliessen, noch sie zu einer neuen Heirat zwingen. Wenn sie sich von neuem zu verehelichen wünscht, kann sie aus dem Hausvermögen, das das Eigentum der Kinder bildet, nur eine ihrem Rang entsprechende Ausstattung fordern. Ja auch bei unbeerbter Ehe bleibt die Wittwe im Besitze und Niessbrauch des gesammten Vermögens bis an ihr Lebensende; nach ihrem Tode fällt dies gemeinsame Hausvermögen, worin sich auch die Aussteuer der Frau befindet, an die Mitglieder der Sippe des Mannes, in Ermangelung solcher Verwandten an den König. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Bestimmung Stefans des Heiligen das Princip der Hausvermögensgemeinschaft im Auge hat: alles, was die Frau an Aussteuer einbringt und was ihr der Gatte als Gegenwert zuwendet, ist ein Bestandteil des Vermögens des Mannes, und fällt nach dem Tode der Frau an die Kinder, bei unbeerbter Ehe an den Mann oder an dessen Sippe, und hat die Frau kein Verfügungsrecht darüber.
Das Decret Ladislaus des Heiligen zeigt uns bereits eine Abschwächung der häuslichen Vermögensgemeinschaft und die Sonderstellung des Frauengutes innerhalb des Hausvermögens. Wenn eine verheiratete Frau einen Diebstahl begeht, kann der Gatte sie nicht mehr lösen, wie zur Zeit Stefans des Heiligen, sondern sie wird verkauft, und der Gatte muss das der Frau gehörige Vermögen, "womit sie nach dem Tode des Mannes eine neue Ehe hätte eingehen können", ausfolgen; hat eine Wittwe einen Diebstahl verübt, so wird ihr Anteil von dem Vermögen der Söhne gesondert und eingezogen.3.2.4.10 Die Herrschaft der Hausvermögensgemeinschaft wird also allmälig gebrochen und die Frau kann nun im Falle der Auflösung der Ehe sowol das Eingebrachte, als die vom Manne gewährte Dotation als [Seite 354] ihr Eigentum beanspruchen. Der Wittwe gebürt nicht bloss der Mitbesitz und die Nutzniessung des gemeinsamen Hausvermögens, sondern sie gewinnt einen Anspruch auf besondere Versorgung und Abfertigung aus dem Vermögen des Gatten, bis zur Höhe des ehemaligen Kaufpreises.
Das Vermögen, das solcherart der Frau aus dem Vermögen des Mannes gebürt, ist die dos im Sinne des Mittelalters, (das Wittum der deutschen Rechte), ungarisch hitbér, d. h. Treulohn genannt, obwol sie in ihrem Ursprunge keine Beziehung auf die eheliche Treue besitzt. Die Frau kann die dos kraft des gesetzlichen Ehebundes auf grund des Landesgewohnheitsrechts selbst bei mangelnder vorheriger Vereinbarung fordern.3.2.4.11 Die dos, welche der Frau unmittelbar auf grund des Gewohnheitsrechts gebürt, bezeichnen wir als dos legitima, gesetzlichen Treulohn im Gegensatz zum geschriebenen, zur dos scripta, die der Gatte der Frau inter vivos oder durch eine Verfügung von Todes wegen sichert.3.2.4.12 Die Höhe der gesetzlichen dos richtete sich — wie einst der für die Frau gegebene Kaufpreis — nach den Vermögensverhältnissen der Gatten. Weder die Landesgewohnheit, noch die königlichen Decrete stellten diesbezüglich irgend ein Normativ auf und wir stossen daher in den Urkunden auf die verschiedentlichsten Beträge.3.2.4.13 Die Goldene Bulle und das Decret von 1231 gewähren der Frau den Anspruch auf die dos auch in dem Falle, dass der Gatte zum Tode verurteilt würde oder im gerichtlichem Zweikampf fiele.3.2.4.14 Die dos lastet auf dem gesammten Vermögen des Mannes: sowol auf dem Erbgute, als dem Erwerbe. Die [Seite 355] Frau, bezw. deren Verwandten konnten die dos erst nach Auflösung der Ehe von dem Manne, bezw. den Verwandten des Mannes fordern,3.2.4.15 sofern nicht die Frau, was sehr häufig vorkam, die Forderung ihrem Gatten oder dessen Erben erlassen hatte (relaxatio dotis).3.2.4.16 Zur Befriedigung des Dotalanspruchs konnten sowol Fahrnis, als liegendes Gut gegeben werden. Im letzteren Falle stand den Geschlechtsgenossen des Gatten das Recht zu, das als dos überlassene Erbe gegen Zahlung des wahren Werts an sich zu ziehen.3.2.4.17 Die Wittwe blieb im Vermögen des verstorbenen Gatten sitzen, solange sie nicht hinsichtlich ihrer Dotalforderung und anderer vermögensrechtlicher Ansprüche vollauf befriedigt wurde. Dies ius retinendi hat seine rechtshistorische Grundlage darin, dass die dos das Äquivalent des frühere Beisitz- und Nutzniessungsrechts war, das einst der Wittwe kraft des Princips der Hausvermögensgemeinschaft an der gesammten Habe und dem Gute des Mannes zustand.3.2.4.18
Nach dem Bericht Gurdêzis brachte die Frau gewisse Vermögensgegenstände — im Durchschnittswerte von zehn Pelzgewändern — in das Haus des Mannes ein. Es ist das die früheste Spur der Aussteuer, welche das Decret Stefans des Heiligen als congrua vestimenta, die späteren Quellen als res allatae, res deductae, res secum adductae u.s.w. bezeichnen. Die Aussteuer (später technisch allatura uxorea genannt) bestand in der Regel aus weiblichen Kleidungs- und Hausratgegenständen, [Seite 356] doch enthielt sie häufig nach dem Masse des Wolstandes der Braut auch andere Fahrhabe.3.2.4.19
Die Aussteuer wurde vom Vater oder dem sonstigen Muntwalt der Frau (dem einst der Kaufpreis gehörte) gegeben. Solange der Geschlechts(Sippe-)verband auf dem Gebiete des Besitzrechts in voller Blüte stand, hatten die Frauen überhaupt kein Erbrecht am Hausvermögen. Die Töchter können, solange sie unverheiratet sind, Versorgung d. i. den Mitgenuss des gemeinsamen Hausvermögens beanspruchen, was die spätere Terminologie als Jungfrauenrecht (ius capillare) bezeichnete;3.2.4.20 wenn sie heiraten, gebürt ihnen eine standesgemässe Aussteuer aus dem Erbvermögen.3.2.4.21 Die Aussteuer ist von Anbeginn eine auf dem Erbgut lastende Forderung der weiblichen Abkömmlinge der Sippe, die daher gegen die männlichen Mitglieder des Geschlechts als die Erben des Geschlechtsvermögens geltend gemacht wird. Hierin glauben wir den Ursprung des s. g. Mädchenerbes (quarta, quartalitium) zu finden, das betreff der Erbgüter bereits die Goldene Bulle den Töchtern gewährte, falls keine Söhne vorhanden wären,3.2.4.22 und das die spätere Rechtsentwicklung auf den Donationalbesitz ausdehnte.3.2.4.23 Daher sagen die Quellen, dass die quarta den Frauen "kraft natürlichen Rechts" gebüre.3.2.4.24 Die Richtigkeit unserer Annahme bezeugen die zahlreichen Verfügungen, wonach den Töchtern, falls sie nach Ableben des Vaters kein Viertteil erhielten, von den Erben Versorgung und Aussteuer gewährt werden soll.3.2.4.25 Die Herrschaft dieses Rechtssatzes bekundet auch das letzte Decret König Sigismunds: den Töchtern soll nach der Rechtsgewohnheit des Landes bis zu ihrer Verheiratung ein Viertteil des väterlichen Hauses und des väterlichen Grundbesitzes abgeschichtet und anlässlich ihrer Verheiratung und Aussteuerung in Geld abgelöst werden.3.2.4.26 [Seite 357]
Während des Bestandes der Ehe bilden die zur Aussteuer gehörigen Gegenstände, soferne sie nicht für den auschliesslichen Gebrauch der Frau bestimmt sind, eine Gütermasse mit dem Vermögen des Mannes, die der Gatte verwaltet. Doch lastet darauf die Restitutionspflicht. Nach der Auflösung der Ehe ist der überlebende Gatte, bezw. die Verwandtschaft des Verstorbenen verpflichtet, die Aussteuer den Verwandten der verstorbenen Frau, bezw. der Wittwe herauszugeben, und zwar was davon noch vorhanden ist, in natura, das Verbrauchte in entsprechendem Geldeswert.3.2.4.27 Die Frau darf über die zur Aussteuer gehörigen Gegenstände als ihr Eigentum, von Todes wegen frei verfügen, da ja der Gatte keinen Anspruch daran hat; in Ermangelung einer letztwilligen Verfügung fällt die Aussteuer an die gesetzlichen Erben der Frau.3.2.4.28
Es war allgemeiner Brauch, dass die Braut anlässlich der Eheschliessung vom Bräutigam, den Eltern und Verwandten beschenkt wurde. Die Quellen nennen diese Geschenke, zumeist weibliche Gebrauchsgegenstände, res paraphernales, wir können sie als Brautgeschenke bezeichnen. Das Brautgeschenk stimmt hinsichtlich seiner rechtlichen Natur mit der Aussteuer überein; darum werden die Brautgeschenke häufig gleich der allatura als res secum delatae, res adductae bezeichnet, und muss andererseits oft unter res paraphernales oder sponsalia nebst den Brautgeschenken auch die Aussteuer und überhaupt sämmtliche Vermögensgegenstände verstanden werden, welche die Frau anlässlich ihrer Verheiratung in das Haus ihres Gatten einbrachte.3.2.4.29
Ausser der Aussteuer und den Brautgeschenken konnte die Frau noch anderes Sondergut besitzen, nämlich was sie während der Ehe, doch ohne Bezug auf diese, durch königliche Schenkung, Erbschaft, Kauf, Tausch oder aus anderen Geschäften [Seite 358] erwarb. Über dieses Vermögen durfte sie bereits während der Ehe frei verfügen und erstreckte sich die Restitutionspflicht des überlebenden Gatten, bezw. der Erben des Verstorbenen natürlich auch auf dies Frauengut.3.2.4.30
Literatur: Endlicher a. a. O. S. 131 ff. Villányi, Györmegye és város anyagi müveltségtörténete [Materielle Kulturgeschichte des Comitats und der Stadt Györ] 1881. Wenzel, Magyarország mezögazdaságának története [Geschichte der Landwirtschaft in Ungarn] 1887. Tagányi, A földközösség története Magyarországon. Magyar Gazdaságtörténeti Szemle [Geschichte der Feldgemeinschaft in Ungarn. Ungarns Wirtschaftgeschichtliche Rundschau] Jg. 1894 S. 233 ff. Siehe ferner die S. 74 angeführten allgemeinen wirtschafthistorischen Werke.
Wir haben gesehen, dass die ungarische Besitzverfassung des Urstaates auf dem Geschlechtsverbande beruhte. Die Besitznahme der den einzelnen Stämmen zugeteilten Gebiete fand nach Geschlechtern statt. Der Anteil der einzelnen Geschlechter, das von uns s. g. Geschlechtsland, descensus, ung. szállás bildete das Eigentum des Geschlechts und wurde von den Geschlechtsgenossen in nomadischer Feldgemeinschaft bewirtschaftet. Die Familienhäupter, die Vorsteher der einzelnen Hausgemeinschaften nützten das Kulturland sowol, als die Wiesen, Weide- und Waldland in gemeinsamer Weise.
Der Fortschritt der Kultur und die wachsende Intensität des Ackerbaus bewirkte vermöge der ständigen Benützung und Bebauung gewisser Landteile, die Auflösung der grossen Geschlechtslager in kleinere Gemeinschaften unter den Familienvorstehern, d. i. die Entstehung von Familien- und schliesslich Eigenbesitz.
Stefan der Heilige bestätigte die Entwicklung, die sich in dem seit der Landnahme verflossenen Jahrhundert vollzogen hatte, indem er das private Grundeigentum sowol am Geschlechtslande, als betreff der Schenkungsgüter sicherte.
Die Ausscheidung des Eigenbesitzes aus dem gemeinsamen Geschlechtslande beschränkte sich ursprünglich auf das Ackerland [Seite 359] (terra araturae, terra arabilis),3.2.5.1 das teils von den Sklaven, teils von der im Lande angetroffenen und unterjochten Bevölkerung bestellt wurde.3.2.5.2 Als ältestes Landmass zur Bestimmung des Umfangs eines privaten Grundbesitzes erscheint daher das aratrum, ungarisch eke, d. i. Pflug, worunter wir anfänglich ein Grundstück verstehen müssen, das ein Pflug für die Herbst und Frühjahrssaat beackern kann: quantum potest laborare unum aratrum.3.2.5.3 Später verwandelt sich das aratrum in ein fixes Flächenmass, das jedoch in den verschiedenen Teilen des Landes nicht die gleiche Ausdehnung hat und im XIII. Jahrhundert 100 — 120 — 130 — 150 iugera, d. i. Joch beträgt. Laut der Mitteilung Werbőczis wurde ein Königspflug (aratrum regale), das gewöhnliche Landmass für adelige Güter, zu 150 Joch gerechnet.3.2.5.4
Zufolge der auf uns gekommenen Urkunden wurde sowol der aus dem Geschlechtslande hervorgegangene, als der Donationalbesitz das ganze Mittelalter hindurch nach Pflügen gemessen: terra ad unum aratrum, ad duo, tria, quatuor aratra. Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit, dass eben das mit dem Pfluge bewirtschaftete Land den wichtigsten Bestandteil des Eigenbesitzes [Seite 360] bildete. Man betrachtet bloss das Ackerland als im Privateigentum befindlich; der andere Grund und Boden, Wiesen, Moor-, Wald- und Weideland, das zumeist im Überflusse vorhanden ist, steht als Pertinenz des Ackerlandes noch im Gemeinbesitze der Gemeindegenossen. Die Urkunden setzen in der Regel, nachdem sie die Ausdehnung des Grundbesitzes in Pflügen angegeben haben, hinzu, dass zu dem Grundstücke noch Wiesen, Wald und Weide gehören und was sonst zum menschlichen Gebrauch notwendig sei.3.2.5.5 Allmälig erfolgte jedoch auch hinsichtlich dieser lange gemeinsam besessenen Gebietsteile: der Wiesen, des Moor-, Wald- und Weidelandes, der gemeinen Gewässer und Mühlen, die Aufteilung und Grenzscheidung und erhielt sich der Gemeinbesitz bloss im Kreise der Kleinbegüterten bis in die neueste Zeit.3.2.5.6
Mit dem privaten Grundeigentum entstehen die Besitzgrenzen.3.2.5.7 Als solche dienen entsprechend den natürlichen Bodenverhältnissen Flüsse, Bäche, Seen, Sümpfe, Wälder, Höhen und Strassen.3.2.5.8 Doch gibt es auch künstliche Grenzzeichen: besonders künstlich errichtete Hügel, Gräben, Steine, mit gewissen Zeichen (zumeist dem Kreuzeszeichen) gemerkte Bäume.3.2.5.9 Von genauen Landmessungen ist natürlich noch nicht die Rede; sogar die Ausdehnung eines Grundstückes in Aratren wird häufig nach dem Augenmass oder nach Bogenweiten angegeben. Die Festsetzung [Seite 361] der Grenzen geschah aus Anlass der Schenkung oder späterer Grenzverletzung, mit königlicher Autorität, durch den Pristald des Königs oder späterhin des Palatins, unter Mitwirkung des Vertreters eines beglaubigten Ortes (locus credibilis).3.2.5.10
Das aus der Aufteilung des ursprünglichen Geschlechtslandes hervorgegangene freie Grundeigentum ist das Geschlechtsgut, lateinisch descensus, ungarisch szállás genannt. Beide Benennungen bezeichnen also zweierlei: erstens den in Gemeinbesitz befindlichen Gebietsanteil eines Geschlechts im Zeitalter der Urverfassung; zweitens den hieraus hervorgegangenen Eigenbesitz, welchen die Abkömmlinge der alten Geschlechter kraft des Rechts der Teilnahme am Gemeinbesitz des Geschlechts, iure descensuali innehaben, das seinerseits auf die Beteiligung an der nationalen Gemeinfreiheit zurückgeht und so das stärkste Fundament des Privateigentums ist.3.2.5.11 Das Recht des Geschlechts am descensus sicherte die Freiheit und Unabhängigkeit des Eigenbesitzes gegen jeden ausserhalb des Geschlechtsverbandes Stehenden, und bewirkte, dass der freie oder adelige Grundbesitz in Ungarn keinen feudalen Charakter annahm.
Zugleich mit dem durch Aufteilung der Geschlechtsländereien entstandenen Geschlechtsgut entstand die zweite Kategorie des freien Privateigentums, das Schenkungsgut (Donationalbesitz), dessen Rechtsbasis das Königsrecht (ius regium) war.
Infolge der Errichtung der Monarchie gieng — wie oben3.2.5.12 ausführlich dargestellt worden ist — das Obereigentum am Staatsgebiete von der Nationalversammlung auf den König über, der kraft des obersten Eigentumsrechts über alle ausserhalb der Geschlechtsländereien befindlichen Gebietsteile frei verfügen konnte. Dieses Verfügungsrecht des Königs, das ius regium ist zum Teil öffentlich-rechtlicher, zum Teil privat-rechtlicher Natur. [Seite 362] Kraft öffentlich-rechtlichen Titels fallen die Burgländereien, das erblose und herrenlose Gut, ferner die im Wege des Strafvollzugs eingezogenen Güter unter das Königsrecht; auf grund des privaten Rechts die Patrimonialbesitzungen der königlichen Familie. Da jedoch zwischen der öffentlich- und privatrechtlichen Persönlichkeit des Königs kein Unterschied gemacht wurde, traten die beiden verschiedenen Grundlagen des Königsrechts bei den Besitzverleihungen nicht hervor. Der König schenkt sowol Burgländereien und herrenloses Gut, als Land von seinen Familiengütern, ohne dass hinsichtlich der Form oder des rechtlichen Gehalts der Verleihung irgendwelche Unterschiede sich ausgebildet hätten.3.2.5.13
Stefan der Heilige stellte die von ihm verliehenen Schenkungsgüter dem aus den Geschlechtsländereien hervorgegangenen freien Grundbesitz völlig gleich.3.2.5.14 Das zeigt, dass er das Schenkungsrecht als Ausfluss der öffentlichen Gewalt betrachtete, die der König im Interesse der Nation, zum Besten des Landes auszuüben gehalten ist; er ist daher nicht befugt, von den Beschenkten besondere Treue und Dienste zu fordern, noch ihrem Verfügungsrechte über das Schenkungsgut besondere Schranken zu setzen. Andererseits sicherte er auch am Geschlechtsgut das Königsrecht bei Treulosigkeit, ferner für den Fall des Abgangs des Geschlechts und unterwarf somit das Geschlechtsgut denselben Rechtsnormen, als das Schenkungsgut. Wir können also füglich Stefan den Heiligen als den Begründer des freien adeligen Besitzrechts ansprechen. [Seite 363]
Die vollkommene Gleichstellung des Geschlechtsgutes und des Schenkungsgutes währte nur bis zu König Kálmáns Zeiten. Kálmán führte hinsichtlich der Schenkungsgüter nach dem Beispiel des deutschen Lehnrechts, die Linealerbfolge ein, d. h. er schloss die Seitenverwandten, die Sippegenossen, von der Succession aus und beschränkte das Erbfolgerecht auf die Mitglieder des engeren Familienkreises, die männlichen Descendenten, falls keine vorhanden wären, auf den Bruder und kraft Eintrittsrechts auf dessen Söhne. Bloss betreff der von Stefan dem Heiligen verliehenen Schenkungen sollte das Erbrecht der Geschlechtsmitglieder ungeschmälert fort bestehen.3.2.5.15 Damit kam vom Standpunkte des privaten Rechts eine wichtige Verschiedenheit der rechtlichen Natur der beiden zustande: das Königsrecht wirkt seither kräftiger im Schenkungsgut, als im Geschlechtsgut. Von dem hier einsetzenden Kampfe des Geschlechtsprincips und des Königsrechts wird unten bei der Darstellung des Erbrechts ausführlich die Rede sein.
Das öffentlich-rechtliche Fundament des Donationalsystems wurde jedoch durch die Einführung der Linealerbfolge und die daraus fliessende engere Abhängigkeit vom Königtum nicht beseitigt. Die Schenkungsgüter verwandelten sich nicht in Lehngüter. Das in der Nation lebendige Bewusstsein dessen, dass das ursprüngliche freie Besitzrecht der Lohn öffentlicher Verdienste, der Mitwirkung bei der Landnahme sei, blieb auch nach Kálmáns Zeiten herrschend, ja befestigte sich im Laufe des XIII. Jahrhunderts mehr und mehr. Das königliche Schenkungsrecht wurde nicht als private Machtbefugnis des Königs, sondern als ein Bestandteil der öffentlichen Gewalt aufgefasst, die dem Könige als dem souverainen Oberhaupt des Staates zusteht. Eben darum ist das Schenkungsgut, ebenso wie das Geschlechtsgut die Belohnung öffentlicher Verdienste (laurea virtutis), die keine anderen, als die aus dem öffentlichen Verbände fliessenden öffentlichen Pflichten nach sich zieht und keinerlei lehnähnliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem König und dem Donatar begründet. Der König darf von seinem Schenkungsrecht nur zum gemeinen Besten Gebrauch machen. Im XIII. Jahrhundert ist es ein allgemein anerkannter Rechtssatz, dass bloss jene Schenkungen rechtskräftig und unwiderruflich [Seite 364] seien, welcher der Beschenkte iusto servitio — wie es in der Goldenen Bulle heisst3.2.5.16 — erworben habe. Hingegen waren die Schenkungen an Fremde (Ausländer) schlechthin verboten und konnte die verliehenen Güter jeder den Landesbewohner an sich ziehen werden;3.2.5.17 andererseits durfte der König die überflüssigen und dem Lande zu Schaden gereichenden Schenkungen jederzeit widerrufen. König Béla IV. erklärt wiederholt, dass er "mit dem gemeinen Rate der Barone und des ganzen Landes beschlossen habe, die überflüssigen und unnützen Schenkungen einiger Vorgänger zu widerrufen."3.2.5.18 Die Herrschaft desselben öffentlich-rechtlichen Princips bekundet das Decret von 1290: diejenigen Schenkungen Ladislaus IV., welche den Angehörigen der gegen die Tartaren Gefallenen zugewendet wurden, bleiben in voller Kraft; die "ungebürlichen und unrichtigen" hingegen werden widerrufen.3.2.5.19 Die öffentlich-rechtliche Auffassung des Schenkungsrecht zeigt sich ferner darin, dass die Donationalbriefe bei grösseren Schenkungen die im Rate anwesenden geistlichen und weltlichen Herren namentlich nennen, und dass Art. XXIII: 1298 die Ausübung des Schenkungsrechts an die Zustimmung des königlichen Rates knüpfte.3.2.5.20
Das Königsrecht am Grundbesitz erscheint bereits zu Ende der Periode gewöhnlich unter der Benennung des Rechts der Krone, als Recht der den ungarischen Staat repräsentierenden Heiligen Krone, welcher die Besitzungen zum Schaden und Nachteil des Landes nicht entzogen werden dürfen.3.2.5.21 Im [Seite 365] Zeitalter der auf dem Begriff der Heiligen Krone beruhenden Staatsverfassung ist es ein in der Heiligen Krone wurzelndes Recht, das die beiden verschiedenen Grundlagen des freien Grundbesitzes, das Volksrecht (Geschlechtsrecht) und das Königsrecht in sich verschmilzt.
Literatur: Michael Hirsch, De donatione regia 1780. Ignaz Bärenkopf, De dominio nobilium Hungariae 1790. Stefan Horváth, Magyarország gyökeres régi nemzetségeirôl [Die alten Geschlechter Ungarns] 1820. Ignaz Frank, De donatione regia 1823. Emerich Krajner, A magyar nemes jószág természete [Die rechtliche Natur des ungarischen Adelsgutes] 1843. Gustav Wenzel, Artikel Adomány [Schenkung] in Magyar Encyclopaedia I
Die aus dem ersten Jahrhundert des Königtums erhaltenen wenig zahlreichen Schenkungsbriefe lauten zugunsten der Kirche.n.3.2.6.1 Sie verliehen volles Eigentum, das die rechtliche Natur des Geschlechtgutes hatte.n.3.2.6.2 Die Vergabungen an die Kirche nahmen jedoch bald den rechtlichen Charakter der kirchlichen Fundationen an: sie wurden zu Kirchengütern und standen unter der Herrschaft mehrfach abweichender Rechtsregeln.n.3.2.6.3
Die Entstehung des Schenkungsgutes, als einer hinsichtlich ihrer rechtlichen Natur vom Geschlechtsgutes verschiedenen Kategorie des freien Grundbesitzes fällt, wie wir eben gesehen haben, in die Regierungszeit König Kálmáns.
Die eigentliche Bedeutung des Donationalsystems beginnt mit Ende des XII. Jahrhunderts. Seit König Andreas II. war die [Seite 366] Inanspruchnahme des Schenkungswesens wahrhaftig ein Gouvernementsprincip.n.3.2.6.4
Unter königlicher Schenkung (donatio regis) verstehen wir die erbliche und unwiderrufliche Verleihung eines in Königsrecht befindlichen Grundstückes oder an ein Grundstück geknüpfter Rechte durch den König, als den Inhaber der öffentlichen Gewalt, zur Belohnung öffentlicher Verdienste.
Das Schenkungsgut unterscheidet sich also vom Lehngute (feudum) des Westens erstens durch die öffentlich-rechtliche Grundlage, zweitens durch die Erblichkeit und Unwiderruflichkeit der Verleihung. Auf dem Schenkungsgute lastet daher in der Regel keine besondere Verpflichtung; andererseits hob weder der Tod des Verleihers (des Königs), noch des Empfängers (des Donatars) die rechtliche Wirkung der Schenkung auf, sondern das verliehene Gut blieb ohne jedwede Erneuerung im Besitze des Donatars und gieng dann ipso iure auf dessen männliche Nachkommen über.
Die Schenkung konnte auf das Ersuchen (petitio) oder die Verwendung (interventio) Einzelner,n.3.2.6.5 oder aber aus eigener Initiative des Königs stattfinden. Gegenstand der Schenkung konnten stets nur solche Grundstücke oder mit einem bestimmten Grundstück verbundene Rechte sein, die sich unter der unmittelbaren Verfügung des Königs, in Königsrecht befanden. Daher musste vor der Schenkung stets ins Reine gebracht werden, ob der fragliche Grundbesitz dem Königsrecht unterstehe, ferner welches die Grenzen und die Teile des Gutes seien?n.3.2.6.6 Falls diesbezüglich Zweifel auftauchten, entsendete der König einen Boten (homo regius) an Ort und Stelle, der dort eine Untersuchung einleitete und in Gegenwart und nach Anhörung der Nachbarn und Grenzleute (vicini et commetanei) die [Seite 367] Grenzen des Gutes und das königliche Recht am Grundstücke festsetzte.n.3.2.6.7 Ja zur grösseren Sicherheit, damit niemand hinterher einen Anspruch auf das Gut erheben könne, wurde es allmälig zum ständigen Rechtsbrauch, den Donatar feierlich in den Besitz einzuweisen, was die Urkunden als statutio oder introductio bezeichnen. Die Besitzeinweisung nahm der Königsbote anfänglich allein vor, — auch wurde zu dieser Zeit gewöhnlich ein hoher königlicher Beamter damit betraut —, später zufolge der Bestimmung des Art. XXI: 1231 zusammen mit dem Vertreter (homo capitularis oder conventualis) des hierzu vom Könige aufgeforderten beglaubigten Ortes (Kapitels oder Convents). Die Statution geschah mit Wahrung der grösstmöglichsten Öffentlichkeit, in Gegenwart der Nachbarn und Grenzleute. Der Königs- und Kapitelsbote blieben behufs Entgegennahme der etwa gegen die Statution erhobenen Einsprüche einige Zeit, späterhin in der Regel fünfzehn Tage, auf dem Gute. Nach Verlauf dieser Frist erstattete das Kapitel (oder Convent) auf grund des Berichts der Boten Meldung an den König.
Eine stets häufiger zur Anwendung gebrachte Art der Schenkung freien Besitzrechts bestand darin, dass der König nicht-adelige Freie, Burgmänner, Burgholden oder königliche udvornici nebst all’ ihrem ererbten und erworbenen Grundbesitz aus der bisherigen Abhängigkeit befreite und in die Reihe der Adeligen des Landes erhob.n.3.2.6.8 Die Aufnahme in den Adelsstand gieng in dergleichen Fällen mittelst der Befreiung des bisher unfreien Besitzes von den darauf ruhenden Lasten vor sich. Der König schenkt keinen neuen Grundbesitz, [Seite 368] sondern verwandelt den unfreien Besitz in einen Grundbesitz zu Adelsrecht, der nun als Schenkungsgut fungiert und sich als solches vererbt.
Die Schenkung erfolgte in der Form eines königlichen Privilegs (Freibriefs) und zwar regelmässig unter dem königlichen Doppelsiegel (sigillum duplex). Es war bestimmt, den rechtmässigen Erwerb des Schenkungsgutes, den Übergang des Königsrechts auf den Besitzer zu bezeugen und zugleich für die Zukunft die Unantastbarkeit der Übertragung zu gewährleisten. Die Schenkungsbriefe weisen anfänglich grössere Verschiedenheiten auf; sie beschränken sich übrigens vornehmlich auf die tatsächliche Festsetzung der Verleihung. Allmälig jedoch wird ihr Rechtsinhalt reicher und einheitlicher, indem darin die Rechtssätze zum Ausdruck gelangen, welche sich bei der Ausübung des Schenkungsrechts in der Königskanzlei entwickelten. Seine vollkommene Ausbildung erreichte das Donationalsystem erst in der nächsten Periode durch die s. g. Aviticitätsgesetzgebung Ludwigs des Grossen.
Die Schenkungsurkunden enthalten bereits im XIII. Jahrhundert regelmässig die folgenden fünf rechtlich bedeutsamen Teile.
1. Der Schenkungstitel (iustum servitium.) Den rechtmässigen Titel der Schenkung bildeten die Verdienste um den König und das Land. Daher werden sowol bei den eigentlichen Schenkungen, als der Erhebung nicht-adeliger Freien in den Adelsstand (der Befreiung unfreier Güter) im Eingange des Donationalbriefes die Verdienste des Empfängers aufgezählt.N.3.2.6.9 Es war dies umso dringender geboten, als seit Anfang des XIII. Jahrhunderts infolge des Misbrauchs, den die Könige mit dem Schenkungsrecht trieben, der Widerruf ungerechtfertigter Schenkungen immer mehr in Gebrauch kam, was bekanntlich Art. XVII der Goldenen Bulle entschieden guthiess.
2. Die nähere Bezeichnung des Königsrechts. Da der König bloss ein solches Gut zu schenken befugt war, das dem Königsrecht unterstand, d. i. sich nicht im Eigentum irgend eines Privaten (oder einer Corporation) befand, wurde in den Schenkungsbriefen, zur Zerstreuung etwaiger Zweifel, stets [Seite 369] erwähnt, aus welchem Rechtsgrunde das betreffende Gut der königlichen Verfügung (ad manus regias, ad collationem regiam) unterstehe: ob es Burgland, wegen Treulosigkeit eingezogenes, als erblos heimgefallenes Gut sei, oder vom König kraft privatrechtlichen Titels erworben wurde oder von altersher der königlichen Familie gehöre.N.3.2.6.10
3. Die Beschreibung der Grenzen des Gutes. Es war gebräuchlich die Grenzen des verliehenen Grundbesitzes im Donationalbriefe genau anzugeben, besonders bei grösseren Schenkungen, ferner, wenn das betreffende Gut überhaupt oder in seiner jetzigen Abgrenzung das erste Mal Gegenstand einer Schenkung bildete. Die ausführliche Feststellung der Grenzen erwies sich als überflüssig, wenn das Gut mit denselben Grenzen bereits früher besessen worden warN.3.2.6.11 oder wenn der König den unfreien Besitz eines nicht-adeligen Freien in einen freien Grundbesitz zu Adelsrecht verwandelte.
4. Die Erwähnung der stattgefundenen Besitzeinweisung. Nach dem Zeugnis der Urkunden wurde der in feierlicher (privilegialiter) Form abgefasste, definitive Schenkungsbrief erst nach erfolgter Statution (introductio in corporalem possessionem) ausgestellt. Und zwar erwähnen die Schenkungsurkunden nicht allein die Tatsache der Statution, sondern teilen auch mit, wer dabei mitwirkte und dass der Statution niemand widersprochen habe (nullo penitus contradicente atque prohibente).
5. Die Klausel (clausula) — genauer: Dispositionsklausel — ist der wichtigste Teil der Schenkungsurkunde. Wir verstehen darunter die Festsetzung dessen, zu welchem Recht und unter welchen Bedingungen das Gut dem Donatar verliehen wird.
Es zeigen sich hierbei auch noch in späterer Zeit sehr wesentliche Abweichungen. Laut der regelmässig angewendeten Klausel schenkt der König das Gut dem Empfänger und durch ihn seinen Erben und den Erbeserben auf immer zu [Seite 370] erblichen Besitz: "... dictam terram dedimus, donavimus et contulimus eidem M. et per eum suis heredibus heredumque suorum successoribus iure perpetuo et irrevocabiliter possidendam".N.3.2.6.12 Diese — häufigste — Klausel gewährte ein erbliches, unwiderrufliches Recht am Schenkungsgut, doch nur den männlichen Nachkommen des Donatars. Hat der Donatar keine männlichen NachkommenN.3.2.6.13 so fällt der Grundbesitz notwendiger Weise an den König heim. Hierin trat der grosse Unterschied zwischen dem Recht des Geschlechtguts und dem des Schenkungsguts zu tage. Manchmal schenkte nun der König ein Grundstück nicht als Schenkungs-, sondern ausdrücklich als Geschlechtsgut,N.3.2.6.14 was soviel bedeutete, dass das verliehene Gut dem gesammten Geschlechte des Donatars verfangen war, nämlich mangels männlicher Leibesnachkommen die Geschlechts-(Sippe-)genossen ebenso erben sollten, als ob es sich um ein Geschlechtsgut handelte. Dasselbe konnte auch ohne ausdrückliche Verleihung des Geschlechtsrechts erzielt werden, indem der König bestimmte, dass mangels Leibeserben das Gut als Erbe an die Sippe des Donatars falle.N.3.2.6.15
Häufig sind die Klauseln, worin mangels männlicher Leibeserben, dem Empfänger das Recht der freien Verfügung gewährt oder das Erbrecht auf die Töchter, bezw. deren Nachkommen ausgedehnt wird.N.3.2.6.16 Letzteres wird späterhin regelmässig in der Weise formuliert, dass der König das Gut dem Donatar und dessen Nachkommen beiderlei Geschlechts (posteritatibus utriusque sexus universis) verleiht.N.3.2.6.17
Die Verleihung geschah in der Regel ohne Auferlegung irgend welcher besonderen vasallitischen Verpflichtung. [Seite 371] Derartige lehenähnliche Gedinge (donatio in feudum) gehören zu den seltenen Ausnahmen und übten daher auf die Entwicklung des Donationalrechts keinerlei wesentlichen Einfluss.N.3.2.6.18
Das durch die Gesetzgebung König Kálmáns in den Schenkungsgütern eingeführte Linealprincip stand in entschiedenem Gegensatz zu den volksrechtlichen Grundlagen des freien Besitzrechts, wonach der Grundbesitz an das Geschlecht gebunden war und in Ermangelung von männlichen Nachkommen auf die entfernteren Mitglieder des Geschlechts, die Seitenverwandten übergieng. Während nun einerseits die Könige bestrebt waren das Linealprincip auch auf die Geschlechtsgüter auszudehnen, so dass mangels männlicher Descendenten jeder freie Grundbesitz an den König heimgefallen wäre, trachtete der Adel das Erbrecht der Geschlechtsgenossen auch betreff der Schenkungsgüter zur Geltung zu bringen, bezw. wiederherzustellen. Die erste Frucht dieses Kampfes war Art. IV der Goldenen Bulle, welcher das Erbrecht der Seitenverwandten (der Geschlechtsgenossen) in den Geschlechtsgütern, gegenüber dem Königsrecht von neuem gewährleistete. Dasselbe enthält Art. IX des Decrets von 1267 hinsichtlich der Schenkungsgüter der im Kriege Gefallenen. Art. XXXII: 1290 stellt für die testamentarische Erbfolge in den Schenkungs- und Geschlechtsgütern dieselben Regeln auf und bereitet somit die Verschmelzung der beiden Besitzkategorien vor, welche in der nächsten Periode vermittelst des Aviticitätsgesetzes erfolgte.
Den Gegensatz des Besitzes zu Geschlechtsrecht und zu Schenkungsrecht vermittelte der Begriff des Erbbesitzes (ius hereditarium). Das Schenkungsgut wird durch Erbgang zum Erbgut (possessio hereditaria); es streift nach der nationalen Anschauung den Schenkungscharakter ab und nimmt die rechtliche Natur des Geschlechtsgutes anN.3.2.6.19: das Königsrecht tritt zurück, [Seite 372] indem die Seitenverwandten erben, und der Besitzer befugt ist über das Gut mit Zustimmung der Geschlechtsgenossen zu verfügen, d. h. selbes zu erblichem Rechte an andere zu übertragen.N.3.2.6.20
Durch Übertragung des freien Besitzrechts (mittelst Kaufs, Tausches, Gabe) entsteht eine neue Kategorie des Erbbesitzes, deren Rechtsgrundlage weder der Erbgang im Geschlechtsgut, noch im Schenkungsgut, sondern die fassio perennalis (ung. örökvallás) ist. Die in rechtmässiger Weise, mit Zustimmung der Geschlechtsgenossen, bezw. bei Schenkungsgut, mit Einwilligung des Königs stattgefundene Perennalfassion gewährte ein dauerndes, unwiderrufliches Besitzrecht; das Gut nahm durch Erbgang die Natur des Erbbesitzes anN.3.2.6.21 und gelangte das Königsrecht erst zur Geltung, wenn kein berechtigtes Mitglied des Geschlechts mehr vorhanden war und der letzte Besitzer keine Verfügung von Todeswegen getroffen hatte.
Schon Stefan der Heilige bezeichnet das Recht am Geschlechts-, sowie am Schenkungsgut als Eigentum, dominium, propria hereditas.N.3.2.7.1 Doch kannte das ungarische Recht des Mittelalters den römisch-rechtlichen Begriff des Eigentums, als der vollkommenen und ausschliesslichen rechtlichen Herrschaft über eine Sache, ebenso wenig, als das Recht der westeuropäischen Staaten, wo dominium, Eigen gleichfalls einfach das liegende Gut, den Grundbesitz bedeutete. Das Moment des freien Verfügungsrechts enthält jedoch der mittelalterliche Eigentumsbegriff nicht: weder inter vivos, noch mortis causa.[Seite 373]
In Ungarn stand dem das Recht des Geschlechts und das Königsrecht hindernd im Wege. Das Geschlechtsgut, desgleichen das Erbgut gehört zum Geschlecht, und kann der Besitzer ohne Zustimmung der Geschlechtsmitglieder darüber nicht verfügen. Im Schenkungsgut setzt das Königsrecht der freien Verfügung Schranken: da das Gut, sofern keine männlichen Descendenten vorhanden sind, an den König heimfällt, kann es nur mit königlichem Consens veräussert werden.
Den Inhalt des Rechts am freien Grundbesitz bildete also das Recht des Besitzes und der Nutzung. Nur dem Eigentümer des freien oder adeligen Grundbesitzes stand das unbeschränkte Besitz- und Nutzungsrecht zu, welches auch das Recht der Jagd, Fischerei und das Mahlrecht begriff. Das bezeichnen die in den Quellen häufig wiederkehrenden Ausdrücke illibata und perpetua possessio.N.3.2.7.2 Mit dem freien Besitzrecht waren häufig durch königliches Privileg gewisse nutzbringende Rechte verbunden, so das Zoll-, Markt- und Bergrecht.
Die grosse Bedeutung des Grundbesitzes im Wirtschaftsleben des Mittelalters einerseits, die Herrschaft des Geschlechtsrechts und des Königsrechts andererseits bewirkte naturgemäss, dass die Veräusserung von Grundbesitz an bestimmte, strenge Formen gebunden war. Die ältesten Formen der Übertragung lassen sich aus den uns erhaltenen Quellen nicht mit Sicherheit feststellen. Wir können nur mutmassen, dass die Übertragung des freien Grundbesitzes auch nach ungarischem Recht mittelst gewisser symbolischer Rechtshandlungen an Ort und Stelle, in Gegenwart von Zeugen vor sich gieng, denen "zum Gedächtnis" Geldstücke oder andere Zeichen gegeben wurden.N.3.2.7.3 Später ward es Brauch eine Urkunde über das Veräusserungsgeschäft auszustellen und zwar wurde die Veräusserung mittelst Übergabe [Seite 374] der Urkunde (traditio cartae) perficiert. Die Schriftlichkeit der Verträge gewann nämlich allmälig auch in Ungarn grössere Verbreitung. Bereits das Judengesetz König Kálmáns schrieb den Gebrauch von cartae oder cartulae für die Kauf- und Darlehengeschäfte zwischen Christen und Juden vorN.3.2.7.4; und die Urkunden des XII. Jahrhunderts zeigen, dass das alte ungarische Recht die dispositive carta in grossem Umfange kannte und anwendete.N.3.2.7.5 Die Partei, die ein Recht überträgt oder constituiert; der Geber, Testator, Verkäufer u. s. w. spricht in eigener Person; und gelangt das Rechtsgeschäft durch Übergabe der Urkunden vor Zeugen zum Abschluss. Das Siegel gehörte anfänglich nicht zum Wesen der carta; wir begegnen noch im XII. Jahrhundert unbesiegelten.N.3.2.7.6 Doch hob das Siegel die Glaubwürdigkeit der carta in grossem Masse,N.3.2.7.7 ganz besonders das Königssiegel; man pflegte darum die Urkunde am Königshofe durch den Notar des Königs schreiben und unter dem Königssiegel ausfertigen zu lassen.N.3.2.7.8 Seit Beginn des XIII. Jahrhunderts wendeten sich jedoch die Parteien mehr und mehr an die näher erreichbaren Kapitel und Convente.
Damit kam die neuere Form der Veräusserung von Grundbesitz zustande: die vor einem beglaubigten Orte (locus credibilis) oder einer glaubwürdigen Person (persona credibilis) [Seite 375] stattfindende Fassion. Die von den beglaubigten Orten, den Kapiteln und Klöstern ausgestellten Urkunden haben nicht mehr die Form der carta; es sind notitiae, worin das Kapitel oder Kloster das vor ihm fatierte Rechtsgeschäft bezeugt.N.3.2.7.9 Die Urkunde enthält nicht mehr die förmliche Disposition der Partei, die ein Recht überträgt (constituiert, erlässt u. s. w.), sondern die Erklärung des Kapitels oder Convents, dass zwischen den erschienenen Parteien ein Rechtsgeschäft (Kauf, Tausch, Gabe, Herausgabe des Quartalitiums, der dos u. s. w.) in rechtsgiltiger Form zustande gekommen sei.N.3.2.7.10 Aber den Fassionalbriefen wohnt trotz ihrer Notitienform, woher sie die Bezeichnung literae testimoniales führen, kraft des authentischen Siegels dieselbe Rechtskraft und rechtliche Wirkung inne, als den dispositiven cartae von früher, indem sie das Rechtsgeschäft nicht bloss bezeugen, sondern auch perficieren und die Anfechtung seitens der Parteien ausschliessen.N.3.2.7.11
In der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts wird bei Liegenschaften der unter authentischem Siegel ausgestellte Fassionalbrief ein notwendiges, constitutives Erfordernis der Giltigkeit des Veräusserungsgeschäfts. Wer sein Gut durch Rechtsgeschäft (Verkauf, Tausch, Gabe) veräussern, d. i. zu erblichem Rechte einem anderen übereignen wollte, erschien mit dem Erwerber vor dem Kapitel oder Convent und erklärte (confessus est) seinen Veräusserungswillen. Bei Kaufgeschäften erfolgte unter einem die Erklärung des Veräusserers, dass er den [Seite 376] Kaufpreis voll oder zum Teil erhalten habe, bezw. die Festsetzung der Modalitäten der Zahlung des Kaufpreises. Wenn ein Erbgut Gegenstand des Veräusserungsgeschäftes war, musste die Fassion in Gegenwart der Verwandten und Nachbarn stattfinden, die vor dem Kapitel (oder Convent) ihre Zustimmung (consensus, assensus) erklärten. Es bedurfte dieser Erklärung aus dem Grunde, da der Besitzer kraft des Geschlechtsrechts weder über das Geschlechtsgut, noch über sonstiges Erbgut ohne Einwilligung der nächsten Erben verfügen konnte. Aus diesem Beispruchsrecht entwickelte sich das Vorkaufsrecht der Verwandten und Erben. Der Veräusserer musste diesen das Erbgut zum Kaufe anbieten, und ihre Zustimmung zur Veräusserung erwirken; denn unterliess er es, so konnten die Verwandten, ja auch die Nachbarn vermöge ihres Vorkaufsrechts die Veräusserung anfechten und das Gut gegen Bezahlung des ordentlichen Schätzungswertes an sich ziehen.N.3.2.7.12 Es war ferner gebräuchlich, dass der Veräusserer gegenüber dem Erwerber die Gewährschaft (evictio) übernahm, d. h. sich verpflichtete, den Erwerber und dessen Nachkommen gegen jedweden Angriff Dritter auf eigene Kosten (propriis laboribus et expensis) im Besitze zu schützen. Die Gewährpflicht pflegte gleichfalls vor dem beglaubigten Orte übernommen zu werden; daher bildet die Übernahme der Gewährschaft einen stereotypen Bestandteil der Fassionalbriefe und begründet eine auf die Erben übergehende Verpflichtung.N.3.2.7.13
[Seite 377] Das erhaltene Urkundenmaterial bezeugt, dass auch die Veräusserung des unfreien (nicht-adeligen) Grundbesitzes mittelst Fassion vor einem beglaubigten Orte vor sich gieng, und dass es dazu, der Zustimmung der Verwandten und Nachbarn, ja soferne es sich um Burgland handelte, auch der Einwilligung des Königs bedurfte.N.3.2.7.14
Das auf grund einer Perennalfassion erworbene Gut bezeichnen die Quellen im allgemeinen als Kaufgut (possessio emptitia), im Gegensatze zum Erbgute (possessio hereditaria) und Schenkungsgute (possessio acquisita)N.3.2.7.15 Über das Kaufgut konnte der Eigentümer völlig frei verfügen; es bestand daran weder ein Recht des Geschlechts, noch irgend ein Königsrecht; denn man betrachtete es als das Äquivalent des dafür bezahlten Kaufschillings oder anderer Fahrhabe, die der freien Verfügung des Eigentümers unterstand. Vom Gesichtspunkte des Privatrechts erscheint das Kaufgut als die reinste, dem römischrechtlichen Eigentumsbegriff am meisten verwandte Form des Grundeigentums, da der Eigentümer seine Sache sowol unter Lebenden, als von Todes wegen vollkommen frei veräussern durfte. Das Kaufgut verwandelte sich jedoch durch Erbgang — wie bereits erwähnt — in ein Erbgut oder Erbe (possessio hereditaria, hereditas), das gleichfalls dem Geschlechtsrecht unterworfen war. Die grosse Bedeutung der Fassion bestand eben darin, dass sie ein erbliches Recht am Gute gewährte, weshalb man bald die Bezeichnung Perennalfassion dafür prägte.N.3.2.7.16 Als Ursache dieser Rechtswirkung wurde je länger, je [Seite 378] mehr das authentische Siegel angesehen, indem der unter einem solchen ausgefertigte Fassionalbrief volle Beweiskraft besass und die darin enthaltenen Tatsachen nicht angefochten werden konnten. So bildete sich allmälig die Auffassung aus, dass ein Grundbesitz unter Privatsiegel überhaupt nicht zu erblichem Eigen übertragen werden könne; und dass ein unter privatem Siegel zustandegekommenes Kaufgeschäft bloss als interimistische Besitzübertragung, als Pfandsetzung betrachtet werden könne, da ein Privatsiegel kein erbliches Besitzrecht zu gewähren vermöge.N.3.2.7.17 Der Kauf wird zum Pfandvertrag. Emptio venditio ad pignus reducitur.N.3.2.7.18
Die Fassion musste aus freiem Willen, ohne Zwang und Furcht geschehen; sonst war sie ungiltig.N.3.2.7.19 In den Fassionalbriefen wird die spontanea voluntas der Parteien häufig ausdrücklich erwähnt. Die Bestätigung der Fassion vermittelst der Besitzeinweisung (introductio, statutio) war bereits im XIII. Jahrhundert Brauch. Die Rechtsgewohnheit erhob die Statution späterhin zur unerlässlichen Ergänzung der Fassion, die binnen Jahresfrist erfolgen musste.N.3.2.7.20 [Seite 379]
Literatur: Nebst der S. 142. 148. 163 und 218 angeführten Literatur besonders Karl Tagányi, A földközösség története Magyarországon (Magyar GazdaságtörténetiSzemle) Jg 1894 S. 233 ff.
Der Grundbesitz der Untertanen und der städtische Grundbesitz entwickelte sich aus der Feldgemeinschaft der Gemeindegenossen auf dieselbe Weise, wie der adelige oder freie Grundbesitz aus der geschlechtsgenossenschaftlichen Feldgemeinschaft.
Die Feldgemeinschaft der Gemeindegenossen wurzelt tief in den Wirtschaftsverhältnissen des Mittelalters. Zur Kultur geeignetes Land gibt es die Fülle, aber nur wer über Arbeitskräfte verfügt, kann es nutzen. Der Reichtum beruht nicht in der Menge des Grundbesitzes, sondern in der Zahl der Arbeiter. Das bezeugen die ältesten Schenkungsurkunden, welche die zu verschiedenen Diensten verpflichteten Hintersassen nicht nur der Zahl nach, sondern auch namentlich aufzählen.N.3.2.8.1
Auf dem Burgland, den königlichen Domänen, auf den Gütern der Kirche und der Privaten sitzen die freien und unfreien Landleute ursprünglich in Feldgemeinschaft neben einander. Zu Beginn der Niederlassung scheiden bloss die Hofstätten (mansus, mansio, sessio) als privates Eigentum aus dem Gemeinbesitz aus; das Ackerland, Weingärten, Wiesen, Wald-, Moor- und Weideland, Fischteiche u. s. w. werden von den Gemeinde- (villa) oder Hof-(praedium)genossen gemeinsam besessen und genutzt.N.3.2.8.2 [Seite 380]
Die Quellen bezeichnen die Verteilung der im Gemeinbesitz befindlichen Fluren unter den Einzelwirtschaften mit den ungarischen Benennungen füvönosztás und fükötél (wörtlich s. v. wie Grasteilung und Grasseil.)N.3.2.8.3 Die Gemeindefluren wurden nämlich mittelst eines Messseiles (funiculus), dessen Länge durch das Herkommen oder sonst bestimmt war, ausgemessen und in die entsprechende Zahl von Parcellen geteilt;N.3.2.8.4 und zwar liess man zwischen den einzelnen Parcellen einen Rasenstreifen von etwa zwei Fuss Breite als Grenzrain unverteilt und ungepflügt; daher die ungarischen Benennungen.N.3.2.8.5 Im übertragenen Sinne bedeutete das Seil, fükötél, das Recht des Anteils am Gemeinbesitz (ius funiculi), vermöge dessen der Berechtigte anlässlich der Verteilung (Verlosung) der Fluren eine gewisse Anzahl in den verschiedenen Gewannen zerstreut liegender Ackerbreiten erhielt, welche in ihrer Gesammtheit sein Los, seine Hufe (ung. nyil, nyilas ursprünglich s. v. wie Pfeil) bildeten.N.3.2.8.6 Die wirtschaftlich selbständigen Mitglieder der Gemeinde, die Hofbesitzer wurden nach ihrem Anteile an der Gemeindeflur als conterranei bezeichnet; der Fremde, der keinen Anteil hatte an der Mark, hiess extorris, "ohne Land".N.3.2.8.7
Königliche Befreiungen einerseits, Schenkungen andererseits hatten die Besitzverhältnisse häufig derart gestaltet, dass [Seite 381] in einer Gemeinde Angehörige verschiedener Stände: Adelige, Burgmänner, udvornici, freie und unfreie Landleute in Feldgemeinschaft vereinigt waren.N.3.2.8.8 Doch ist es besonders der bäuerliche oder Untertanenbesitz, ferner der städtische oder bürgerliche Grundbesitz, der sich auf grund der gemeindegenossenschaftlichen Feldgemeinschaft als Eigenbesitz entwickelt.
Da ursprünglich weder die freien, noch die unfreien Landleute privaten Grundbesitz inne hatten, waren die Leistungen dieser bäuerlichen Hintersassen nicht an das Grundstück, sondern eher an die Untertaneneigenschaft selbst, an das Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Grundherrn gebunden, in der Weise, dass jeder Gemeindeinwohner, sobald er einen selbständigen Haushalt und Hof (mansio, mansus) gründete, das Recht erlangte an dem gemeinsamen Gemeindegut zu participieren, und andererseits verpflichtet war an den Eigentümer des Gemeindegebiets, den Grundherrn gewisse Leistungen und Abgaben zu entrichten. Die Untertanenleistungen waren bis zur Regierungszeit Ludwigs des Grossen landesrechtlich nicht festgesetzt, sondern wurden je nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Grundherrn durch die Rechtsgewohnheit, grundherrliche Privilegien und Verträge umschrieben. Damit erklärt sich die Mannigfaltigkeit der Leistungen in den verschiedenen Gegenden des Landes.N.3.2.8.9 Wenn betreff der herkömmlichen Leistungen ein Streit entstand, so entschied ein vom König entsendeter Richter.N.3.2.8.10
Im allgemeinen wurden vom unfreien Grundbesitz Geld- und Naturalabgaben, ferner Frohnden geleistet. Mit Ausnahme der Burgmänner entrichteten alle, die nicht auf freiem Eigen sassen, irgendeine — meist geringe — Geldsumme an den König, bezw. den Grundherrn. Hierher gehört das Herdrecht (liberi denarii), ferner das terragium, die als ursprünglich doma niale Steuern allmälig auf die Grundherren übergehen.N.3.2.8.11 Die [Seite 382] Naturalleistungen bestimmen sich begreiflicher Weise nach den erzeugten Naturproducten. Die Ackerbautreibenden liefern Getreidefrüchte (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse), Honig, Wachs, ferner eine gewisse Stückzahl der grossen und kleinen Haustiere; die Winzer eine bestimmte Menge Mostes; die Fischer an bestimmten Tagen Fische. Die Frohnden bestehen in landwirtschaftlichen Arbeitsleistungen der Untertanen (Pflügen, Säen, Ernten, Einbringung der Frucht u. s. w.) auf dem eigentlichen Herrn- oder Meiergute, den Frohnländereien.N.3.2.8.12 Doch auch gewerbliche Leistungen ruhen auf dem unfreien Grundbesitz: eine Folgeerscheinung der Unselbständigkeit und untergeordneten Lage des Gewerbes gegenüber der Landwirtschaft. Der Grundherr muss die in Haushalt und Wirtschaftsbetrieb benötigten gewerblichen Gegenstände durch seine eigenen Hintersassen hersteilen lassen. Ein Teil der Untertanen leistet für das zur Nutzung empfangene Grundstück Handwerkerdienste, als Zimmermann, Schmied, Wagner, Gerber u. s. w.N.3.2.8.13
Der Untertan kann das Grundstück, auf welchem er sitzt, da er es nicht zu freiem Eigentum besitzt, nicht veräussern; es steht ihm an dem Grundstück, als dem Eigentum des Grundherrn nur ein beschränktes Recht des Besitzes und der Nutzung zu. Wenn er das Gut des Herrn verlässt, (wozu der freie Untertan nach Erfüllung aller seiner rückständigen Verpflichtungen berechtigt ist), darf er wol seine Verwendungen, namentlich das Haus, das er baute, verkaufen, doch ist es ihm verboten, die Verwendungen zu vernichten oder vom Grundstück zu entfernen.N.3.2.8.14 [Seite 383]
Die Ausbildung der städtischen Freiheit brachte die zweite Kategorie des nicht-adeligen Besitzes: den städtischen oder bürgerlichen Grundbesitz hervor. Anfänglich bestand auch in den städtischen Niederlassungen, ebenso wie in den anderen Gemeinden, die Feldgemeinschaft; ja es kam auch noch später vor, nachdem in den Gemarkungen der Stadt selbst das Privateigentum jeden Rest der Feldgemeinschaft verdrängt hatte, dass die Könige den Städten Land zu gemeinschaftlichem Besitze der Bürger schenkten.N.3.2.8.15
Der städtische oder bürgerliche Grundbesitz ist vermöge seines Ursprungs kein freier Besitz zu Adelsrecht; denn es ruhten darauf gewisse, ursprünglich domaniale Leistungen an die Stadtkasse. Bei unbeerbtem Tode fiel das städtische Grundstück nebst der anderen Habe an die Stadt. Der Bürger durfte, falls keine Leibeserben vorhanden waren, seinen Grundbesitz veräussern, aber in der Regel nur an Bürger oder an solche, die sich in der Stadt niederlassen wollten, damit nämlich auch der neue Besitzer an den städtischen Lasten teilnehme.N.3.2.8.16 Die Veräusserung (desgleichen die Verpfändung) der städtischen Liegenschaften geschah anfänglich gleichfalls vor den beglaubigten Orten, den Kapiteln und Conventen, später durchwegs vor der Stadtbehörde, dem Richter und Rat, zumeist in Gegenwart und mit Zustimmung (consensus) der nächsten Verwandten und unter Übernahme der Gewährschaft.N.3.2.8.17 Die Veräusserung konnte von den Erben und den sonstigen Berechtigten nur binnen Jahr und Tag angefochten werden; denn es bestand in den Städten zu [Seite 384] Recht, dass der rechtmässige Besitzer in Jahr und Tag das Eigentum an der Sache erwerbe, und sich auf keinerlei Anfechtung mehr einzulassen brauche.N.3.2.8.18
Als Mittel des Besitzschutzes diente zunächst die Eigenmacht. Jeder Besitzer, auch derjenige, dessen Besitzrecht zeitlich begrenzt war, z. B. der Pfandbesitzer, durfte die widerrechtliche Störung seines Besitzes mit Gewalt zurückweisen. Das spätere Recht gewährte bei langjährigem Besitz eines Grundstückes dem Dejicierten binnen eines Jahres sogar das Recht der Selbsthilfe, der eigenmächtigen Reoccupation des entzogenen Besitzes.N.3.2.9.1
Das ältere Recht kannte nur eine Klage wegen Entziehung des Besitzes. Wer das Gut eines anderen widerrechtlich in Besitz nahm und dessen im Gericht überführt wurde, musste nach dem Gesetze König Kálmáns ein eben solches Grundstück abtreten und obendrein zehn Pensae büssen.N.3.2.9.2 Urkundliche Nachrichten bezeugen, dass wenn jemand von dem Gute eines anderen mit List oder Gewalt Besitz ergriff, der Dejiciens nicht bloss das Gut nebst allen Nutzungen und Früchten herausgeben musste, sondern dass alle seine Aufwendungen (impensae) auf königlichen Befehl vernichtet, namentlich die von ihm aufgeführten Gebäude niedergerissen oder in Brand gesteckt wurden.N.3.2.9.3 Gegen das Ende der Periode wird die gewaltsame [Seite 385] Besitzstörung und die Entziehung des Besitzes oder der Nutzungen in den Kreis der Gewalttätigkeit (factum oder actus potentiae) einbezogen, und anfänglich mit einer bedeutenden Vermögensstrafe, dem Ersatz des zehnfachen Wertes des occupierten Grundstücks, später gleich den übrigen Fällen der Gewalttätigkeit alternativ mit dem Verlust des Lebens oder des Vermögens bestraft.N.3.2.9.4
Als Beweismittel kamen bei Besitzklagen nach dem Zeugnis des Regestrum de Várad der Eid und das Gottesurteil, später besonders der Inquisitionsbeweis zur Anwendung.N.3.2.9.5
Die Fahrnis genoss nach altungarischem Rechte ebensowenig des Eigentumsschutzes, als nach germanischem Recht. Die reivindicatio des römischen und des modernen Rechts war hinsichtlich der beweglichen Habe dem Mittelalter unbekannt; d. h. dem gutgläubigen Besitzer, der durch rechtmässigen Erwerb in den Besitz der Sache gelangt war, wurde voller Rechtsschutz zuteil, hingegen konnte der rechtmässige Besitzer, bezw. Eigentümer, der den Besitz der Sache verloren hatte, sie nicht von jedem dritten Besitzer, sondern einzig von demjenigen zurückfordern, dem er sie anvertraut hatte; wer die Sache von dem Empfänger erworben hatte, brauchte sie weder dem Eigentümer herauszugeben, noch war er ihm zu Schadenersatz verpflichtet. Die mittelalterliche Fahrnisklage war also keine dingliche (Eigentums-), sondern eine persönliche Klage. Das deutsche Recht drückte diesen Rechtssatz mit den Worten aus: Hand muss Hand wahren.
Ein ausgedehnterer Rechtsschutz wurde dem Eigentümer der Fahrhabe bloss in der Form des Besitzschutzes gewährt. Der Besitzer, dem die Sache wider seinen Willen: durch Diebstahl oder Raub (wahrscheinlich stellte man beiden Handlungen auch die Fundunterschlagung gleich) entwendet wurde, durfte sie nach germanischem und mittelalterlichem Recht mit der Anfangsklage (anefang, in den fränkischen Quellen intertiatio, französisch droit de suite) gegen jeden Dritten in Anspruch [Seite 386] nehmen. Der Anfang war im wesentlichen eine Delictsklage. Der Bestohlene (d. i. dem die Sache abhanden gekommen war) konnte sich mit Verwandten und Nachbarn auf die Suche, die s. g. Spurfolge begeben. Wenn er die gestohlene Sache auf der Spurfolge oder sonst innerhalb drei Tagen in jemandes Besitz fand, durfte er sie allsogleich an sich nehmen; fand er die Sache erst nach Ablauf von drei Tagen, so musste er unter feierlicher Berührung der Sache den Besitzer zur Verantwortung ziehen und vor Gericht laden. Wenn der Besitzer weder ursprünglichen (originären) Erwerb nachzuweisen, noch seinen Gewährsmann, von dem er die Sache erworben hatte, zu stellen vermochte, musste er die Sache dem Kläger herausgeben; falls er sich nicht eidlich von dem Verdacht des Diebstahls reinigte, wurde er obendrein als Dieb bestraft. Wenn der Gewährsmann sich zur Gewährschaft bekannte, musste dieser die Sache gegen Rückerstattung des Kaufpreises an den Besitzer, an sich nehmen, und setzte sich nun das Verfahren auf dieselbe Weise gegen ihn fort.N.3.2.9.6
Eine Gesetzesbestimmung Ladislaus des Heiligen bezeugt, dass das Institut der Spurfolge (investigatio furtivae rei) und demgemäss eine ihrem rechtlichem Gehalt nach dem Anfang verwandte Besitzklage auch in Ungarn bestanden hat. Ladislaus der Heilige bestimmt nämlich, dass wenn den Bestohlenen die Spur seiner abhanden gekommenen Sache in ein Dorf führt, er einen Boten in das Dorf senden und den Inwohnern verbieten dürfe, ihr Vieh auszutreiben, damit die Verfolgung der Diebesspur durch die neuen Spuren nicht vereitelt werde. Wer dem Verbote zuwider handelt, büsst den Wert der verlorenen Sache. Falls jedoch die Bewohner ihr Vieh bereits austrieben, dürfen die Verfolger — der Verlusttragende mit geeigneten Zeugen — jedes Haus im Dorfe frei durchsuchen; die sich der Hausdurchsuchung widersetzen, müssen ihre Unschuld durch das Gottesurteil dartun; werden sie sachfällig, so erleiden sie die Strafe des Diebstahls; aber [Seite 387] auch diejenigen, denen es gelingt, sich zu reinigen, büssen ihre Widersetzlichkeit mit dem halben Wergelde, 55 Pensae.N.3.2.9.7 Dieselben Schlüsse auf das Vorhandensein der Fahrnisklage aus verlorenem Besitz lassen die Bestimmungen Ladislaus des Heiligen und Kálmáns über den Verkauf beweglicher Güter, namentlich die Kaufgeschäfte zwischen Christen und Juden, zu.N.3.2.9.8 Das Verfahren stellt sich uns auf grund dieser Angaben folgendermassen dar. Der Bestohlene begibt sich mit Zeugen auf die Suche; wenn er die Sache bei jemandem auffindet, ist der Besitzer verpflichtet, den rechtmässigen Erwerb nachzuweisen. Das geschieht principiell durch Nennung und Stellung des Gewähren. Falls der Besitzer dies nicht zu erfüllen vermag, so kann er durch Vorlegung der Kaufurkunde und den Eid der gezogenen Zeugen die Rechtmässigkeit des Erwerbs nachweisen und sich von der Anschuldigung des Diebstahls reinigen. Falls jedoch der Beklagte weder seinen Gewährsmann stellen, noch die Kaufurkunde und Zeugen producieren kann, muss er nicht nur die Sache herausgeben, sondern wird auch als Dieb bestraft.N.3.2.9.9 [Seite 388]
Literatur: Benjamin Nánássy, Testamentom a magyarországi törvények szerint [Das Testament nach den ungarischen Gesetzen] 1798. Aloysius Zalay, Néhány szó az örökség és a körülötte teendök felöl [Einige Worte über das Erbrecht und was in dieser Sache zu geschehen hat] 1847. Lorenz Tóth, A magyar örökösödési jog szelleme. (Akad. Értesitö.) [Geist des ungarischen Erbrechts, Jahresberichte der Akademie] 1860—1862. Emerich Zlinszky, A magyar örökösödési jog és az európai jogfejlödés [Das ungarische Erbrecht und die europäische Rechtsentwicklung] 1877. Benjamin Zsögöd, Öröklött és szerzett vagyon [Ererbtes und erworbenes Vermögen]2 1897. Gustav Schwarz, Az ági öröklés kérdése [Die Frage der Linealsuccession] 1898; Ági öröklés és özvegyi jog (Újabb magánjogi fejtegetések) [Linealsuccession und Wittwenrecht, in: Neuere civilistische Untersuchungen] 1901 S. 153 ff.
Im ältesten ungarischen Rechte beruhte das Erbrecht durchaus auf dem Geschlechtsverbande. Erben waren die nächsten Geschlechtsgenossen, deren gesetzlicher Erbanspruch durch keinerlei letztwillige Verfügungen ausgeschlossen werden konnte: die testamentarische Erbfolge war dem ungarischen Recht ursprünglich ebenso unbekannt, als dem germanischen Recht. Die Ursache davon ist einerseits in der Geschlechtsverfassung, andererseits in der Vermögensgemeinschaft der durch den engeren Familienverband verknüpften Hausgenossen zu suchen. Zufolge des ehemaligen Gemeineigentums des Geschlechts gelten die aus dem Geschlechtslande als privates Eigentum der einzelnen Hausväter, bezw. Hausverbände hervorgegangenen Güter auch ferner als Bestandteile des descensus, woran bloss die Geschlechtsgenossen Teil haben, und welche daher bei unbeerbtem Tode des Hausvaters an das Geschlecht heimfallen, d. h. auf die nächsten Mitglieder des Gechlechts übergehen. Andererseits wurde das Erbe als Hausvermögen betrachtet, d. h. als ein Vermögen, das nicht dem Einzelnen (dem Hausvater), sondern den Hausgenossen gehört. Der Haussohn tritt mit dem Tode des Vaters an dessen Stelle hinsichtlich der Verwaltung und Vertretung des Hausvermögens, nicht kraft Erbrechts, sondern auf grund der Vermögensgemeinschaft.N.3.2.10.1
Es erklärt sich aus dem engen Zusammenhänge des ererbten Vermögens mit dem Geschlechtsverbande, dass als sich [Seite 389] allmälig ein eigentliches Erbrecht ausbildete, dieses durchaus auf die männlichen Geschlechtsgenossen (Agnaten, Schwertmagen) beschränkt war, mit völligem Ausschluss der Weiberseite; ferner dass man einen Unterscheid zu machen begann zwischen dem ererbten und dem erworbenen Gut, über welches letztere der Eigentümer von Anbeginn frei verfügen konnte.
Die ersten sicheren Nachrichten über das Erbrecht des Adels stammen aus der Zeit Stefans des Heiligen. Indem er das Privateigentum am Geschlechts- und Schenkungsgut sicherte, setzte er zugleich das Erbrecht fest: die Söhne sollen dem Vater in gleicher Herrschaft folgen.N.3.2.10.2 Es ist in dieser Stelle nur von Söhnen (filii wol allgemein für männliche Leibeserben überhaupt gebraucht) die Rede; die Bestimmung über die Wittwen zeigt, dass mangels Leibeserben das Vermögen auf die nächsten Mitglieder der Sippe übergeht.N.3.2.10.3 Stefan der Heilige gestattete auch, dass der Hausvater seine Fahrhabe noch bei Lebzeiten unter die Hausgenossen teile (auch die Kirche erscheint diesem engeren Erbenkreise zugezählt), und solle diese Aufteilung nach dessen Tode von niemandem angefochten werden können.N.3.2.10.4
Stefan der Heilige unterschied auch hinsichtlich des Erbrechts nicht zwischen Geschlechtsgut und Schenkungsgut. Die Einführung dieses Unterschiedes knüpft sich, wie bereits mehrere Male erwähnt worden, an König Kálmán. Die von Stefan dem Heiligen verliehenen Schenkungen sollen, so bestimmte Kálmán, auf alle nach der allgemeinen Erbfolgeordnung [Seite 390] Berechtigten vererben. Die von den anderen Königen verliehenen Güter sollen vom Vater auf den Sohn, falls keine Söhne vorhanden wären, auf den Bruder übergehen, dessen Söhne auch nach dem Tode des Vaters nicht ausgeschlossen werden dürfen. Falls auch kein Bruder gefunden werde, solle das Erbe dem Könige gehören.N.3.2.10.5 Es ist klar, dass König Kálmán die Erbfolge in den Schenkungsgütern auf den engeren Familienkreis, die Hausgenossen beschränkte; und dem grossen Familienkreise, dem Geschlecht (Sippe) das Königsrecht entgegenhielt. Das Decret Kálmáns führte das Linealprincip in das ungarische Erbrecht ein: dass nämlich die Teilung die gegenseitigen Erbansprüche aufhebe und dass daher mangels männlicher Erben in einem der abgeteilten Zweige, das Gut an den König heimfalle. Das Linealprincip, das König Kálmán dem deutschen Lehnrecht (Teilung bricht Folge) entnahm, stand in strictem Gegensatze zu dem Geschlechtsprincip des alten ungarischen Rechts, wonach die Mitglieder des Geschlechts einen unentziehbaren Anspruch auf das Erbe hatten. Der Sieg des Königsrechts hinsichtlich der Erbfolge in den Schenkungsgütern, und der Kampf des Königtums, dasselbe betreff der Geschlechtsgüter durchzusetzen, bewirkte allmälig, dass man entgegen der altungarischen Auffassung einzig in den männlichen Descendenten Noterben sah, deren Vorhandensein sowol Verfügungen unter Lebenden, als von Todes wegen ausschloss: in den Urkunden und Decreten des XIII. Jahrhunderts werden ausschliesslich die männlichen Nachkommen als heredes bezeichnet.N.3.2.10.6
Seit König Kálmán ringen das Geschlechtsprincip und das Princip des Königsrechts miteinander um die Herrschaft im Liegenschaftsrecht. Die Folgen dieses erst durch das s. g. Avi- ticitätsgesetz Ludwigs des Grossen beigelegten Kampfes sind die Schwankungen und mangelnde Einheit des Erbrechts der Árpádenzeit.
Das erste Ergebnis dieses Kampfes ist Artikel IV der Goldenen Bulle, der in den Geschlechtsgütern und den diesen rechtlich parificierten sonstigen Erbgütern gegenüber dem königsrechtlichen Linealprincip das Geschlechtsrecht gewährleistete. [Seite 391] "Wenn ein Adeliger, so heisst es in dem Gesetze, ohne Söhne verstirbt, sollen die Töchter den vierten Teil des Gutes erhalten; über das Übrige, möge er nach seinem Willen verfügen. Falls ihn der Tod ereilt, bevor er über das Gut verfügte, sollen es die Verwandten, die ihm zunächst stehen, empfangen; so er überhaupt keine Geschlechtsgenossen hätte, empfängt es der König."N.3.2.10.7 Die erste Regel ist auch hier, wie zufolge der Bestimmung Stefans des Heiligen, dass der Sohn dem Vater folge. Und zwar erscheinen eben nur die männlichen Nachkommen als Noterben, deren Erbanspruch durch keine letztwillige Verfügung umgangen werden darf. Daher gilt als zweite Regel, dass der Adelige in Ermangelung von männlichen Leibeserben über seine Güter mit Ausschluss der den Töchtern gehörenden Quarta (quarta puellae, quartalitium) frei verfügen dürfe. Die dritte Regel, welche Artikel IV enthält, bestimmt, dass mangels einer Verfügung von Todes wegen die Mitglieder des Geschlechts (propinqui) nach der Verwandtschaftsnähe erben; bloss das Gut des völlig Sippelosen fällt an den König heim.
Das Fundament des Erbrechts ist die Zugehörigkeit zur Sippe, der Geschlechtsverband geblieben: daher ist einzig die Männerseite (Agnaten) erbberechtigt. Die Reihenfolge der Collateralen vermögen wir nicht mit Sicherheit festzustellen. Aus der Natur des Geschlechtsverbandes und fremden Analogien können wir folgern, dass betreff der Regredienterbschaft die Nähe der Linie und nicht die Gradesnähe entscheidend war. Das ererbte Vermögen gieng, wenn keine Söhne vorhanden waren, auf die männliche Descendenz des Vaters, die Brüder, bezw. deren Söhne, über;N.3.2.10.8 in Ermangelung von Angehörigen der väterlichen Parentel fiel das Erbe an die Parentel des Grossvaters.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass Artikel IV der Goldenen Bulle den Sieg des geschlechtsrechtlichen Princips über das Königsrecht bedeutet; denn das Gut fällt bloss dann an den König heim, wenn die Sippe des Erblassers völlig erloschen ist. Eben diese Bestimmung bekundet jedoch, dass [Seite 392] der in Rede stehende Artikel der Goldenen Bulle die Erbfolge im Erbgut regelte und sich nicht auf das Schenkungsgut bezieht: denn die Mitglieder des Geschlechts hatten weder vor, noch nach der Goldenen Bulle irgend einen Erbanspruch am Schenkungsgut. Das ergibt sich namentlich aus Art. IX: 1267, worin als besondere Gunst festgesetzt wird, dass die Schenkungsgüter des in der Schlacht ohne Hinterlassung eines Sohnes gefallenen Adeligen den Verwandten "verbleiben" sollen.N.3.2.10.9 Artikel VI des Decrets scheint dasselbe zu bekunden: die hinterlassenen Güter des ohne männliche Descendenz verstorbenen Adeligen solle niemand in Anspruch nehmen, ehe die Verwandten vor den König geladen, und in ihrer Gegenwart festgestellt werde, was nach der Ordnung Rechtens geboten sei.N.3.2.10.10 Es mag nämlich häufig vorgekommen sein, dass auch das Geschlechtsgut des ohne männliche Leibeserben verstorbenen Adeligen als erblos eingezogen und vom Könige verliehen wurde, während es doch nach Art. IV der Goldenen Bulle den Mitgliedern des Geschlechts gebürte.N.3.2.10.11
Das Erbrecht der Agnaten am Geschlechtsgut war zufolge der Goldenen Bulle kein Noterbrecht mehr, indem der Erblasser, falls keine männliche Descendenz vorhanden war, über das Gut von Todes wegen verfügen durfte. Doch konnten die Verwandten [Seite 393] das Erbgut gegen Bezahlung des wahren Schätzungswertes an sich ziehen, selbst wenn die letztwillige Verfügung mit königlichem Consens erfolgt war,N.3.2.10.12 ebenso wenn das Erbgut wegen einer Missetat eingezogen wurde.N.3.2.10.13 König Bela IV. bestätigte, dieses Näherrecht der Geschlechtsgenossen auch als er den Adeligen gestattete, ihre Güter der Esztergomer Metropolitankirche zu schenken oder zu hinterlassen.N.3.2.10.14
Das Testierrecht stützt sich anfänglich auf die königliche Gewalt: letztwillige Verfügungen können nur auf grund königlichen Privilegs getroffen werden.N.3.2.10.15 Das Königtum favorisiert den natürlichen engeren Familienkreis gegenüber der entfernteren Sippe; es gestattet daher, dass der adelige Besitzer in Ermangelung männlicher Leibeserben zugunsten der Töchter, der Ehefrau und der Kirche testiere. In betreff des Geschlechts- und überhaupt des Erbgutes geschieht dies auf Kosten des Geschlechtsverbandes; hinsichtlich des Schenkungsgutes zu Schaden des Königsrechts. Art. IV der Goldenen Bulle erhebt die Testierfreiheit (mangels männlicher Descendenz) zur Regel, doch nur in Ansehung der Geschlechts- und überhaupt der Erbgüter. Der Eigentümer des Schenkungsgutes musste auch nachher um königliche Erlaubnis einkommen, wenn er über das Schenkungsgut testieren wollte. Erst Art. XXXII: 1290 erklärte, dass der Adelige über seine ererbten und erworbenen und namentlich auch die Schenkungsgüter zugunsten der Verwandten, der Gattin und der Kirche sowol unter Lebenden, als von Todes wegen frei verfügen dürfe;N.3.2.10.16 doch sind uns auch noch [Seite 394] spätere Fälle der Einholung königlicher Erlaubnis zu letztwilligen Verfügungen bekannt.N.3.2.10.17 Die Testamente wurden ursprünglich in der Form der carta verfasst und mit dem königlichem Siegel bestätigt. Später erscheint auch hierfür die Fassion vor einem beglaubigten Orte als gebräuchliche, ja gegen Ende des XIII. Jahrhunderts als behufs Giltigkeit des Testamentgeschäfts unerlässliche Form.N.3.2.10.18
Das erworbene Gut (possessio emptitia) war besonderen erbrechtlichen Regeln unterworfen: der Eigentümer konnte darüber sowol unter Lebenden, als von Todes wegen frei verfügen. Wahrscheinlich bestimmte ursprünglich, als noch die häusliche Vermögensgemeinschaft in ungeschwächter Kraft bestand, das geschlechtsrechtliche Princip auch die Erbfolge im erworbenen Gute, und waren daher die Frauen daraus ausgeschlossen.N.3.2.10.19 Später spielt der Geschlechtsunterschied bei der Erbfolge im erworbenen Gut (desgleichen im Frauengut, wohin die Aussteuer, das Wittum und das Quartalitium gehörte) keine Rolle mehr. Die Söhne und Töchter erben unterschiedlos nach Köpfen, die Enkeln in stirpes, d. h. sie erhalten das Erbteil des vorverstorbenen Parens. Sind keine Kinder (noch Enkel) vorhanden, erben die Eltern; nach deren früherem Tode die Geschwister, gleichfalls ohne Unterschied des Geschlechts. Bei der Regregienterbschaft im Frauengut kommt das Linealprincip zur Geltung, indem bloss jener Elternteil, bezw. dessen Descendenten erben, von dessen Seite das Vermögen herrührte.N.3.2.10.20 [Seite 395]
Die Töchter besassen ursprünglich gar keinen Erbanspruch auf das Geschlechtsvermögen. Doch konnten sie geziemenden Unterhalt und Aussteuerung aus dem Erbgut fordern, und entwickelte sich hieraus, wie wir bereits oben gesehen haben, mangels männlicher Descendenz, allmälig ein Erbanspruch auf den vierten Teil des Erbvermögens, den zuerst Art. IV der Goldenen Bulle decretierte. Später wurde ihnen derselbe Anspruch in betreff des Schenkungsgutes gewährt: das Decret von 1298 bestimmt, dass von den Gütern, die bei unbeerbtem Tode eines Adeligen an den König heimfallen, der vierte Teil den Töchtern oder Schwestern des Verstorbenen in natura, und zwar jedenfalls (also auch wenn die Güter zerstreut liegen) in einem Stück übergeben werden solle.N.3.2.10.21 Am erworbenen Gute bestand keine quarta puellae, da ja die Töchter mit den Söhnen zu gleichen Teilen erbten; und man andererseits das freie Verfügungsrecht des Eigentümers am Erwerbe nicht beschränken wollte.N.3.2.10.22 Die quarta wurde ursprünglich (häufig auch noch später) in natura ausgeschieden; das Decret von 1290 gestattete den Verwandten das Mädchenerbe gegen Bezahlung des wahren Schätzungswertes an sich zu ziehen.N.3.2.10.23
Wir haben gesehen, dass bereits Stefan der Heilige die Kirche dem engeren Familienkreise zugesellte, indem er dem Hausvater gestattete, einen Teil des seiner freien Verfügung unterstehenden Vermögens der Kirche zuzuwenden. Es bildete [Seite 396] sich solcherart gefördert von Königtum die Anschauung aus, dass die Kirche in jedem Hausverbande die Stelle eines Sohnes einnehme, und dass daher die Kirche pro remedio animae, selbst wenn Söhne vorhanden seien, mit einem Sohnesteil bedacht werden könne.N.3.2.10.24 Das Decret von 1290 bestätigte dies alte Recht der Kirche. Es versteht sich von selbst, dass die Kirche, die bloss auf grund letztwilliger Verfügung erben konnte, die Errichtung von Testamenten und die testamentarische Erbfolge sehr begünstigte.
Über das Erbrecht der Nicht-Adeligen enthalten bloss die Stadtprivilegien ausführlichere Nachrichten. In dem wir diese Daten mit den Angaben des Rechtsbuches von Selmeczbánya, der wol späteren Zipser Willkür und den gleichfalls der nächsten Periode angehörigen Tavernicalartikeln zusammenhalten, ist es uns möglich die Grundzüge des städtischen (bürgerlichen) Erbrechts und dessen Abweichungen vom Erbrecht des Adels festzustellen.
Die Verschiedenheit der beiden erbrechtlichen Systeme geht in letzter Linie darauf zurück, dass es in den Städten, welche aus den Niederlassungen der hospites hervorgegangen waren, keine auf dem Geschlechtsverbande beruhende Besitzverfassung gab, und dass der Aufschwung des Handels und Gewerbes das Schwergewicht des Vermögens vom Grundbesitz auf das bewegliche Gut verschob. Das führte zunächst zur erbrechtlichen Gleichstellung der Frauen mit den Männern: sowol in ab-, als in aufsteigender Linie haben die Männer und Frauen die gleichen Erbansprüche.N.3.2.11.1 Ferner folgte hieraus, dass die Frauen [Seite 397] (anders als nach Adelsrecht) nicht bloss eine Aussteuer zum Zwecke des Haushalts erhielten, sondern auf grund ihres Erbrechts auch in den Besitz eines Sondergutes gelangten, d. i. in der Regel — entweder anlässlich der Verehelichung, oder später während des Bestandes der Ehe — Vermögen in das Haus des Mannes brachten.
Unter dem Einflüsse germanisch-rechtlicher Principien entwickelt sich in den Städten das System der ehelichen Gütergemeinschaft.N.3.2.11.2 Das Vermögen, das die Frau in das Haus ihres Gatten bringt, verschmilzt mit dem des Mannes: das beiderseitige Vermögen bildet als eine einheitliche Masse das Miteigentum beider Ehegatten und wird während der Ehe vom Manne verwaltet. Stirbt der Ehegatte und sind Kinder vorhanden, so behält der überlebende Ehegatte als Vormund der Kinder das gesammte Vermögen ungeteilt; wenn der überlebende Gatte eine neue Ehe eingeht, kann seitens der Kinder die Teilung gefordert werden; und zwar wird das gemeinsame Vermögen entweder zu gleichen Teilen geteilt, indem der parens binubus und die Kinder je eine Hälfte erhaltenN.3.2.11.3 oder aber man teilt das Vermögen im Verhältnisse von eins und zwei und gewährt dem überlebenden Ehemann (Vater) zwei Drittel, der Ehefrau (Mutter) ein Drittel vom gemeinsamen Vermögen.N.3.2.11.4 Bei kinderloser Ehe behält der überlebende Ehegatte drei Viertel des Vermögens und braucht den Verwandten des verstorbenen Gatten bloss ein Viertel herauszugeben.N.3.2.11.5 [Seite 398]
Auch nach dem Recht der städtischen Bürger waren die Descendenten (und zwar sowol die Söhne, als die Töchter) Noterben. Die Errichtung von Testamenten war nur gestattet, falls keine Nachkommen vorhanden waren.N.3.2.11.6 Die Kinder erbten nach Köpfen, die übrigen Descendenten nach Stämmen.
Starb der Erblasser ohne Nachkommen und ohne Hinterlassung eines Testaments, so galt für das ererbte Gut das Princip der Linealsuccession: paterna paternis, materna maternis, d. h. das von der Vaterseite stammende Vermögen kehrte zur Vater-, das von der Mutterseite herrührende Vermögen zur Mutterseite zurück. Das erworbene Gut hingegen gebürte beiden Linien zu gleichen Teilen. Der Geschlechtsunterschied kam auch bei der Succession der Seitenverwandten nicht in Betracht.
Auch in den Städten stützte sich das Testierrecht auf die königliche Gewalt. Die Testierfreiheit der Bürger bildete von Anbeginn einen ständigen Punkt und demgemäss einen integrierenden Bestandteil der städtischen Freiheit. Doch war der Umfang und die Voraussetzungen des Testierrechts in verschiedener, wesentlich abweichender Weise bestimmt. Aus den Stadtprivilegien des XIII. Jahrhunderts treten uns vier allgemeine Formen der Testierfreiheit entgegen, a) Das vollkommenste Mass der Testierfreiheit besteht darin, dass der Erblasser befugt ist über sein gesammtes bewegliches und unbewegliches Gut zugunsten wes immer zu verfügen.N.3.2.11.7 b) In manchen Städten darf der Bürger wol über sein gesammtes Vermögen, doch nur zugunsten der Verwandten und der Kirche testieren.N.3.2.11.8 c) Zufolge einiger Freibriefe kann über die Fahrnis zu wes gunsten immer, über Liegenschaften jedoch nur zugunsten der Gattin und der Kirche [Seite 399] verfügt werden.N.3.2.11.9 d) Etliche Privilegien beschränken die Testierfreiheit überhaupt auf die Fahrnis; das unbewegliche Gut fällt in Ermangelung von Nachkommen notwendig an die Ascendenten, bezw. die Seitenverwandten.N.3.2.11.10 In den Zipser Städten konnten beide Gatten nur über je ein Drittel ihres Vermögens verfügen; zwei Drittel der Erbschaft gebürten ihren Verwandten.N.3.2.11.11
Der Nachlass des ohne Testament verschiedenen Bürgers wurde, wenn überhaupt keine zur Erbfolge berechtigten Blutsverwandten vorhanden waren, von der Stadt eingezogen und in drei Teilen zu kirchlichen, woltätigen und städtischen Gemeinzwecken verwendet.N.3.2.11.12 Dasselbe Schicksal erfuhr der Nachlass des Fremden, wenn sich binnen Jahr und Tag kein Erbe gemeldet hatte.N.3.2.11.13
II. Über das Erbrecht der übrigen Klassen des nicht-adeligen Standes: der Burgmänner, Burgholden, udvornici und freien Landleute besitzen wir kaum spärliche Nachrichten. Das Erbrecht des Untertanenstandes der nächsten Periode findet sich zuerst im Tripartitum Werbőczis systematisch dargestellt.
Das Erbrecht der Burgmänner folgte dem adeligen [Seite 400] Erbrecht, wie ja deren gesammte Rechtstellung und Besitzrecht dem Adelsrecht zunächst stand. Das Immobiliarerbrecht beherrschte das Geschlechtsprincip: das Erbgut erbten die männlichen Abkömmlinge, falls keine vorhanden waren, die Sippegenossen (Agnaten).N.3.2.11.14 Mangels männlicher Descendenz durfte der Burgmann über den zur Burg gehörigen Grundbesitz nur mit königlicher Erlaubnis testieren; über den sonstigen Grundbesitz konnte er frei, bezw. über Erbgut mit Zustimmung der Mitglieder des Geschlechts verfügen.
Der nicht zur Burg gehörige Grundbesitz der Burgholden vererbte sich gleichfalls nach den Bestimmungen des adeligen Landesrechts.N.3.2.11.15 Hinsichtlich der Succession in das Burgland bestanden jedoch besondere Regeln, die wir aber in höchst ungenügender Weise kennen. Die einzige Quelle unserer Kenntnis bildet der Freibrief König Belas IV. für die Winzer (castrenses vinitores) der Burg Györ. Den ohne männliche Leibeserben verschiedenen Burgholden beerbt dessen Bruder (uterinus); ist kein Bruder vorhanden, fällt die Hälfte des Vermögens an die Wittwe und die Töchter, die andere Hälfte an den Burggespan; bei kinderloser Ehe gehört der Wittwe ein Drittel, dem Gespan zwei Drittel des Vermögens.N.3.2.11.16
Das Erbrecht des Untertanenstandes kennt ursprünglich bloss die Erbfolge des engeren Familienkreises. Der Untertan konnte jedoch, falls keine männliche Descendenz vorhanden war, kraft grundherrlichen Privilegs Verfügungen von Todes wegen treffen; die Testierfreiheit war entweder eine unbeschränkte, oder beschränkte sich auf die Fahrnis.N.3.2.11.17 Selbstverständlich konnte der Untertan den Grundbesitz nicht anders übertragen, als mit den bisherigen Lasten und Pflichten. Für die Gewährung der Testierfreiheit pflegte der Grundherr sich einen Nachlassgegenstand [Seite 401] (entsprechend dem Besthaupt des deutschen Rechts) vorzubehalten.N.3.2.11.18
Die eigentlichen Unfreien, die Sklaven, denen die Vermögensrechtsfähigkeit völlig abgieng, hatten natürlich kein Erbrecht.
Literatur: Josef Illés, A magyar szerzödési jog az Árpádok korában [Das ungarische Vertragsrecht der Árpádenzeit] 1901. — Aus der reichen Literatur des germanisch-mittelalterlichen Rechts der Schuldverhältnisse seien genannt : Stobbe, Zur Geschichte des deutschen Vertragsrechtes 1855. Meibom, Das deutsche Pfandrecht 1867. Siegel, Das Versprechen als Verpflichtungsgrund 1874. Richard Löning, Der Vertragsbruch im deutschen Recht 1876. Val de Lièvre, Launegild und Wadia 1877. Thévenin, Contributions à l'histoire du droit germanique 1879. Franken, Das französische Pfandrecht im Mittelalter 1879. Esmein, Études sur les contrats. (Nouvelle Revue historique du droit frangais et étranger IV.) Amira, Nordgermanisches Obligationenrecht 1882. Biermann, Traditio ficta 1891. Viollet, Histoire du droit civil français 1893. Heusler a. a. O. II. S. 225 ff. Schröder a. a. O.4 S. 289 ff., 729 ff.
Dem germanischen Recht und auch dem Recht des Mittelalters bis ins XIII. Jahrhundert war der Consens der Parteien als Verpflichtungsgrund an sich, ebenso unbekannt, wie dem alten römischen Recht. Das primitive Recht geht den feineren Unterscheidungen aus dem Wege; es nimmt bloss dort die Übereinstimmung des Willens wahr, wo sie in greifbarer Gestalt erscheint, d. h. wo die seitens der einen Partei bereits erfolgte Vertragsleistung, oder irgend eine beim Abschluss des Vertrags zur Anwendung gebrachte Formalität oder Symbol die Entschiedenheit der Willensvereinigung zeigt. Daher spielt die Beweisfrage im mittelalterlichen Vertragsrecht die allerwichtigste Rolle; das alte Recht macht lange keinen Unterschied zwischen der Frage, ob dem Consens der Parteien verpflichtende Kraft innewohne, und der Frage nach der Beweisbarkeit des Consenses.
Das Recht der germanischen Vorzeit und der fränkischen Zeit [Seite 402] kannte überhaupt bloss Barverträge und vermochte Schuldverhältnisse überhaupt nur auf dem Umwege der Sachhaftung und der Bürgschaftshaftung zu constituieren. Nach mittelalterlichem Recht kommen Vertrag und Schuldverhältnis durch die Leistung oder vermittelst Anwendung einer gewissen Form zustande. Die Vorleistung, auf grund deren die Gegenleistung gefordert werden konnte, war ursprünglich eine wirkliche, später immer häufiger eine Scheinleistung, z. B. die Hingabe eines Hand- oder Drangeldes. Als Form des Schuldvertrags erscheint die Hingabe eines symbolischen Gegenstandes, eines Stabes (festuca), Halmes (stipula), Handschuhes oder Schwerts, dann auch der carta. Später ersetzt der Handschlag die Stabreichung und unter dem Einfluss der Kirche gewinnt die eidliche Bekräftigung des Schuldversprechens dieselbe Rechtswirkung. Im XIII. Jahrhundert endlich gelangt der Rechtssatz zur Herrschaft, dass der einfache Consens an sich das Schuldverhältnis begründe; es war dies die Folge der irrigen Interpretation des römischen Rechts (das weit entfernt gewesen war, jeder Einigung der Parteien Vertragswirkung beizulegen), teils der Einwirkung der kirchlichen Anschauung, der zufolge jeder Vereinbarung erlaubten Inhalts verpflichtende Kraft innewohnte.N.3.2.12.1
Das neue Recht verdrängte jedoch nicht allsogleich die alten Rechtsformen und Gewohnheiten. Das Hand- oder Drangeld, der Wein- oder Leitkauf, Handschlag und Eid, ferner die Urkunde blieben auch ferner in Gebrauch, doch nicht mehr als Form der Vertragschliessung, sondern als Mittel der Beweisung und Bestätigung des abgeschlossenen Vertrags.N.3.2.12.2
Infolge des allen primitiven Rechten gemeinsamen Entgeltlichkeitprincips ist der Kauf, bezw. der Tausch der Grundtypus [Seite 403] des Vertrags. Beide Verträge sind im alten ungarischen Recht, ebenso wie im germanischen, Barverträge: ein unmittelbarer Austausch der Werte. Unter diesen Begriff fällt die von Gurdêzi geschilderte Eheschliessung sowol, als der im Decret König Ladislaus des Heiligen geregelte Marktkauf.N.3.2.12.3 Soferne der Austausch der Leistungen nicht Zug um Zug erfolgte, konnte die Haftung für die zukünftige Leistung durch Pfandsetzung (Wettsatzung) begründet werden. Die älteste Satzung ist eigentlich eine bedingte Zahlung, ein Poenalversprechen des Schuldners, kraft dessen die als Pfand gesetzte Sache, im Falle die Leistung unterbliebe, in das Eigentum des Gläubigers übergeht. Das gegebene Pfand wurde von den germanischen Völkern wadia, wette, franz. gage (in den lateinischen Rechtsdenkmälern vadium, vadimonium) genannt; das Wort bedeutet (gothisch vidan, binden) so viel wie das Gebundene, Gesetzte, Verpflichtete.N.3.2.12.4 Die Wettsatzung konnte eine reale Pfandsetzung oder ein Bürgschaftsvertrag sein, in dem als Verfallpfand ein Bürge gestellt wurde. Der Wettvertrag, der Formalvertrag des Mittelalters, entwickelte sich vermittelst der Selbstbürgschaft aus dem Urteilerfüllungsversprechen, der in den germanischen Rechten, namentlich in den fränkischen Rechtsquellen s. g. fides facta.
In den ungarischen Quellen findet sich wol dieser Ausdruck nicht, aber sonst genügende Zeugnisse dafür, dass diese cautio iudicatum solvi auch dem ungarischen Recht bekannt warN.3.2.12.5 und ebenfalls eng mit dem Institut der Bürgschaft zusammenhieng.N.3.2.12.6
Die germanisch-mittelalterliche Bürgschaft begründete ursprünglich die unmittelbare Personenhaftung des Bürgen. Der Bürge wurde durch den Bürgschaftsvertrag als Pfand (Wette) [Seite 404] in die Gewalt des Gläubigers gegeben; und zwar wie eben angedeutet worden, als Verfallpfand, d. h. wenn die Leistung seitens des Schuldners unterblieb, geriet der Bürge in die Schuldknechtschaft des Gläubigers, der ihn nach Belieben misshandeln und tödten durfte. Die Bürgenstellung war also ein Geiselvertrag. Der Vertrag wurde bei den germanischen Völkern mittelst Hingabe eines Symbols, der festuca, abgeschlossen, so dass wadia, wette im engeren Sinne eben den bei der Vertragsschliessung verwendeten Stab bezeichnet, und der Bürgschaftsvertrag technisch vadimonium genannt wird. Die Personalhaftung des Bürgen milderte sich später zu einer vermögensrechtlichen; doch verblieb auch ferner die Unmittelbarkeit der Haftung. Der Bürge haftet, gleich dem obses, vas, praesN.3.2.12.7 des alten römischen Rechts, direct an Stelle des Schuldners, nicht accessorisch, neben dem Schuldner wie der römische fideiussor. Der Gläubiger kann sich mit Zwangsmitteln behufs Befriedigung bloss an den Bürgen wenden, hinwiederum haftet der Schuldner dem Bürgen für die Bürgschaftshaftung.N.3.2.12.8
Die nächste Stufe in der Entwicklung des Kaufvertrages (und der Verträge überhaupt) ist der Realcontract. Die Vorleistung der einen Partei begründet die Leistungspflicht der anderen. Der Käufer kann die gekaufte Sache fordern, sobald er geleistet, d. h. den Kaufpreis ganz oder teilweise gezahlt hat. Bald tritt dann an die Stelle der wirklichen Zahlung (Vorleistung) eine Scheinzahlung: nämlich die Hingabe des Hand- oder Drangeldes (arrha), einer kleinen Geldsumme, die vom wirtschaftlichen Standpunkt nicht viel bedeutet, namentlich auch nicht als Teilzahlung in Betracht kommt, aber rechtlich die Stelle der wirklichen Zahlung des Kaufpreises vertritt, in dem sie den Verpflichtungswillen zum äusseren Ausdrucke bringt.N.3.2.12.9 Das [Seite 405] Handgeld wurde nicht in den Kaufpreis eingerechnet und musste daher verausgabt werden: man verwendete es zu woltätigem Zwecke oder bewirtete diejenigen, die beim Kaufgeschäfte zugegen waren. Dieser Rechtsbrauch brachte in den Staaten des Westens einerseits den Gottespfennig (Gottesheller, denarius dei, denier à Dieu), andererseits den Weinkauf (Leitkauf, mercipotus) hervor. Beides findet sich auch im ungarischen Recht des Mittelalters.N.3.2.12.10 Der Weinkauf, ungarisch áldomás mag zum Teil, wie viele Forscher glauben, in einer alten heidnisch-sacralen Form der Vertragsschliessung wurzeln;N.3.2.12.11 unseres Erachtens kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass die besonders bei Marktkäufen noch heute gebräuchliche Sitte des áldomás mit dem Handgeld verknüpft ist, zumindest durch dieses grössere Verbreitung und Bedeutung gewonnen hat; das steht fest, dass das Hand- oder Drangeld in Ungarn von Anbeginn zum Zwecke des áldomás (viel spärlicher zu Woltätigkeitszwecken) verwendet wurde. Das Handgeld war anfänglich der vertragsbegründende Factor; unterblieb die Hingabe des Drangeldes so war der Kauf- oder Mietvertrag überhaupt nicht zustandegekommen. Später betrachtet man das Hand- oder Drangeld nur noch als (geeignetestes) Beweismittel der Perfection des Vertrags; der Vertrag selbst kommt vermittelst des übereinstimmenden Willen der Parteien zustande. Doch hielt der Volksgebrauch eben um der Beweiskraft willen am Handgeld und namentlich an der Rechtssitte des áldomás fest. Hierin beruht auch zufolge des Tripartitums die Bedeutung desselben. Wenn der des Diebstahls Bezichtigte behauptet, die Sache auf dem Markt, oder sonst wo gekauft zu haben, aber weder seinen [Seite 406] Gewährsmann, noch sonst jemanden zu stellen vermag, der "beim Kauftrunke nach hergebrachter Sitte das Wol ausbrachte", soll er als Dieb dem Galgen verfallen.N.3.2.12.12
Dieselbe rechtsgeschichtliche Entwicklung machte das Hand oder Drangeld betreff der Mietverträge durch. Es bezeugt die Macht des alten Rechts, dass das Drangeld bei dem Abschlusse von Miet- und Arbeitsverträgen sowol in Ungarn, als im westlichen Europa noch heute gang und gebe ist.N.3.2.12.13
Neben dem Kauf (und Tausch) ist das Darlehn der wichtigste Vertrag des mittelalterlichen Rechts. Als Schuldvertrag entwickelt sich das Darlehen erst nach der Periode der Barverträge, vermittelst der Wettsatzung. Das mittelalterliche Recht kennt lange Zeit kein anderes Darlehen als das durch Pfandsetzung gesicherte: das Darlehn des Mittelalters ist der Pfandleihevertrag.N.3.2.12.14 Der Darlehnempfänger übernimmt die Rückzahlungspflicht durch die Pfandsetzung, die eigentlich eine bedingte Zahlung ist. Wenn die Rückerstattung der Darlehnsumme, d. i. die Auslösung des Pfandes zur gesetzten Frist, unterbleibt, gewinnt der Gläubiger das Pfand zu Eigentum. Bloss die Sache haftet; daneben besteht kein besonderes persönliches Obligationsverhältnis zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner. Dies hat zur Folge, dass der Untergang oder die Verschlechterung der Sache dem Gläubiger zu schaden gereicht; ebenso wenig kann er vom Schuldner Ersatz fordern, wenn die Pfandsache zur Befriedigung nicht ausreicht. Umgekehrt ist auch der Gläubiger nicht verpflichtet, den etwaigen Mehrwert [Seite 407] der Pfandsache herauszugeben, noch für das ohne sein Verschulden untergegangene Pfand, falls der Schuldner es auslösen wollte, Ersatz zu leisten. Das Pfand ist also ein s. g. Verfallpfand. Im XIII. Jahrhundert tritt in Ungarn ebenso wie im westlichen Europa allmälig das Verkaufs- oder Sicherheitspfand an die Stelle des Verfallpfandes. Das Pfand hat nicht mehr die Bestimmung das Schuldverhältnis, die Rückerstattungspflicht zu begründen, sondern bloss das bestehende obligatorische Verhältnis zu bestärken. Dieses selbst kommt als Realvertrag bereits durch Hingabe und Empfang der Darlehnssumme, unabhängig von der Pfandsetzung zustande, welche nur noch accessorische Bedeutung besitzt und dem Gläubiger für den Fall der Nichtleistung Befriedigung gewährleisten soll. Die auf das Pfand bezüglichen Rechtsregeln sind wesentlich andere, als beim alten Verfallspfand. Wenn das im Besitze des Gläubigers befindliche Pfand (ohne Verschulden des Gläubigers) untergeht oder beschädigt wird, trifft der Schaden nicht den Gläubiger, sondern den Schuldner; ersterer kann, falls er aus dem Erlöse des Pfandes nicht völlig befriedigt worden ist, die Erstattung der ungedeckten Summe fordern. Andererseits verfällt das Pfand, wenn die Lösung unterbleibt, dem Gläubiger nicht zu Eigentum; er ist bloss befugt das Pfand zu verkaufen und muss den Mehrerlös dem Schuldner herausgeben.
Die im Vorstehenden geschilderte Entwicklung des Pfandleihevertrags wird für Ungarn durch das Judengesetz König Kálmáns, ferner das grosse Judenprivileg Bélas IV. und zahlreiche Urkunden bezeugt. Das Gesetz Kálmáns bezeichnet die beginnende Umgestaltung des Verfallpfandes in das Verkaufspfand, das sich im Privileg von 1251 völlig ausgebildet zeigt. Im Decret Kálmáns erscheint das Pfand noch in seiner ursprünglichen, das Schuldverhältnis begründenden Bedeutung, als vadimoniumN.3.2.12.15 Es bedarf der Pfandsetzung, damit das Darlehen zustandekomme; wenn kein Pfand gegeben worden ist, kann [Seite 408] der Gläubiger die Forderung überhaupt nicht geltend machen. Behufs vollkommeneren Beweises müssen beim Darlehen auch Zeugen, Christen und Juden, zugezogen werden, ja wenn der Betrag des Darlehns drei Goldstücke (pensa) überschreitet, ist sogar die Abfassung einer carta erforderlich, welche die Namen der Zeugen enthalten und mit den Siegeln (vermutlich dem gebräuchlichen Handzeichen, Handmal) der Parteien versehen sein muss.N.3.2.12.16 Es ist klar, dass der Schwerpunkt auf der Pfandsetzung ruht und dass das Pfand noch wesentlich ein Verfallpfand ist; Zeugen und Urkunde sind blosse Beweismittel. Das Privileg König Bélas von 1251 schreibt weder Zeugen, noch Beurkundung des Darlehngeschäftes vor; die Pfandsetzung genügt zum Beweise des Darlehns; doch kann der Gläubiger den Bestand seiner Darlehnsforderung eben nur mittelst des Pfandes beweisen. Es ist das eine klare Reminiscenz dessen, dass das Pfand ursprünglich ein Verfallpfand gewesen war. Wenn der Gläubiger oder der Schuldner die Pfandsetzung leugnete, konnte er mit seinem Eineide sich von der Rückgabe des Pfandes, bezw. der Rückerstattung der Darlehnssumme lösen.N.3.2.12.17 Wurde die Pfandsetzung vom Schuldner anerkannt und war bloss die Höhe des Darlehns strittig, so behielt der Gläubiger mit seinem Eineide die Forderung.N.3.2.12.18 Das Pfand ist reines Sicherheitspfand, pignus; wenn es ohne Verschulden des Gläubigers durch Diebstahl, Raub oder Brand untergeht, oder dem Gläubiger als gestohlene Sache abgefordert wird, besteht die Verpflichtung des Schuldners nichts destoweniger fort: "er muss die Schuld unvermindert [Seite 409] bezahlen"N.3.2.12.19; andererseits steht dem Gläubiger bloss das Recht zu, aus dem Erlöse des Pfandes sich zu befriedigen, indem er nach Ablauf der Lösungsfrist die Sache mit Wissen des Richters öffentlich verkauft. Wenn der Gläubiger das Pfand nach Ablauf der Lösungsfrist noch ein Jahr lang besitzt, ohne dass der Schuldner dagegen Einsprache erheben würde, erwirbt er es zu Eigentum.N.3.2.12.20 Auch das ist ein Überbleibsel des älteren Rechtes, eine Reminiscenz des Verfallpfandes.
Sowol Fahrhabe, als Liegenschaften konnten Gegenstand der Verpfändung sein; im späteren Recht entwickelten sich dem entsprechend zwei Pfandrechtsysteme. Nasse und blutige Kleider durften nicht verpfändet, noch zu Pfand angenommen werden (damit nicht etwaige Missetaten verheimlicht würden), geistliche Kleider durften einzig aus der Hand des Kirchenobern zu Pfand genommen werden.N.3.2.12.21
Die Verpflichtung Zinsen zu zahlen verstand sich nach dem Rechte des Mittelalters nicht nur nicht von selbst (wie es denn hierzu auch nach römischen Recht einer besonderen Verabredung bedurfte), sondern das zinsbare Darlehen war sogar im allgemeinen verboten. Das kirchliche Zinsverbot beruhte auf der irrigen volkswirtschaftlichen Anschauung, dass das geliehene Kapital keine neuen Werte produciere, nummus non parit nummum; die Zinsnahme führe also den wirtschaftlichen Ruin des Schuldners herbei, und sei als eine gegen das Gebot der Nächstenliebe verstossende Handlung den Christen untersagt.N.3.2.12.22 Das kanonische Zinsverbot erstreckte sich natürlich nicht auf die Juden; und so sehen wir denn die Juden allenthalben im Besitze des Privilegs, nach dem Darlehen Zinsen zu nehmen. In der Regel setzten königliche Freibriefe den (maximalen) Zinsfuss [Seite 410] fest; das Privileg Bélas IV. enthält diesbezüglich keine Bestimmung. Wenn der Schuldner die rückständigen Zinsen innerhalb eines Monates nach der Lösung nicht bezahlte, durfte der Gläubiger Zinseszinsen nehmen.N.3.2.12.23
Das Zinsverbot bewirkte die Ausbildung eines von der römisch-rechtlichen Hypothek durchaus verschiedenen Immobiliarpfandrechts. Der Gläubiger, der keine Zinsen empfieng, musste nämlich auf andere Weise: durch die Pfandnutzung dafür entschädigt werden, dass er sich der geliehenen Summe für gewisse Zeit entäusserte. Nach dem Rechte des Mittelalters geht das verpfändete Grundstück in den Besitz und die Nutzung des Gläubigers über; der Pfandgläubiger hat die Besitzstörungsklage und alle übrigen rechtlichen Schutzmittel, welche dem Eigentümer und sonstigen rechtmässigen Besitzer zustehen, kann das Grundstück nebst allem Zubehör frei nutzen,N.3.2.12.24 und übt auch die grundherrliche Gewalt aus, als einen integrierenden Bestandteil des freien Besitzrechtes.N.3.2.12.25 Die Verpfändung der Liegenschaften fand nach ungarischem Recht in denselben Formen statt, wie die Übertragung zu Erbbesitz, die Veräusserung. Als regelmässige Form des Pfandvertrags betreffend Liegenschaften erscheint im XIII. Jahrhundert die Fassion vor einem beglaubigten Orte. Das Judenprivileg von 1251 begründet eine Ausnahme von der Regel, indem es die Verpfändung adeliger Güter an Juden auch unter Privatsiegel zu vollem Recht gestattet;N.3.2.12.26 dass das im Besitze jüdischer Gläubiger befindliche [Seite 411] Grundstück von jedem Christen gegen Bezahlung der Verpfändungssumme gelöst (d. h. an sich gezogen) werden konnte, ist bereits bei der Darstellung der Rechtsverhältnisse der Juden erwähnt worden. Obwol die Verpfändung bloss ein zeitlich beschränktes Besitzrecht gab, war es nach dem Zeugnis der Urkunden dennoch gebräuchlich, die Zustimmung (consensus, assensus) der Verwandten (der Mitglieder der Sippe), ja auch der Nachbarn einzuholen. Auch pflegte man ausdrücklich Gewährschaft für den friedlichen Besitz und Nutzung zu übernehmen.N.3.2.12.27
Die Verpfändung geschah in der Regel für eine bestimmte Frist. Wenn der Schuldner die Schuld nach Ablauf der Frist nicht beglich, war der Gläubiger befugt, vor dem Kapitel den Verkauf des Grundstückes, nämlich die Übertragung zu Eigentum zu fordern.
Dies wurde gewöhnlich bereits bei der Verpfändung (im Fassionalbriefe) bedungen; die Urkunden bezeichnen diesen Übergang des Eigentums als perpetuatio.N.3.2.12.28 Der die Pfandsumme übersteigende Mehrwert gebürte dem Schuldner; umgekehrt konnte der Gläubiger den Ersatz der durch das Pfand nicht gedeckten Summe beanspruchen;N.3.2.12.29 der Wert des Pfandobjects wurde unter Mitwirkung eines beglaubigten Ortes mittelst Schätzung festgestellt.N.3.2.12.30
In der Regel setzte man für den Fall, dass die Lösungsfrist versäumt würde, eine Conventionalstrafe (poena conventionalis) fest; am gebräuchlichsten war die poena dupli, welche darin bestand, dass nunmehr das Doppelte der Darlehnssumme erstattet werden musste.N.3.2.12.31 [Seite 412]