Timon, Akos von: Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte (Berlin 1904) S. 642-646

Timon, Akos von: Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte (Berlin 1904) S. 642-646

[Editorial]

Quelle: Timon, Akos von: Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte : mit Bezug auf die Rechtsentwicklung der westlichen Staaten. - Berlin : Puttkammer und Mühlenbrecht, 1904. - X, 789 S., hier S. 642 - 646 [Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek]

Text zum Tripartitum:

[Seite 642] Die aus der Rechtsunsicherheit entspringenden Misstände und Übel erreichten unter der schwachen Regierung Wladislaus II. einen gar bedenklichen Grad. Das geltende Recht fand sich nicht in einem systematischen Gesetzbuch zusammengestellt, sondern musste aus den zerstreuten königlichen Decreten und der schwankenden, unbestimmten Gewohnheit hervorgeholt werden.7

Um der auf dem Gebiete des Gewohnheitsrechts herrschenden Unsicherheit ein Ende zu bereiten, ordnete G.-A. VI: 1498 [= Gesetzartikel] die Redaction und königliche Bestätigung der althergebrachten Rechtsgewohnheiten an.8 Zwei Rechtsgelehrte sollten mit dieser Arbeit betraut werden; einen wählte der Reichstag — und zwar den Protonotar Adam, den anderen hatte der König zu bestellen. Das gewünschte Werk kam jedoch nicht zustande. Das Decret von 1500 machte es daher den Mitgliedern des königlichen Gerichtshofes und engeren Rates (iurati assessores et consiliarii) zur Pflicht, das Recht und die Gewohnheiten des Landes, worauf man sich vor Gericht zu berufen pflege, darzustellen und niederzuschreiben.9 Auch dieser Auftrag blieb unausgeführt; doch scheint es, dass man die Arbeit in guten Händen wusste, — wir dürfen annehmen, dass sie bereits damals [Seite 643] dem königlichen Protonotar Stefan Werböczi übertragen worden war —, denn weder der Reichstag von 1504, noch von 1507 fordern mehr die Sammlung und Ordnung des gewohnheitsrechtlichen Stoffes, sondern begehren, dass der König "seine Decrete und Beschlüsse, die zu verschiedenen Teilen zerstreut sind, endlich in ein Decret zusammentragen lassen möge".10

Die gewünschte Gesetzessammlung kam nicht zustande, wol aber die Arbeit, die von den Reichstagen des Jahres 1498 und 1500 gefordert worden war, die systematische Darstellung des geltenden Gewohnheitsrechts. Auf dem Reichstage von 1514 reichte Stefan Werböczi sein im königlichem Auftrage verfasstes, Tripartitum opus iuris consuetudinarii inclyti regni Hungariae betiteltes Werk ein. Der Reichstag entsendete eine aus zehn Mitgliedern bestehende Commission zur Durchsicht des Tripartitums; nachdem die Commission erklärt hatte, dass das Werk Werböczis mit den Gesetzen und althergebrachten Gewohnheiten des Landes übereinstimme, ersuchten die Stände in Form eines Decretalartikels den König, "das geschriebene Recht des Landes allsogleich verlesen zu lassen, zu bestätigen und mit dem königlichen Siegel zu versehen und den einzelnen Comitaten zu übersenden".11 Der König bestätigte denn auch das Werk Werböczis,12 die Ausfertigung unter dem Siegel fand jedoch nicht statt, natürlich auch nicht die Versendung an die Comitate, die der König im Confirmationsbriefe zugesagt hatte.

Das Tripartitum ward also kein königliches Decret, kein Gesetzbuch. Warum die Sanction im letzten Augenblick unterblieb, ist uns unbekannt. Werböczi selbst erzählt,13 dass die Anfertigung der erforderlichen fünfzig Abschriften viel Zeit benötigt habe, und der König unterdess ins Ausland reiste; [Seite 644] als er nach etlichen Monaten zurückkehrte, hätten wichtige Staatsgeschäfte seine ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und dann sei er plötzlich gestorben. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Sanction von den Herren hintertrieben wurde, denen die klar zutage tretende demokratische Tendenz des Werkes, die scharfe Betonung der Einheit des Adelsstandes, der rechtlichen Gleichheit der Herren und der einfachen Adeligen, unbequem sein mochte.

Werböczi liess sein Werk 1517 in Wien drucken,14 "damit das mit solcher Mühe und um den Preis sovieler Nachtwachen verfertigte Werk nicht der Vergessenheit anheimfalle." Es fand bald im ganzen Lande Verbreitung und wurde von den Gerichten allenthalben benützt, umso mehr, als das auf dem Reichstage zu Bács 1518 geschaffene Decret verordnet hatte, dass "die Comitate nach dem ihnen bereits zugegangenen geschriebenen Recht urteilen mögen".15

Das Tripartitum ist, wie erwähnt, kein Gesetzbuch, sondern ein Rechtsbuch, wie dergleichen in den westlichen Staaten im Laufe des XIII. und XIV. Jahrhunderts viele entstanden. Obwol es also der formalen Gesetzeskraft ermangelte, erlangte es dennoch vermittelst der Praxis, der Gewohnheit in materieller Hinsicht allgemein bindende Rechtskraft, indem nicht bloss die Gerichte das Tripartitum als Richtschnur benützten, sondern, da die späteren Codificationsversuche ebenfalls erfolglos blieben, auch die Reichstage und königlichen Decrete häufig einzelne Rechtssätze des Tripartitums anführten und durch diesen Hinweis mit Gesetzeskraft ausstatteten.16 [Seite 645]

Obwol Werböczi dem ihm gewordenen Auftrag gemäss das Tripartitum als Gesetzbuch anlegte, nahm er dennoch, um die juristische Bildung seiner Landsleute zu heben, zahlreiche Materien in sein Werk auf, die in einem Lehrbuche vielmehr am Platze gewesen wären. Diese kürzeren-längeren theoretischen Ausführungen und Auseinandersetzungen schöpfte er zumeist aus dem römischen Recht. Er erklärt die (auf Gaius zurückgehende) Dreiteilung des Rechtsstoffes nach Personen, Sachen und Klagen (personae, res, actiones) befolgen zu wollen; doch hält er sich in Wahrheit sehr wenig an das System.

Wir entbehren bis heute einer eingehenden Untersuchung über die Quellen des Tripartitums. Soviel steht fest, dass es zum allergrössten Teile aus dem einheimischen Gewohnheitsrecht und den königlichen Decreten geschöpft ist. Einige Gesetzartikel finden sich sogar im Wortlaut angeführt.17 Werböczi schöpfte ferner aus dem römischen und kanonischen Recht, den Gemeinquellen der mittelalterlichen Jurisprudenz.18

Die Bedeutung des Tripartitums beschränkt sich nicht darauf, dass es Jahrhunderte lang dem ungarischen Rechtsleben als wichtigste Quelle des Rechts diente. Das unvergängliche Verdienst Werböczis besteht darin, dass er den Fortbestand des nationalen Rechts gegenüber dem fremden Recht sicherte, den nationalen Charakter des ungarischen Rechts wahrte, indem er das im Mittelalter entstandene eigenartige ungarische [Seite 646] Recht in ein System brachte. Als ein grosses Verdienst Werböczis muss ferner genannt werden, dass er zuerst die Lehre von der Heiligen Krone theoretisch entwickelte: er führte als erster aus, dass die Heilige Krone die Quelle aller Besitzrechte19 und der Träger der höchsten Staatsgewalt, und dass die gesetzgebende Gewalt zwischen dem König und der Nation geteilt sei.20 Er zeigte ferner die Grundlagen des königlichen Oberpatronatsrechts und die Unabhängigkeit Ungarns in betreff des Kirchenregiments.21 Die Ausführungen und Lehren Werböczis trugen sehr viel dazu bei, den constitutionellen Sinn der Nation, das Bewusstsein der staatlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu kräftigen und zu fördern.

Werböczis Werk weist neben seinen vielen Vorzügen und seiner Vortrefflichkeit natürlich auch mancherlei Mängel auf. G.-A. XXI: 1548 ordnete daher die Durchsicht und Verbesserung des Tripartitums durch eine vom König zu ernennende Commission an. Die gewünschte Arbeit, das wegen seiner vom Tripartitum abweichenden Einteilung in vier Bücher so betitelte Quadripartitum, kam nach wiederholtem Drängen des Reichstags zustande und wurde 1553 dem Reichstage vorgelegt. Die Stände entsendeten zur Begutachtung einen Ausschuss, der die Arbeit zur Annahme empfahl; der Reichstag nahm denn auch das Quadripartitum an und unterbreitete es dem König behufs Sanction; das wiederholte Ersuchen des Reichstages22 war jedoch nicht von Erfolg begleitet. Ebenso wenig hatten die auf die Verbesserung und Bestätigung des "Decrets" bezüglichen Forderungen der Reichstage von 1608 und 160923 irgend ein Resultat. Inzwischen konnten die Verbesserungsversuche dem Ansehen des Tripartitums nichts anhaben; sein Inhalt war bereits zu tief ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Die Nation hielt das Werk Werböczis als einen Gemeinschatz hoch.

Fußnoten
7.
Siehe die Confirmation des Tripartitums.
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8.
§. 1: "Consuetudines antiquae conscribantur et si quae videbantur Regiae Maiestati ac domini judicibus rationabiles et legitimae, non abusivae nec irrationabiles, secundum easdem iudicetur."
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9.
G.-A. X: 1500 §. 5. "Iidem jurati electi ... consuetudines et jura regni explanare et conscribi facere ad futurasque conventiones regnicolarum generales ... exhibere et praesentare teneantur."
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10.
G.-A. XXXI: 1504: "Regia Maiestas omnia decreta sua et statuta in diversas partes hactenus posita in unam formam decreti iam redigi faciat." Ebenso G.-A. XX: 1507. Fraknói betont ganz richtig, dass Werböczi den königlichen Auftrag vor dem Jahre 1504 erhalten habe. Werböczi István 1899 S. 59 f.
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11.
G.-A. LXIII: 1514.
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12.
Die Confirmationsurkunde ist in der Wiener editio princeps, sowie in den neuesten kritischen Ausgaben dem Text des Tripartitums vorausgeschickt.
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13.
In dem Vorworte "Ad lectores".
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14.
Bei Johann Syngrenius. Erwähnenswert ist die von Johann Sambucas 1581 veranstaltete Ausgabe, der die s. g. Regulae iuris antiqui, römisch-rechtliche Regeln (Dig. L. 17.) beigegeben sind. Das Tripartitum wurde ins Ungarische zuerst von Blasius Weres 1565, ins Kroatische von Iván Pergossich 1574, ins Deutsche von August Wagner 1599 übersetzt. Vgl. Thomas Vécsey, Adalék a Corpus Juris történetéhez [Beiträge zur Geschichte des Corpus Juris] 1902 S. 9 ff. Die jüngste kritische Edition des Tripartitums ist von A. Kolosvári und K. Óvári für die von Desider Márkus redigierte Millennarausgabe des Corpus Juris Hungarici 1897 besorgt worden.
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15.
G.-A. XLI : 1518 §. 5: "Secundum iura regni scripta ad universos regni comitatus iam destinata ab universis comitatibus semper adiudicentur (so) causaeque universae discutiantur."
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16.
Siehe z. B. G.-A. XVIII : 1635, der sich auf tit. 3. p. II. und tit. 2. p. III. beruft.
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17.
z. B. in tit. 29. p. I. G.-A. LXIII: 1492, in tit. 19. p. III. G.-A. XXXVIII: 1498.
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18.
Die kanonisch-rechtlichen Entlehnungen des Tripartitums hat bereits Johann Szegedi in seinem Werke: Tripartiti iuris Ungarici tyrocinium sacris canonibus accomodatum 1734, ausführlich behandelt. Das Verhältnis zum römischen Recht beschäftigte im XVII. und XVIII. Jahrhundert u. a. die Juristen Johann Decsi, Franz Otrokocsi und Johann Joni. Vgl. Fraknói a. a. O. S. 83 ff. Der österreichische Rechtshistoriker J. A. Tomaschek suchte in seiner Abhandlung über eine wahrscheinlich zu Wiener-Neustadt in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts entstandene Summa legum incerti auctoris (Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften. Historisch-philosophische Classe CV. 1883 S. 241 ff), den Nachweis zu erbringen, dass Werböczi den römisch-rechtlichen Inhalt seines Werkes nicht unmittelbar aus dem Corpus iuris civilis, sondern aus der Summa geschöpft habe. Die fraglichen Stellen enthalten jedoch reines römisches Recht; und zwingt uns nichts zu der Annahme, dass Werböczi eben die Summa und nicht die Quellen selbst benützt hätte. Vgl. Felix Schiller, A hármaskönyv jogforrástana [Die Lehre des Tripartitums von den Rechtsquellen] 1902 S. 6.
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19.
Tit. 4. 10. 24. p. I.
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20.
Tit. 3. p. I., 3. p. II.
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21.
Tit. 11. 12. p. I.
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22.
GA. XV: 1553 und XXX: 1563. Das Quadripartitum ist bisher bloss einmal (1799) herausgegeben worden.
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23.
G.-A. XVI: 1608 a. c., LXIX: 1609.
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