Roman Schnur, Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates (Berlin: Duncker und Humblot, 1986.]

Roman Schnur, Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates (Berlin: Duncker und Humblot, 1986.]

[Editorial]

Quelle: Roman Schnur, Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates (Berlin: Duncker und Humblot, 1986.] Digitalisiert: Ungarische Juristen am Ausgang des Mittelalters S. 66-70 über Stefan von (István) Werböczy mit freundlicher Genehmigung des Duncker und Humblot Verlag vom 22. Mai 2019.

Text

[S. 66] Die Protonotare des frühen 16. Jhs. waren meist Kleinadlige. Sie erwarben eine stabile Stellung und übten ihr Amt zum Erwerb der Adelsgüter aus. Ihre Tätigkeit in der rechtskundigen Intelligenz diente vornehmlich der Hebung ihrer Familien. Geistliche Pfründe wurden von ihnen nicht gesucht. Diese kamen in die Hände der Doktoren. Örtlich gesehen, kamen Rechtskundige meist aus Transdanubien und aus der oberen Theißgegend und nur selten aus anderen Komitaten. [S. 67] Ihre Ambition zielte meistens auf eine Gespanschaft, selten auf die Würde des Personalis oder des Kanzlers. Eine hervorragende Persönlichkeit, István Werböczy, stieg zum Palatinat empor.

Werböczys Familie ist seit Mitte des 15. Jhs. bekannt. Sein Großvater, Barla von Kerepecz, war Vizetruchseß Sigismunds von Luxemburg; zusammen mit seinem Bruder, dem „Literaten“ Johann, erwarb er das Gut Werböcz im Komitat Ugocsa (heute im Gebiet der Sowjetunion) und gab damit der Familie einen neuen Namen. Ein Sohn des Vizetruchsesses, Oswald von Kerepecz, zeugte mit Apollonia Deák den so berühmt gewordenen Stephan. Nach Angaben der Universität Krakau wurde Stephan im Frühjahr 1492 dort immatrikuliert, doch dauerte dieser Ausflug in die Welt der Wissenschaft nur ein halbes Jahr, da Werböczy bereits im Herbst einen früher begonnenen Dienst in der königlichen Kurie fortsetzte. Seine „elegant“ angewandten Kenntnisse der lateinischen, griechischen und deutschen Sprache soll er an einer einheimischen Domschule erworben haben.

Wahrscheinlich mit Unterstützung des mächtigen Judex Curiae Stephan Báthori kam Stephan Werböczy an den Hof. Für die Jahre 1483 und 1484 ist er als conservator, d. h. Archivar und Custos der königlichen Donationsbücher bezeugt. Doch verschwindet sein Name in den folgenden Jahren, bis wir ihm Ende 1492, im Rang eines Notars der königlichen Kurie, wiederbegegnen. Der „öffentliche“ Dienst hinderte ihn nicht daran, auch dem späteren Parteiführer des minderbegüterten Adels, Michael Szobi, Notardienste zu leisten. Bereits 1498 schenkte ihm sein Herr einige Teilbesitzungen im Komitat Nógrád, später auch in Siebenbürgen die Burg Vécs. Damit begann die lange Reihe der Erwerbungen der Werböczy. Adelspolitik und juristische Dienste förderten ihn in seinen hochgesetzten Zielen. Im Jahre 1500 verfaßte er die Beschwerden und Wünsche des Adels auf dem Reichstag und nahm so an der Vorbereitung der Gesetzesartikel teil. Vermutlich erregte seine Tätigkeit Aufsehen unter den Teilnehmern, die ihn zu einem adligen Assessor des königlichen Rates erwählten. Ende 1502 erwarb der mehr als Vierzigjährige eine sicher lange erwartete Stellung in der Judikatur: er wurde Protonotar des Judex Curiae, Peter von St. Georg und Bösing. Das bedeutete eine der ungarischen Entwicklung eigene Vasallenstellung beim Magnaten; da Peter von St. Georg auch die Würde eines Woiwoden von Siebenbürgen innehatte, versah sein familiaris Werböczy auch die Pflichten des Protonotars von Siebenbürgen. Fortan teilte er seine Zeit zwischen Buda und dem transsylvanischen Gerichtsstuhl, wo immer dieser tagte.

Es ist leicht zu verstehen, daß König Wladislaus II. die längst erwartete Arbeit der Zusammenfassung der Rechtsgewohnheiten dem [S. 68] Protonotar des Judex Curiae anvertraute. In den freien Stunden, die ihm bei seiner zweifachen Richtertätigkeit blieben, verfaßte er sein dreigeteiltes Buch. Da aber Werböczy, als das Werk 1514 nicht Gesetzesrang erwerben konnte, den Widerstand der Großgrundbesitzer spürte, verließ er seine beiden Ämter während des Jahres 1515. Erst in den Wirren nach dem Tode des schwachen Wladislaus II., unter der Scheinregierung des zehnjährigen Ludwig II., wurde er auf den Posten der Personalis erhoben (1516).

Der personalis praesentiae regiae locumtenens war seit der Gerichtsreform des Königs Matthias Corvinus im Jahre 1464, wenn nicht der rangerste, so doch der einflußreichste Richter der Kurie. Diese Stelle wurde seit je mit Geistlichen besetzt; nun erwarb sie — den Wünschen des Reichstages gemäß — ein weltlicher Rechtsgelehrter. Dieses Amt ermöglichte Werböczy, Einfluß und Vermögen zu vermehren, sowie eine führende Rolle in der Politik der Zeit zu spielen. In den Jahren vor der katastrophalen Schlacht von Mohács (1526) wurde er mehrmals als Mitglied und Sprecher von Delegationen ins Ausland gesandt. Er forderte die Republik Venedig, den Papst, die Reichsstände in Worms und Nürnberg auf, seinem Lande wirksame Hilfe gegen die drohende Türkengefahr zu leisten. In dieser Funktion zeigte er große Naivität: Obwohl er lateinisch zu sprechen verstand, hielt er vor dem Rat von Venedig eine Rede auf ungarisch, während er in Worms versuchte, Martin Luther bei einem Glas Wein von seinem Reformationsweg abzubringen. 1521 wurde er einer der Reichsschatzmeister in der kurzlebigen ständischen Finanzverwaltung. Dabei war er auch ein Mäzen, indem er u. a. die Ausgabe der Elegien des lateinischen Dichters und ungarischen Humanisten Janus Pannonius in Wien unterstützte. Werböczys Freigebigkeit beweisen auch einige Lobpreisungen der Humanisten.

Sein politischer Einfluß stand damals auf dem Höhepunkt. Wie er bereits 1505 den (allerdings wirkungslosen) Reichstagsbeschluß gegen das Fremdkönigtum verfaßt hatte, so blieb er auch in den 20er Jahren der populärste Wortführer der auf dem Rákosfeld oder andernorts oft zusammenkommenden Versammlung des Adels, der dieta. Die Krise der aristokratischen Regierung und die im Lande herrschenden Mißstände zeitigten einen Ausbruch der Unzufriedenheit des Kleinadels, der Werböczy in der aufrührerischen Dieta von Hatvan 1525 zur höchsten weltlichen Würde des Landes, zum Palatinat erhob. Dem die Wechselfälle der ständischen Politik wohlkennnenden Manne war dies unbehaglich, und er fungierte nur ein kurzes Jahr lang als comes palatinus. Obwohl er seine Popularität mit allen Mitteln zu heben versuchte, u. a. mit dem (den Franziskanern entliehenen) ungewöhnlichen Titel Regni Hungariae servus, gewann die aristokratische Reaktion rasch die [S. 69] Oberhand. Ende 1526 setzte ihn ein anderer Reichstag ab, der ihn und Szobi außerdem mit der Acht (nota infidelitatis) belegte.

Sein Sturz rettete ihm wahrscheinlich das Leben; denn er konnte die verheerende Schlacht von Mohács am 29. August 1526 in Zurückgezogenheit überleben. Nach dem Doppelkönigtum trat Werböczy, seinen Prinzipien treu, der Partei des schwachen Königs Johann von Zápolya bei. An seiner Seite bekleidete er das vorher immer von Geistlichen eingenommene Kanzleramt. Er folgte seinem Herrn in die Emigration ins Ausland und übernahm im achtzigsten Lebensjahr eine mühevolle Gesandtschaft nach Konstantinopel. Er mußte noch erleben, daß im Jahre 1541 die türkischen Heerscharen durch List heimlich in die Festung von Buda gelangten, und daß danach die Türken die Landesmitte für fast 150 Jahre in der Hand behielten. Der einst über Riesengüter urteilende Jurist beschloß sein Leben in der alten Hauptstadt als von den Türken ernannter iudex der unterworfenen Stadtbevölkerung. Einige Monate später starb er dort an den Folgen eines Zornanfalles.