BERLIN Weidmannsche Buchhandlung 1912
Hochansehnliche Versammlung!
Wiewohl ich glaube, daß es kaum möglich ist, über die Fragen, die unsere Vereinigung bewegen und die auch im Lager der Juristen lebhaft verhandelt werden, vom juristischen Standpunkte etwas wesentlich Neues zu sagen, ist es mir doch Ehre und Freude, Ihnen die Überzeugungen in betreff jener Fragen darlegen zu dürfen, in denen eine langjährige Tätigkeit als Lehrer der Rechte mich befestigt hat.
Von Humanismus und Rechtswissenschaft soll die Rede sein. Aber wir wollen nicht in den Vordergrund rücken, was der Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts der Rechtswissenschaft gewesen ist3.1: zuerst ein Verächter, dann ein Förderer und Verbündeter, der auf geschichtliche Vertiefung drang, neue Quellen erschloß, zugleich eine der Triebfedern der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland; — sondern ich habe mich darüber auszusprechen, welche Bedeutung für den Juristen von heute der Humanismus im Sinne der in der Antike wurzelnden Geistesbildung hat, die das Wesenselement des humanistischen Gymnasiums ausmacht. [Seite: 4]
Hier aber ist die erste Frage die, was für den Juristen Rechtsgeschichte und geschichtliche Bildung überhaupt ist.
Wir haben lange Zeit, von Hugo und Savigny bis in unsere Tage, der Ansicht gehuldigt, daß tiefere wissenschaftliche Erfassung des Rechtes nur durch Versenken in seine Geschichte möglich ist.
Neuerdings wendet man sich von dieser Anschauung vielfach ab. Man begnügt sich nicht mit der Darlegung der Fehler, die die sogenannte historische Schule unzweifelhaft begangen hat. Man wirft ihr nicht mit Unrecht vor, daß sie zu sehr an das Recht der fernen Jahrhunderte sich gehalten hat und viele Lücken unserer Kenntnis zwischen diesem Recht und dem der Gegenwart gähnen. Es ist richtig, daß die Romanisten ihre Neigung dem reinen römischen Recht entgegengebracht haben und die mittelalterliche und neuzeitliche Fortbildung des römischen Rechtes darüber vernachlässigt worden ist. Die sog. Postglossatoren des 13. und 14. Jahrhunderts hatten das römische Recht in ihrer Lehre stark modernisiert, die deutschen Praktiker in Anlehnung teils an die Reichsgerichte, teils an die kursächsischen Gerichte hatten diese Bestrebungen fortgesetzt, die Leyser, Schilter, Stryk im 17. und 18. Jahrhundert hatten den Bau des usus modernus Pandectarum vollendet. Was man als römisches Recht damals lehrte, wich von dem reinen römischen Recht in vielen Beziehungen ab, man hatte die Bedürfnisse des Rechtslebens der Zeit durch Umbildung des römischen [Seite: 5] Rechtes zu befriedigen gewußt. Savigny richtete den Blick wiederum auf das reine römische Recht, und indem er, wie oft mit Recht gerügt worden ist, sein eigenes geschichtliches Prinzip nicht achtete, versagte er den Errungenschaften der fünf Jahrhunderte vor ihm die Anerkennung, die sie zu fordern hatten, und lenkte die Rechtsanwendung zurück auf das Recht Justinians5.1. Das war ein Fehler, wiewohl, glaube ich, seine praktische Bedeutung vielfach überschätzt worden ist. Immerhin: z. B. eine starke Zurückschraubung des Besitzschutzes ist diesem Savignyschen Purismus zuzuschreiben. Die Germanisten trifft entsprechender Vorwurf weniger, aber frei davon können auch sie nicht gesprochen werden. Auch die deutsche Rechtsgeschichte hat vielfach für das Mittelalter mehr Aufmerksamkeit gezeigt als für die neuere Zeit. Hieraus folgt, daß wir solche empfindlichen Lücken unserer rechtsgeschichtlichen Kenntnis auszufüllen trachten müssen und daß unser Wissen Stückwerk ist. Neuestens aber will man daraus, daß die Rechtswissenschaft an jenen Lücken ihrer Kenntnisse nicht erstorben ist, die prinzipielle Behauptung erhärten, daß die Rechtsgeschichte für die Erkenntnis des Rechtes der Gegenwart wenn nicht ganz, so doch in der Regel überflüssig sei5.2.
Sie ermessen sofort, daß diese grundsätzliche Frage vor allem Klärung heischt, wenn gefragt wird, was dem Juristen das humanistische Gymnasium bedeutet. Denn [Seite: 6] ist es wahr, daß wir Toren sind oder wenigstens etwas unserer eigentlichen Aufgabe wenig Förderliches leisten, wenn wir uns um die geschichtliche Entwickelung des Rechtes kümmern und die juristische Jugend in die geschichtlichen Zusammenhänge des Rechtes einführen, so ist auch der Unwert gymnasialer Schulung für den Juristen als solchen sonnenklar, und es könnte nur noch vom Standpunkte der allgemeinen Bildung für ihn wie für andere das Gymnasium gewürdigt werden.
Es ist richtig, daß alle Ausbildung des Juristen auf Gegenwart und Zukunft zielen muß. Eine Ausbildung, die im geschichtlichen Stoff stecken bliebe und an das Recht der Gegenwart nicht heranführte, wäre selbstverständlich falsch gerichtet. Es ist daher insbesondere vollkommen zu billigen, daß man bei der Reorganisation des Rechtsunterrichts aus Anlaß der Schöpfung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches dieses in den Mittelpunkt der Rechtsstudien gestellt und den Plan verworfen hat, das römische Recht als das Kernstück der Ausbildung der juristischen Jugend auch fernerhin bestehen zu lassen und das Bürgerliche Gesetzbuch nur als eine Art Anhang dazu zu behandeln. Wenn man in Preußen nach Einführung des allgemeinen Landrechts unter dem Einfluß Savignys anders verfuhr, so ist das der wissenschaftlichen Durcharbeitung des preußischen Rechtes nicht förderlich gewesen und hat zum guten Teil dazu beigetragen, jene Kluft zwischen Theorie und Praxis zu öffnen, unter der beide, wie oft beklagt worden, auf das schwerste gelitten haben. Andererseits aber hat jenes Verfahren den großen Segen mit sich geführt, daß der Zusammenhang der preußischen [Seite: 7] Juristenwelt mit derjenigen des übrigen Deutschland gewahrt blieb, und dies ist der Vorbereitung der Einigung Deutschlands auf dem Boden des bürgerlichen Rechtes gewiß zugute gekommen. Bei der Schöpfung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, das berufen war, von der gesamten deutschen Juristenwelt einheitlich zur Grundlage wissenschaftlicher Fortbildung und der Rechtsanwendung genommen zu werden, konnte und mußte anders verfahren werden.
Es ist richtig, daß das Maß der Kenntnisse, die das Leben von dem Juristen fordert, beständig angewachsen ist und weiter wachsen wird. Man wünscht für den Studenten der Rechtswissenschaft eine gründlichere staatswissenschaftliche Ausbildung, als er sich bisher durchschnittlich aneignete. Die Gewerbewelt klagt darüber, daß die Richter zu wenig Verständnis für Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes besitzen. Darum verlangt man eine bessere naturwissenschaftliche Ausbildung, vor allen Dingen eine chemische Bildung des Richters. Man wünscht den jungen Juristen Vorlesungen über Eisenbahnwesen, über Bergwesen, über Landwirtschaft, über Buchführung, Bank und Börse, und man hat im Grunde genommen nicht unrecht. Denn gewiß ist dem Juristen eine möglichst ausgebreitete Kenntnis der Tatsachenwelt, der Lebensverhältnisse zu wünschen, auf die er das Recht zur Anwendung bringen soll. Ihm ist in jeder Richtung eine möglichst vielseitige allgemeine Bildung dringend not. Diese Erkenntnis ist auch nichts weniger als neu: denn schon die Römer wußten von einem ihrer Größten, von Labeo, zu sagen, er verdanke seine Erfolge wesentlich [Seite: 8] dem Umstand, daß er sich auch mit anderen Zweigen der Wissenschaft, außer der Jurisprudenz, beschäftigt hatte: Et ceteris operis sapientiae operam dederat8.1.
Das öffentliche Recht wird neuerdings und mit vollem Rechte in der Ausbildung wesentlich energischer gepflegt und in der Prüfung dementsprechend energischer berücksichtigt. Von Jahr zu Jahr schwillt der Rechtsstoff an, der der Bewältigung harrt. Neue Disziplinen spalten sich von den alten ab und verlangen selbständiges Studium, zum Teil unter dem Druck der wirtschaftlich interessierten Kreise, der diesen in keiner Weise zu verdenken ist. Das Urheberrecht, das Gewerberecht, das Versicherungsrecht, das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit und neuestens das Kolonialrecht sind zu blühenden Ästen an dem alten Baume der Jurisprudenz erwachsen. Das lenkbare Luftschiff und der Flugapparat haben schon jetzt zu einer Fülle von Rechtsfragen öffentlich-rechtlicher und privat-rechtlicher Natur geführt, die wir entscheiden lernen müssen. Es gibt schon jetzt ein Luftrecht, und vielleicht nicht lange wird es währen, dann wird diese Materie einen selbstständigen Zweig der Rechtswissenschaft von ähnlicher Bedeutung wie das Seerecht darstellen, und es wird regelmäßige Vorlesungen über Luftrecht geben, wie es an technischen Hochschulen schon jetzt Lehrstühle für Luftschiffahrt und Flugapparate gibt. Die drahtlose Telegraphie [Seite: 9] stellt eine latente Benutzung fremden Staatsgebietes zur Nachrichtenvermittelung dar. Wie ist sie international zu regeln? Die naturwissenschaftliche Theorie der Energetiker droht uns den Begriff der körperlichen Sache zu nehmen, auf den wir so fest gebaut hatten.
Unendlich viel Neues drängt an, der Studierende soll sich mit allem beschäftigen, alles wissen, sich in allem examinieren lassen, und doch hat er immer noch nur die alten sechs Semester Studienzeit, die wir vor 30 Jahren hatten, als man mit tüchtiger Kenntnis der Pandekten und leidlichem Besitz an deutschem Privatrecht, Strafrecht, Zivilprozeß und etwas Staats- und Kirchenrecht so ziemlich wohl geborgen war.
Den Rat kann man nicht ernstlich erteilen, daß der Student von allem, was auf der reichen und bunten Karte steht, sich eilfertig in sechs Semestern ein wenig aneignen solle, gerade genug, um mit gutem Glück durch das Examen zu schlüpfen. Wer so handelt, führt einen unsoliden Spekulationsbau auf, der die polizeiliche Abnahme passiert, aber in dem es hernach niemanden, am wenigsten dem Erbauer, behaglich ist und der zusehends verfällt.
Das Bestreben der deutschen Rechtslehrer geht seit langem dahin, für das Studium ein siebentes Semester zu gewinnen; bisher ist es nicht zu erreichen gewesen. Man darf nicht darauf verweisen, daß es jedermann unbenommen bleibe, freiwillig sieben oder mehr Semester zu studieren, wenn es dabei bleiben soll, daß auch für den, der dies getan, dieselbe lange — vierjährige — Referendarzeit notwendig bleibt. Ars longa, vita brevis. Es ist schon heute bei den meisten höheren und nicht zum wenigsten [Seite: 10] bei allen juristischen Berufen so, daß ein im Vergleich zu der durchschnittlichen Lebenszeit des Menschen sehr lang bemessener Abschnitt mit der Vorbereitung auf einen Beruf hingeht, und man kann nicht leichten Herzens einer Verlängerung der Vorbereitungszeit im ganzen das Wort reden. Darum wird auch das siebente Semester einsichtigerweise nur in dem Sinne gefordert, daß dafür eine Verkürzung der Referendarzeit eintreten soll.
Der Lösung werden die obwaltenden Schwierigkeiten nach meiner Überzeugung desto eher entgegenreifen, je mehr sich zwei Gedanken Bahn brechen, die ich keineswegs für neu ausgebe: erstens, daß die Universität und auch der sogenannte Vorbereitungsdienst nicht imstande sind, nach allen Richtungen fertige Männer abzuliefern, sondern die Zeit des Lernens für den erst recht angeht, der im formalen Sinne ausgelernt hat, zweitens: daß es unmöglich ist, jeden Juristen nach der Schablone für jeden Zweig der unendlich vielseitigen juristischen Tätigkeit gleichmäßig auszubilden.
Es ist bekannt, daß die Bestrebungen, die, wenn ich nicht irre, am frühesten in Fortbildungskursen für praktische Ärzte zum Ausdruck gekommen sind, in der neuesten Zeit auch auf andere wissenschaftliche Berufe hinüber gewirkt haben. Die Vorlesungen der Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung, die Vorträge für Richter und Staatsanwälte, wie sie hier seit zwei Jahren gehalten werden, geben Zeugnis davon: und es ist zu wünschen, daß derartige Veranstaltungen der Fortbildung immer mehr verallgemeinert und reichlich benutzt werden. [Seite: 11]
Und das Zweite: Eine Trennung des Vorbereitungsdienstes für Juristen und Verwaltungsbeamte ist in Preußen längst durchgeführt. Aber auch der Jurist im engeren Sinne kann nicht für alle Berufe, denen er sich zuwenden kann, oder auch nur für alle Funktionen des juristischen Staatsdienstes gleichmäßig vorgebildet werden. Es ist nicht notwendig, daß ein Amtsrichter am Fuße der Alpen dieselbe Kenntnis vom Seerecht habe, wie ein Hamburgischer oder Bremer Richter. Es ist nicht notwendig, daß jeder Jurist die Befähigung zum Justiz- oder Verwaltungsdienst in den deutschen Schutzgebieten durch entsprechende Vertiefung in das Kolonialrecht erwerbe.
Indessen habe ich hier nicht über die Reform des juristischen Studiums zu reden. Es ist nicht meine Aufgabe, alle die Vorschläge zu mustern, die zu solcher Reform gemacht worden sind. Ich habe nur zunächst andeuten wollen, in welcher Richtung die Beschwerden liegen, die man gegen die jetzige juristische Ausbildung erhebt, und in welcher Tendenz im großen und ganzen nach Mitteln zur Abstellung jener Beschwerden gesucht werden kann. Die Hilfe darf nicht gesucht werden in der Zerbröckelung oder gar Zerstörung des geschichtlichen Unterbaus der juristischen Ausbildung.
Das Recht ist ein System von Normen über das Verhalten der Menschen zueinander; es beruht auf dem Willen eines menschlichen Gemeinwesens. Der Rechtssatz kann ausgesprochen sein durch ein nach der geltenden Staatsverfassung zur Aufstellung von Rechtssätzen berufenes Organ, er kann sich gebildet haben auf dem Wege des [Seite: 12] sogenannten Gewohnheitsrechtes, d. h. in der tatsächliehen Praxis des Verkehrs und der Gerichte. Wie dies des näheren theoretisch zu erklären ist, wollen wir hier nicht untersuchen. In jedem Falle beruht die Geltung des gesetzlichen Rechtssatzes auf der tatsächlich allgemein anerkannten Autorität des Staatsorgans, von dem er ausgegangen ist, und besteht die Geltung eines gewohnheitsrechtliehen Satzes so lange, wie er tatsächlich allgemeine Befolgung findet. Allgemein heißt nicht ausnahmslos: der Umstand, daß Diebstähle vorkommen, hebt die Geltung der Rechtssätze über das Eigentum nicht auf. Aber daß die Geltung des Rechtes in letzter Linie in der Macht der Tatsache wurzelt, wird durch die von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten vielfach bezeugte rechtsbildende Kraft revolutionärer Vorgänge zur Evidenz bewiesen und zeigt sich in der durch die verschiedensten Ereignisse unserer Tage bestätigten und immer wiederkehrenden Erscheinung, daß die völkerrechtliche Anerkennung diejenige Staatsgewalt genießt, die sich ausweist als im tatsächlichen Besitz der Macht befindlich. Die Rechtsordnung eines Staatswesens ist ein lebendiger Wille, aber dieser Wille ist ein geschichtlich gewordenes Faktum. Auf diese Feststellung kommt es hier an, um einem neuesten Versuche12.1 zu begegnen, das geschichtliche Element der Rechtswissenschaft eben darum als etwas ganz Nebensächliches beiseite zu schieben, weil das Recht nicht eine historische Tatsache, sondern ein System von Normen sei. Wer diesen Gegensatz behauptet, verkennt, daß die Existenz [Seite: 13] eines Rechts von bestimmtem Inhalt ihrerseits eine historische Tatsache ist, indem er zugleich verkennt, daß die Tatsachen der Gegenwart ebensowohl geschichtliche Tatsachen sind wie die Tatsachen verklungener Jahrhunderte. Was heute die Gegenwart ist, ist morgen Vergangenheit. Die Welt der Tatsachen ist in beständigem Fluß.
Das Recht ist ein Erzeugnis menschlichen Geistes und insofern in seiner Erscheinung geschichtlich bedingt und auf das Innigste verwoben mit allen übrigen Erscheinungen des Volkslebens. Alle äußeren und inneren Schicksale eines Volkes spiegeln sich in seinem Rechte. Die Einheit des deutschen bürgerlichen Rechts, erstrebt schon bei der Befreiung Deutschlands von der Fremdherrschaft im Jahre 1814, ist geboren aus der politischen Einigung der Nation im Jahre 1870. Die Glaubenskämpfe seit den Zeiten der Reformation haben sich in das Buch der Rechtsgeschichte tief eingeschrieben, denn die Geschichte der Gewissensfreiheit und der Gleichberechtigung der Konfessionen ist ein wichtiges Stück Rechtsgeschichte. Die wirtschaftlichen Lebensbedingungen eines Volkes sind der mächtigste Hebel der Bildung seines Rechts.
Gewaltige Veränderungen in dem Rechte Deutschlands sind durch die industrielle Umwälzung im 19. Jahrhundert hervorgerufen worden. Die ganze neue Arbeitsweise mit Maschinen und Großkapital drängte zu neuer rechtlicher Satzung, trieb insbesondere eine über die Verschuldenshaftung weit hinausgehende Haftung für Unfälle, trieb die Zwangsversicherung und die sonstige Arbeiterschutzgesetzgebung und eine ungeahnt mannigfaltige Entwickelung des Gesellschafts- und Verbandswesens hervor. [Seite: 14]
Es ist in diesem Kreise eigentlich überflüssig zu sagen, daß die Gegenwart eines Volkes und so auch das gegenwärtige Recht desselben nicht anders verstanden werden kann, als wenn man übersieht, wie die gegenwärtigen Zustände entstanden sind.
Wer die Parteikämpfe der Gegenwart verstehen will, kann sich nicht damit begnügen, die gedruckten Programme der politischen Parteien von heute zu Rate zu ziehen, sondern er muß untersuchen, woher diese Parteien gekommen sind, wie Sezessionen und Fusionen bis zur Gegenwart zu den bestellenden Parteigruppierungen und Schattierungen geführt haben und was die Vergangenheit einer Partei von der künftigen Handhabung des Programms erwarten läßt. Wer die brennendsten Fragen der Volkswirtschaft zum Gegenstande der Untersuchung macht, kann nicht von dem Jahre 1911 reden, sondern muß zurückgehen auf die Entwicklung, die zu den bestehenden Zuständen und zu den Fragestellungen der Gegenwart geführt hat. Wer die Frage nach der Heilsamkeit oder Verwerflichkeit von Freihandel oder Schutzzollsystem untersuchen will, kann zu keinem Ziel kommen, ohne zu prüfen, wie in der bisherigen Entwickelung Freihandel und Schutzzoll gegeneinander gestanden haben, zu welchen Ergebnissen das eine und das andere System in diesem und jenem Lande geführt hat.
Es ist falsch, historische und teleologische Retrachtung einander gegenüberzustellen und für das Recht teleologische im Gegensatz zur historischen Betrachtungsweise zu verlangen. Es ist freilich zutreffend, daß ein Rechtssatz nach seiner Zweckmäßigkeit gewürdigt werden will. Aber [Seite: 15] man kann dabei doch nicht an der Frage vorübergehen, zu welchem Zweck er aufgestellt ist, und dies kann nur unter Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse ermittelt werden, unter denen er entstanden ist.
Die geschichtliche Betrachtung des Rechtes kann uns gewiß niemals lehren, daß etwas, weil es geschichtlich geworden ist, auch erhalten zu werden verdient. Langjähriger Bestand einer Einrichtung kann ebensowohl das Urteil rechtfertigen, daß es die höchste Zeit ist, sie zu ändern, wie das Urteil, daß das Altehrwürdige erhalten bleiben solle. Es kommt auf den Wert der Einrichtung für die Gegenwart an. Aber es ist notwendig zu untersuchen, aus welchen Gründen die Vorzeit den Rechtssatz aufgestellt hat, wofür es nur ein anderer Ausdruck ist: — welche Zwecke sie damit verfolgte. Dann ist zu untersuchen, ob jene Zwecke noch für die Gegenwart verfolgenswert sind und ob das damals gewählte Mittel auch heute noch ihre Erreichung garantiert. Wird eine dieser Fragen verneint, so muß man für die Änderung des Rechtszustandes votieren, werden sie beide bejaht, so ist dargetan, daß der Zustand aufrecht erhalten zu werden verdient.
Man kann das scharfe Wort Stammlers15.1, wenn etwas sich geschichtlich erkläre, so sei damit gesagt, daß es sonst keinen Sinn und Verstand habe, durchaus billigen, wolle aber ja nicht vergessen, daß dieser geistvolle Forscher, der in seinem neuesten Werk über Theorie der Rechtswissenschaft auch der Rechtsgeschichte volle Gerechtigkeit [Seite: 16] widerfahren läßt16.1, in jenem Wort Dinge meint, die sich nur geschichtlich erklären. Was er sagen wollte, ist ungefähr dasselbe, was Goethe in Sachen der Jurisprudenz zwar dem Mephistopheles in den Mund legt, aber ohne allen Zweifel selbst gebilligt hat. Auch in jenen berühmten Worten liegt der Ton darauf, daß eine Rechtseinrichtung ehemals die Vernunft für sich gehabt haben, durch den Wandel der Zeiten aber das Vernünftige Unsinn, die Wohltat zur Plage geworden sein kann. Was sich nur historisch erklärt, ist eine in die Gegenwart fortgeerbte Einrichtung, deren ehemals vernünftiger Sinn für die Gegenwart zur Unvernunft geworden ist.
Soviel neue Probleme durch die unendliche Entwickelung aller Lebensverhältnisse, aller Technik im 19. und 20. Jahrhundert der Rechtswissenschaft gestellt sind, so ist doch ein großer Teil unserer Arbeit ein Mühen um Aufgaben, die in gleicher Art vor Jahrtausenden bereits aufgetaucht sind. Und wir können namentlich, wenn wir nicht nur an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft des Rechtes denken, einer gründlichen geschichtlichen Bildung nicht entraten. Gerade wer mitarbeiten will an der künftigen Gestaltung unseres Rechtes, muß sich Rechenschaft davon zu geben wissen, in welcher Art die Menschheit in ihrer bisherigen Entwickelung sich um die Lösung der uns beschäftigenden Fragen bereits gemüht und welche Ergebnisse sie erzielt hat.
Es ist in der neueren Zeit bekanntlich wiederholt das Bestreben aufgetaucht, das Erbrecht der entfernten [Seite: 17] Seitenverwandten zugunsten eines erweiterten Erbrechts des Staates oder auch der Gemeinde zu beseitigen. Gewiß kann man über Segen oder Unsegen einer derartigen Neuerung sehr verschiedener Meinung sein (ich würde sie wünschen), wer sich aber bewußt ist, daß bereits der römische Prätor zur Erbfolge nur die Verwandten bis zum 6. Grade und zum Teil bis zum 7. Grade berief, wer weiß, daß im alten deutschen Recht ähnliche Beschränkungen der gesetzlichen Erbfolge vorgekommen sind, daß das österreichische bürgerliche Gesetzbuch und das französische vor hundert Jahren bereits die gesetzliche Erbfolge der Verwandten beschränkt haben, der ist davor bewahrt, in jenem Plane eine angsterregende Neuerung zu erblicken, die als eine erste Bresche in das System des Privateigentums zugunsten sozialistischer oder kommunistischer Ideen aufgefaßt werden könnte.
Wer sich wundert, wie verwickelt und elastisch im bürgerlichen Gesetzbuch der Begriff des Wuchers gefaßt ist, dem wird es heilsam sein, die Geschichte der Wuchergesetzgebung zu betrachten und daraus zu entnehmen, wie das System des gesetzlichen Zinsmaximums sich als für manche Fälle zu starr und hart erwiesen hatte, wie man dann in der Zeit der freiheitlichen Gesetzgebung der ersten Jahre des Norddeutschen Bundes zu dem unheilvollen Gedanken kam, so ziemlich jede zivilrechtliche Beschränkung des Wuchers über Bord zu werfen, und wie man nach den schlimmsten Erfahrungen der dann folgenden 13 Jahre den Wucher anders als mit jenem zugleich unzulänglichen und doch wieder über das Ziel hinausgehenden System des gesetzlichen Zinsmaximums zu fassen suchte. [Seite: 18]
Er wird daran zugleich ein vortreffliches Beispiel eines Grundgesetzes geschichtlicher Entwicklung vor sich haben, daß nämlich alle Entwickelung im sozialen Leben insbesondere im Rechte durch Schlag und Rückschlag vor sich geht, und daß im günstigen Falle in solcher, man möchte sagen Pendelbewegung, sich das Recht allmählich dem richtigen Ergebnis annähert. Wenn im altrömischen Recht mehrere Bürgen nur nach Kopfteilen hafteten, ohne Rücksicht darauf, ob sie alle zahlungsfähig waren oder nicht, so erfanden die Geldgeber eine neue Form der Bürgschaft, die von jenem Rechtssatz frei war. Der Kaiser Hadrian aber hat diese neue Bürgschaft dem Prinzip der Teilung der Haftung unter mehrere Bürgen in einer fortgeschrittenen Form unterworfen, nämlich nur für den Fall, daß die mehreren Bürgen zahlungsfähig sind. Und wiederum, wenn die alte Bürgschaft unter dem Satze steht, daß der Gläubiger zwar den Bürgen wie den Hauptschuldner verklagen darf, aber, wenn er den einen fruchtlos verklagt hat, gegen den anderen nicht mehr vorgehen kann, so erfand die Kapitalistenwelt eine neue Form der Verbürgung, bei der der Gläubiger Hauptschuldner wie Bürgen beliebig verklagen kann, den zweiten auch nach fruchtloser Exekution gegen den ersten. Justinian hat es dabei mit der Maßgabe belassen, daß im allgemeinen der Bürge verlangen kann, der Hauptschuldner solle zuerst verklagt werden.
Man verlangt von uns neuerdings die Anwendung experimenteller Methoden nach Art der Naturwissenschaften18.1. [Seite: 19]
Daß die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise auf rechtliche Erscheinungen unanwendbar ist und zu der größten Verwirrung führt, hat schon vorlängst Schuppe19.1 gezeigt. Es ist ein Bild, wenn man vom Entstehen und Untergehen oder vom Erlöschen eines Rechtes spricht; das Recht ist eine geistige Macht, und alle Folgerungen, die sich nur durch Gründe rechtfertigen lassen, die der körperweltlich-naturwissenschaftlichen Auffassung der Rechte entnommen sind, sind unfehlbar falsch; falsch z. B. die Idee, daß ein untergegangenes Rechtsverhältnis nicht wieder aufleben könne. Bei der Forderung experimenteller Methode in rechtlichen Dingen handelt es sich aber darum, durch praktische Erprobung der verschiedenen denkbaren Entscheidungen das Richtige zu finden. In diesem Gedanken liegt viel Wahres. Aber gerade von ihm aus ergibt sich ein unschätzbarer Wert der Rechtsgeschichte: sie ist das Archiv der Experimente, die die Menschheit seit Jahrtausenden angestellt hat!
Geschichtliche Betrachtung des Rechtes wird auch die Augen darüber öffnen, daß alle Rechtsbildung Diagonale ist aus dem Parallelogramm der Kräfte. Sie ist das Ergebnis von Kämpfen sich widerstreitender Interessen. Die hohe Idee der Gerechtigkeit, der in letzter Linie das Recht zustrebt, teilt das Schicksal aller Ideale; sie ist unerreichbar, und vermöge der seltsamen psychologischen Erscheinung, daß dem Menschen das seinem Vorteil entsprechende nur zu leicht als das Gerechte und dem Gemeinwohl entsprechende erscheint, werden die lauten [Seite: 20] Kämpfe in der Gesetzgebung und die stillen um die Gewohnheitsrechtsbildung von allen Parteien unter dem Banner der Gerechtigkeit geführt. Wer nur die Gegenwart sieht, mag es schelten und für ein Zeichen besonderer Verderbnis ansehen. Wer die Geschichte kennt, wird wissen, daß es immer so war. — Im Kampfe sollst Du Dein Recht finden, hat Ihering in seiner berühmten Schrift vom Kampf ums Recht20.1 nicht nur in dem Sinne gesagt, daß der einzelne im Kampf zu seinem Rechte gelangt, sondern auch in dem Sinne, daß aus dem Kampf widerstreitender Parteien und Interessen die Rechtssätze geschaffen werden. Bismarcks Ausspruch: Die Basis des konstitutionellen Lebensprozesses ist überall der Kompromiß20.2, war der Ausdruck derselben Grundanschauung.
Rechtsgeschichtliche Betrachtung läßt sich von sehr verschiedenen Standpunkten aus führen. Der Historiker wird die Rechtsgeschichte der Gesamtgeschichte des Volkes unterzuordnen haben, mit dem er sich beschäftigt. Für den Rechtshistoriker steht die Entwickelung der Rechtseinrichtungen im Vordergrunde, und die politische Geschichte, die Kulturgeschichte dienen ihm als Mittel zum Zweck, als Mittel, die rechtsgeschichtliche Entwickelung verständlich zu machen.
Die Aufgabe der Wissenschaft, eine Weltgeschichte des Rechtes zu bauen, wird sich nicht abweisen lassen, und die vergleichende Rechtswissenschaft ist nur ein [Seite: 21] Anfang hierzu. Für den Juristen einer jeden Nation steht aber die Geschichte des Rechtes seines Volkes in erster Linie; die Geschichte des Rechtes fremder Völker ist für ihn in dem Grade wichtig, in dem sie für die Entwickelung des Rechtes seines eigenen Volkes von Bedeutung gewesen ist.
Vom Standpunkte der Weltgeschichte des Rechtes aus ist die Bedeutung des römischen Rechtes unermeßlich, vom Standpunkte unserer nationalen Rechtsgeschichte aus ist sie auch heute noch sehr groß. In der Gesamtentwicklung des Rechtes auf Erden kommt kein Recht dem römischen an weittragender Bedeutung gleich, und für das deutsche Recht der Gegenwart bedeutet das römische Recht eine der beiden gleichwichtigen Wurzeln. Es ist bekannt, daß im 15. und 16. Jahrhundert das römische Recht in Deutschland auf dem Wege der gewohnheitsrechtlichen Rezeption Eingang gefunden hat. Es war getragen von der Autorität der Kaiser, die sich als die Reichs- und Rechtsnachfolger der römischen Imperatoren dachten, von der Autorität der Kirche, die dem Grundsatz huldigte, ecclesia Romana vivit secundum legem Romanam, von der Autorität der Wissenschaft, die in Gestalt der Bologneser Glossatorenschule jener Theorie von der Fortgeltung des römischen Rechtes in dem damaligen römischen Kaiserreich ihre Stimme lieh, getragen von dem allgemeinen Geist der Anlehnung an die antike Welt, der jene Jahrhunderte kennzeichnet, von der Renaissance, von dem [Seite: 22] Humanismus, den Fürsten willkommen mit seiner Theorie von der absoluten Gewalt des Herrschers.
Keine geschlossene einheitliche Macht des deutschen Rechtes leistete Widerstand, keine Wissenschaft vom deutschen Recht war da, sich dem Eindringen des römischen Rechtes zu widersetzen. So hat das römische Recht, vom Juristenstand dem deutschen Volke mehr aufgedrängt, als vom Volke begehrt, das deutsche Recht überflutet und ist in Gemeinschaft mit dem kanonischen Rechte zum sogenannten gemeinen Rechte Deutschlands geworden. Wohl war der Grundgedanke der Rezeption, daß die deutschen Landesrechte, die Partikularrechte dem gemeinen Rechte vorzugehen hätten, aber man gewöhnte sich an den Satz: qui jure Romano nititur, fundatam habet intentionem, und verlangte prozessualen Beweis für die Geltung eines vom römischen abweichenden partikular-rechtlichen Satzes. Infolgedessen ist unendlich viel vom deutschen Rechte durch das römische erstickt worden. Nur in den Ländern des sogenannten Sachsenrechtes war die Stellung des deutschen Rechtes eine bessere; hier galt vor dem römischen Rechte das auf dem Sachsenspiegel sich aufbauende, und das römische Recht trat um eine Staffel weiter zurück.
Es ist hier nicht der Ort, die Rezeption des römischen Rechtes zu rühmen oder zu schelten. Niemand kann leugnen, daß es für das deutsche Volk besser gewesen wäre, wenn es schon im 15. oder 16. Jahrhundert sich ein einheimisches Gesetzbuch hätte geben können, bei dem es in freier Wahl aus den Schätzen des alten Rechts hätte aufnehmen können, was für seine Zeit und für das deutsche [Seite: 23] Volk am Platze gewesen wäre. Aber die Geschicke unseres Volkes sind andere gewesen, und die geschichtliche Betrachtung verlangt, daß man die Dinge nimmt, wie sie sind.
Dem deutschen Juristen erwächst die Aufgabe, wenn er sich mit der Geschichte unseres Rechtes bekannt machen will, die römische Rechtsgeschichte so gut wie die deutsche zu pflegen; die römische Rechtsgeschichte ist ein Stück der deutschen Rechtsgeschichte geworden. Und noch heute, da wir uns der Segnungen des schwer errungenen deutschen bürgerlichen Rechtes erfreuen, ist das römische Recht lebendig; denn es sind in dem bürgerlichen Gesetzbuche noch zahlreiche Gedanken enthalten, die auf das römische Recht zurückgehen.
Der ganze Aufbau des Begriffswesens des bürgerlichen Rechtes und die Vorschriften des sogenannten allgemeinen Teils sind wesentlich herausgewachsen aus dem römischen Recht, nicht freilich so, wie es in dem Corpus juris stand, sondern wie es unter der Hand der gemeinrechtlichen Juristen sich herausgebildet hatte. In dem Sachenrecht herrschen germanistische Gedanken insoweit vor, als es sich um das Recht der Grundstücke handelt. Aber auch das Recht der beweglichen Sachen ist keineswegs überwiegend romanistisch gefärbt, insbesondere ist das Pfandrecht an beweglichen Sachen nicht das römische reine Vertragspfand, sondern das Faustpfand. Das Recht der Schuldverhältnisse ist überwiegendenteils romanistisch. Aber selbst die begeistertsten Anhänger des deutschen Rechtes gegenüber dem römischen erkennen an, daß das römische Obligationenrecht das großartigste und zugleich [Seite: 24] universellste Werk des römischen Rechtsgenius ist24.1. Das Familienrecht des bürgerlichen Gesetzbuches hat sich von dem römischen Rechte zum großen Teil entfernt. Das Recht der elterlichen Gewalt des Vaters oder der Mutter, nicht, wie das römische Recht wollte, der väterlichen Gewalt regiert das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, aber in der elterlichen Nutznießung und Verwaltung des Kindesvermögens ist das bürgerliche Gesetzbuch dem römischen Rechte nach verwandt. Das gesetzliche eheliche Güterrecht ist nicht mehr das römische Dotalrecht. Auf dem Gebiete des Erbrechtes stehen römisch-rechtliche und deutsch-rechtliche Elemente ziemlich gleichwertig nebeneinander. Ein vollständiges Verständnis der Lehren des bürgerlichen Rechtes ist weder ohne die Kenntnis des Sachsenspiegels noch ohne die Kenntnis des Corpus juris zu gewinnen.
Es ist nicht möglich, die rasch populär gewordene, viel Segen stiftende und viel mißbrauchte Vorschrift von der Schadensersatzpflicht dessen, der vorsätzlich in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einen anderen schädigt, zum Verständnis zu bringen, ohne sie mit der römischen actio de dolo zu vergleichen, dem Gebrauch des Wortes „gute Sitten“ in der Vergangenheit nachzugehen und sich klar darüber zu werden, was mit diesem Ausdruck gemeint sein kann. Denn es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß der moderne Gesetzgeber in dem Gebrauch der Sprache sich voller Souveränität erfreute, [Seite: 25] er ist unbewußt gebunden an die Resultate der Entwickelung des Sprachgebrauchs und der Wortbedeutungen. Was Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte bedeuten, eine Formel, die im bürgerlichen Recht von unendlich weittragender Bedeutung ist, darüber kann man sich nur klar werden, wenn man die Entwickelung, die sich in dem Worte von Treu und Glauben vollendet, zurückverfolgt auf die römische bona fides, das bonum et aequum.
Freunde wie Feinde des römischen Rechtes müssen wünschen zu wissen, was im bürgerlichen Rechte romanistisch und was germanistisch ist. Denn auch die Feinde müssen doch zuerst wissen, wogegen sie ihre auf Ausmerzung des römischen Rechtes gerichteten Bestrebungen richten sollen. Freunde der Wahrheit müssen wünschen, sich darüber klar zu werden, ob diese oder jene Vorschrift des bürgerlichen Rechtes eine Erfindung der Neuzeit oder ein Erbstück aus dem Altertum ist. Es ist unwürdig, sich mit der Kenntnis zu begnügen, daß der Verkäufer einer fehlerhaften Sache verpflichtet ist, nach Wahl des Käufers die Sache zurückzunehmen und den Kaufpreis ganz zurückzuzahlen oder aber den Kaufpreis verhältnismäßig zu mindern. Es ziemt sich, zu wissen, daß diese Satzungen des bürgerlichen Rechtes des 20. Jahrhunderts aus dem Jurisdiktionsedikt der Kurulischen Aedilen übernommen ist, und wäre es auch nur, um darüber nachdenken zu lernen, daß das Recht nicht in allen seinen Teilen so wie vielfach in dem modernen Gewerberecht von heute auf morgen dem Wechsel ausgesetzt ist, sondern daß es auch in der Rechtsordnung Errungenschaften gibt, [Seite: 26] die, einmal gefunden, berufen sind, die Jahrhunderte zu überdauern, und von Volk zu Volk, vom Großvater auf den Enkel sich zu vererben, ohne daß der Enkel Grund hat, die Last des Erbteils zu beseufzen. Denn daß jene Grundregeln der Haftung des Verkäufers das prinzipiell Richtige treffen, wird im allgemeinen wenigstens nicht bezweifelt, und sie beseitigen zu wollen, nur weil sie römisch sind, wäre eine Torheit. Ein Recht muß national sein, soweit besondere Eigentümlichkeiten der Nation oder ihres Landes und ihrer äußeren Verhältnisse es gebieten; darüber hinaus ist Einheit, des Rechtes auf Erden das erstrebenswerte, ferne Ziel. Wie die deutsche Rechtseinheit mit der einheitlichen Wechselordnung begann, und über das eminente Verkehrsrecht, das Handelsrecht, und sodann das gleichfalls im besonderen Maße dem Verkehr gewidmete Obligationsrecht hinaus der Einheit des gesamten bürgerlichen Rechtes entgegenging, so ist man jetzt am Werk, ein einiges Weltwechselrecht zu schaffen. Einem einigen Weltverkehrsrecht wird man zustreben; die Keime der Einheit, die der gemeinsame Besitz des römischen Rechtes allen Kulturnationen gebracht hat, werden ihre Kraft dabei nicht versagen.
Müssen wir römisches Recht heute noch kennen, so müssen wir auch die römische Sprache kennen. Es genügt nicht, daß es einzelne Gelehrte gibt, die die römischen Quellen zu lesen verstehen. Ich verweile bei diesem Punkte, weil die Frage prinzipiell für die Sprache der Römer genau [Seite: 27] die gleiche ist, wie für die Griechen, wenn sie auch für die letztere in der neuesten Zeit mehr als für die erstere in den Mittelpunkt des Kampfes gerückt ist27.1. Wenn der Jurist nicht mehr imstande ist, die römischen Quellen selbst zu lesen, so hat das römische Recht einen großen, wenn nicht den größten Teil seines Wertes für ihn verloren. Denn er kann dann zwar den Inhalt des römischen Rechtes in sich aufnehmen, wenn er ihm von treuer Hand in reiner Gestalt dargereicht wird, aber er kann dann nur noch lernen, was man lehrt. Das innerste Grundwesen des deutschen Universitätsunterrichts ist es aber von jeher gewesen, daß der Studierende nicht angehalten werden soll, zu glauben, was seine Lehrer sagen, sondern daß er dazu angeleitet werden soll, in selbständiger Nachprüfung zu überdenken, was er hört und liest, und sich eine eigene, durch Gründe wohl befestigte Überzeugung in den Fragen seiner Wissenschaft zu bilden. Das ist ohne Kenntnis der Quellensprache eine Unmöglichkeit. Freilich gibt es auch in der Wissenschaft Fälle, in denen, wie im Prozeß der Pächter auf Sachverständige angewiesen sein kann, so der Forscher fremder Hilfe bedarf. Unsere Untersuchungen über römisches Recht reichen weit hinaus: über das griechische bis in das babylonische und ägyptische Recht und in die indische Urheimat. Sie verlieren sich andererseits durch Vermittelung etwa des sogenannten syrisch-römischen Rechtsbuchs in das Syrische, Arabische, [Seite: 28] Koptische, Armenische. In alle diese Sprachen ist eine bedeutsame, christlich gefärbte Version des römischen Rechtes, gefertigt in bischöflichen Kanzleien, aus einem verlorenen griechischen Original übersetzt worden28.1. Auch die germanistische Forschung führt zu den orientalischen Sprachen, es gibt einen orientalischen Text eines verlorenen Rechtsbuches der Kreuzfahrerzeit28.2. Die modernen, rechtsvergleichenden Untersuchungen führen auf die Sprachen aller Naturvölker, die wissenschaftliche Forschung überhaupt, die sich nicht mehr der allgemeinen Gelehrtensprache der vergangenen Jahrhunderte bedient, bedarf der Literaturen aller Kulturnationen. Der Jurist braucht französische, englische, italienische Sprache, aber auch das Russische ist neuerdings mit wichtigen literarischen Erscheinungen auf unserem Gebiete vertreten. Vor zwei Jahren schrieb ein Bulgare (Stojanoff) in seiner Sprache ein Buch, in dem er darlegte, daß die Römer mongolischer Abstammung seien. Ich zweifle sehr, ob ich das glauben würde, wenn ich das Buch gelesen hätte, aber ich muß doch lebhaft bedauern, es nicht lesen zu können.
Jeder Ernstdenkende wird sich in einer ganz anderen Stellung fühlen, wenn er imstande ist, einen Text selber zu lesen, als wenn er darauf angewiesen ist, ihn sich [Seite: 29] übersetzen zu lassen. Wer einmal den Versuch macht, mit einem Sprachgelehrten Übersetzungen durchzugehen, und ihm dabei aus eigener Kenntnis des römischen Rechtes Querfragen zu stellen, wird sehr bald einsehen, daß die gedruckten Übersetzungen nach manchen Richtungen zweifelhaft sind, nicht unabhängig von dem Stande der Kenntnis des römischen Rechtes zu der Zeit, zu der sie geschrieben wurden. Es ist natürlich, daß, wenn ein Text durch zwei Köpfe geht, von denen jeder nur die halbe Sache kennt, der eine die Sprache, der andere das Recht, das Ergebnis ein weit weniger gesichertes ist, als wenn sich in einem Kopf beides verbindet. Jeder, der rechtsvergleichende Untersuchungen macht, wird seine eigenen Sprachkenntnisse soweit ausdehnen wollen, als ihm irgend möglich ist, und wird das unbehagliche Gefühl nicht los werden, vor fremder Tür zu stehen und keinen rechten Einlaß in das Haus zu finden, wenn er sich mit einem Rechte beschäftigt, das er nur aus fremden Übersetzungen kennen lernen kann.
Aber gewiß, es läßt sich ein derartiger Zustand bei der Beschränktheit menschlicher Kräfte nicht ganz bannen. Die Frage ist nur, ob er bei denjenigen Sprachen allgemein werden soll, in denen die Hauptquellen unseres Rechtes geschrieben sind. Dies darf mit aller Entschiedenheit verneint werden. Und darum ist vor allen Dingen dem heutigen Juristen, der Niederdeutsch und Mittelhochdeutsch genug kennen muß, um den Sachsenspiegel und den Schwabenspiegel lesen zu können, auch immer noch eine gründliche Kenntnis des Lateinischen unbedingt zu wünschen. Er muß sein Corpus juris zu lesen imstande sein, damit er prüfen kann, ob das wirklich römisches Recht ist, was [Seite: 30] als römisches Recht sich gibt, damit er sich beschäftigen kann mit der reichen Fülle knapp gefaßter praktischer Entscheidungen, die in den justinianischen Digesten niedergelegt sind, daran seine juristische Urteilskraft üben, Vergleichungen ziehen zwischen den Gedankengängen des römischen Klassikers und denen des heutigen Rechts. Übrigens ist auch zum Studium der Quellen des älteren deutschen Rechts das Lateinische wichtig genug. Wer das römische Recht verachten will, wird zugeben müssen, daß ein deutscher Jurist imstande sein muß, sich in die Lex Salica oder die Goldene Bulle hineinzuarbeiten.
Wer von Jugend auf mit der lateinischen Sprache groß geworden ist, in wessen allgemeiner Bildung der Geist der lateinischen Sprache und des römischen Wesens lebendig ist, dem wird es leicht werden, sich in den Quellen des römischen Rechtes heimisch zu machen. Auch er wird sich in sie erst hineinlesen müssen; denn es ist bekannt, daß das Latein der römischen Juristen nicht das des Cicero noch das des Livius ist. Aber über die hier obwaltenden Schwierigkeiten läßt sich durch exegetische Übungen auf der Universität leicht hinweghelfen. Ich weiß auch aus eigener Überzeugung, daß man Primaner, die gute Lateiner sind, leicht zum Verständnis der Sprache der Rechtsquellen führen kann.
Seit der Zulassung von Abiturienten der anderen Schulgattungen zum juristischen Studium sind bekanntlich Kurse des Lateinischen zum Zwecke der Einführung in die Quellen des römischen Rechtes auf den Universitäten eingerichtet. Ich bezweifle keinen Augenblick, daß solche [Seite: 31] Kurse, richtig geleitet, Gutes leisten, und es ist auch neuerdings die Aufgabe dieser Kurse, durch eine, wie mir scheint, vortrefflich angelegte, von einem der besten Kenner des Juristenlateins, von Wilhelm Kalb, verfaßte „Spezialgrammatik zur selbständigen Erlernung der römischen Sprache für lateinlose Jünger des Rechts“ erheblich erleichtert worden31.1.
Ich habe derartige Kurse niemals abgehalten und keine ausgebreitete Kenntnis von den Erfolgen, die sie erzielen. Wenn ich hier und da Gelegenheit gehabt habe, in der Prüfung festzustellen, daß ein Kandidat, der nicht vom humanistischen Gymnasium kam, bei der Übersetzung einer Corpus-juris-Stelle versagte, so erfordert die Gerechtigkeit, hinzuzufügen, daß auch bei Abiturienten des humanistischen Gymnasiums diese Erscheinung vorkommt. In keinem Falle aber könnte ich wünschen, das System solcher Kurse auf der Universität verallgemeinert zu sehen, und darauf würde es doch hinauslaufen, wenn man keine Gymnasialabiturienten als Studierende der Rechte mehr vor sich sähe. Es würde das in den mittelalterlichen Zustand zurückführen, insofern der Universität ein gutes Stück der Aufgabe zugeschoben würde, die jetzt noch das humanistische Gymnasium löst. Es bedeutet einen erheblichen Verlust an Zeit, wenn der angehende Studierende der Rechte die Sprachkenntnisse, die er zum Verständnis der Vorlesungen und zu eigener Nachprüfung des Gehörten und Gelesenen braucht, erst während der Universitätszeit selbst sich aneignen soll. Die Lateinkurse [Seite: 32] erstrecken sich über die ersten beiden Semester, die Vorlesungen über römisches Recht in der bescheidenen Stellung, in der sie heute schon sind, rollen sich in dem ersten Semester ab. Und der Studierende, der erst durch die Lateinkurse auf der Universität das zum Verständnis der römischen Quellen erforderliche Maß von Latein erwerben soll, kommt damit ein gutes Stück zu spät. Wenn er im günstigsten Falle vom dritten Semester an mit seinen lateinischen Kenntnissen auf der Höhe ist, kann er insoweit exegetischen Übungen im römischen Rechte folgen, wird aber regelmäßig wegen mangelhaften Verständnisses dessen, was er in den ersten Semestern hörte, in der Kenntnis der Sache stark zurückgeblieben sein.
Wer römische Rechtsgeschichte oder System des römischen Privatrechts liest, weiß, wie merklich das Verständnis für Latein (um noch gar nicht vom Griechischen zu reden) im Laufe der letzten 10 oder 12 Jahre gesunken ist. Es gibt heute in jeder Vorlesung über römisches Recht einen starken Prozentsatz von Zuhörern, denen man deutlich anmerkt, daß der Klang lateinischer Worte ihr Ohr mit absoluter Fremdheit berührt, und oft genug muß man verzweifelt und unter dem Hohnlächeln oder der Opposition der besser Gerüsteten zur Kreide greifen, um lateinische Worte an die Tafel zu schreiben, die in früheren Jahren ohne allen Anstand durch das Ohr dem Verständnis der Hörer sich erschlossen. Das verursacht Aufenthalt und ist für den Lehrer deprimierend, weil es ihn zwingt, das Niveau der Vorlesung unaufhaltsam zu senken, Worterklärungen einzuschieben, die früher als banal und ganz überflüssig vermieden worden wären [Seite: 33] oder in manchen Fällen auch von vornherein den deutschen Ausdruck dem römischen zu substituieren, womit der Abstand der Vorlesung von den Quellen immer um ein Stück erweitert wird.
Wir wissen heute, daß das römische Recht keineswegs eine originale Schöpfung ist, sondern daß die Römer den Stoff ihres Rechtes im weiten Umfange dem griechischen und vorgriechischen Rechte zu verdanken haben. Aber sie haben es auf eine unerreichte Weise geformt und durchgebildet, und in ihrer Sprache in der Hauptsache liegt der Schatz ihres Rechtes uns vor. Andererseits aber ist auch das Griechische für den Juristen nichts weniger als entbehrlich. Manche Stücke des Corpus juris civilis sind in griechischer Sprache überliefert, so der größte Teil der Justinianischen Novellen, von denen wir allerdings auch lateinische Redaktionen besitzen, die in die Zeit Justinians selbst zurückgehen. Daß darunter eine offizielle, von Justinian für Italien veranstaltete Übersetzung der Novellen sei, glauben wir heute freilich nicht mehr. In der Sammlung der kaiserlichen Erlasse, in dem Codex Justinianus, ist ungefähr der fünfundzwanzigste Teil der Konstitutionen griechisch geschrieben. Auch in dem besten Stück des Corpus juris, in den Justinianischen Pandekten, finden sich nicht wenige Stücke in griechischer Sprache. Die römischen Juristen haben einige Schriften in griechischer Sprache herausgegeben, so besonders Modestinus ein Werk über Vormundschaft, und es finden [Seite: 34] sich auch in den lateinisch geschriebenen Werken in manchen Fällen die Tatbestände der zu entscheidenden Rechtsfälle so, wie sie dem Juristen eingereicht waren, in griechischer Sprache mitgeteilt34.1. Die griechischen Stellen in den Digesten haben die Glossatoren in einer lateinischen Übersetzung benutzt, die wenigstens im großen und ganzen von dem Pisaner Burgundio herrührt. Im übrigen haben sie sich um die griechischen Stellen nicht gekümmert und zum guten Teil nicht kümmern können, weil es längst üblich geworden war, sie in den Handschriften wegzulassen. Der alte Spruch: Graeca sunt; non leguntur, bezieht sich bekanntlich auf die Gewohnheit der Juristen über griechische Stellen keine Erläuterung zu geben. Es war das Verdienst der Humanisten, die griechischen Quellen wieder aufzudecken und ihre Aufnahme in den Bereich der Bearbeitung des römischen Rechtes anzubahnen. Sie haben die griechische Novellensammlung ans Licht gezogen und die verlorenen griechischen Konstitutionen des Codex Justinianus wieder herbeigeschafft, wie sie überhaupt die Jurisprudenz auf die Pflege des Geschichtlichen, auf die Berücksichtigung auch der Quellen des Vorjustinianischen Rechtes hingewiesen haben. Wilhelm Budäus, Andreas Alciatus und der Freiburger Stadtschreiber Ulrich Zasius gelten als die Begründer der humanistischen Richtung der Jurisprudenz, die freilich ihre weitere Entfaltung nicht in Deutschland, sondern in Frankreich und dann in den Niederlanden fand.
Auch diesseits des Justinianischen Rechtes haben [Seite: 35] wir griechische Quellen von bedeutendem Umfang und nicht zu unterschätzendem Wert. Das römische Recht, wie es Justinian im wesentlichen in der Sprache Roms zusammengefaßt hatte, war seinem Lande und Volke schon ein fremdsprachliches Recht. Den Interpretationen der Juristen stand der Autokrat der damaligen Zeit ebenso kurzsichtig feindselig gegenüber wie hernachmals König Friedrich Wilhelm II. bei Erlaß des preußischen Landrechts. Wie dieser auf Meinungen der Rechtslehrer keine Rücksicht genommen wissen wollte, so hat Justinian die Interpretation seiner Rechtsbücher durch die Juristen verboten. Er folgte dem Machtwort Konstantins, daß die Mittlerrolle zwischen geschriebenem Recht und der Gerechtigkeit, die bislang die umbildende Interpretation der Juristen für sich in Anspruch genommen hatte, nur der kaiserlichen Vollgewalt gebühre. Wenn jenes Gesetz das Seine dazu beigetragen hatte, den schweren Verfall der römischen Rechtswissenschaft zu beschleunigen, so stand Justinian vor einer bereits wieder erstarkten Jurisprudenz. Sie hat die Fesseln, in die sie der Kaiser schlug, gebrochen, und es gab in justinianischer und späterer Zeit eine Reihe achtbarer juristischer Arbeiten in griechischer Sprache, Paraphrasen, Kommentare, Monographien, zum Teil freilich in Anlehnung an vorjustinianische Werke geschrieben35.1, von denen uns Bruchstücke erhalten sind, namentlich in den im 10. Jahrhundert geschriebenen Scholien zu den Basilika. [Seite: 36]
Zu den literarischen Erzeugnissen nämlich treten byzantinische Gesetze in reicher Zahl, insbesondere aber gesetzliche Bearbeitungen des römischen Rechts, vor allem die Basilika, eine Bearbeitung des gesamten römischen Rechtes in griechischer Sprache, begonnen unter Basilius Macedo, vollendet und veröffentlicht unter Leo dem Weisen um 900. Die darin verwandten Texte sind großenteils den älteren byzantinischen Übersetzungen des römischen Rechtes entnommen und dadurch für die Kritik und nicht selten auch für die Auslegung des justinianischen Rechtes von großem Wert. Die Übersetzungen beruhen zum Teil auf besseren Handschriften der Originale, als wir heute besitzen, und insoweit sie auf vorjustinianischen Quellen fußen, sind sie wichtig für die Erkenntnis der Interpolationen, die die justinianischen Juristen an den Texten der Klassiker vorgenommen haben. Die letzte Zusammenfassung des römisch-byzantinischen Rechtes ist die Hexabiblos des Konstantinos Harmenopoulos, Richters in Tessalonich ca. 1345. Die Bearbeitung des byzantinischen Rechtes selbst sehen wir als außerhalb der normalen Aufgabe der Jurisprudenz gelegen an. Sie bildet ein Spezialgebiet, auf dem einst Zachariae v. Lingenthal Meister war, und das durch die neueren Bestrebungen von Krumbacher in Zusammenhang mit der Erforschung der byzantinischen Kultur überhaupt zu neuem Leben erweckt ist. Wir handeln in der Ausschließung dieses Gebiets von der allgemeinen juristischen Pflege folgerichtig von dem Standpunkte aus, daß der Jurist die Rechtsgeschichte als Vorgeschichte des eigenen Rechtes zu betreiben hat. Vorgeschichte unseres Rechtes ist das byzantinische Recht nicht mehr, [Seite: 37] denn es war das justinianische Recht, das in Deutschland zur Rezeption gelangt ist.
Justinian, der zur Zeit des Erlasses seiner großen Gesetzbücher nicht im Besitze von Italien war, hat nach dessen Rückeroberung aus der Hand der Gothen seine Gesetze in Italien eingeführt. Diese haben in Italien selbst während des ganzen Mittelalters Geltung besessen, und es ist natürlich, daß auf sie sich die Rezeption des römischen Rechtes gründete. Das byzantinische Recht benutzen wir im allgemeinen nur als Quelle für Rückschlüsse auf das justinianische und frühere Recht.
Neuerdings ist die Bedeutung des Griechischen für die Erforschung des römischen Rechts auf eine bisher ungeahnte Weise gewachsen. Wir hatten schon früher auch außerhalb des Corpus juris diese und jene griechischen Quellen, z. B. griechische Ausfertigungen von Senatus-Consulten. Seit etwa 25 Jahren hat der unermeßliche Strom von Papyrusurkunden sich zu ergießen begonnen, die wesentlich auf ägyptische Rechtszustände sich beziehen. Für das römische Recht kommen sie insoweit in Frage, als sie auf die Rechtszustände Ägyptens unter römischer Herrschaft Bezug haben. Durch diese Urkunden sind uns mancherlei Aufschlüsse, nicht nur über die Provinzialverwaltung Ägyptens durch die Römer, über die eigentümliche Mischung römischen, griechischen, ägyptischen Rechtes in jenem durch alle Jahrtausende merkwürdigen Lande zuteil geworden, sondern auch manches neue Licht über das reine römische Recht verbreitet37.1.[Seite: 38]
Aber die Bedeutung des Griechischen für den Juristen erschöpft sich keineswegs in dem Gebiete der unmittelbaren Quellen des römischen Rechtes. Insofern das römische Recht aus dem griechischen geschöpft hat, ist die Kenntnis der griechischen Bechtsgeschichte Kenntnis der Vorgeschichte des römischen Rechtes. Insofern das römische Recht ein Zweig der römischen Kultur ist, und die römische Kultur die griechische in sich aufgesogen hat, insofern ist die Kenntnis griechischer Zustände und griechischen Geistes dem zu wünschen, der sich mit dem römischen Rechte beschäftigt. Die Beziehungen der römischen Juristen zu dem griechischen Geistesleben sind auch deutlich genug.
[Verse Homers in griechischer Schrift; in lateinischen Buchstaben: "enven ar' oinizonto karykomowntes Axaioi alloi men xalkw, alloi d' aivwni sidyrw, alloi de hrinois, alloi d' autysi boessi, alloi d' andrapodessin" (nach der Digestenstelle)]
Diese Verse Homers stehen im Corpus juris38.1, sie dienen dem Massurius Sabinus zur Beweisführung in der Streitfrage, ob ein Kaufvertrag nur vorliegen kann, wenn ein Preis in Gelde bestimmt wird, oder ob der Tauschhandel unter den Begriff des Kaufes gezogen werden darf. Gewiß kann der Vater Homer über diese Frage der juristischen Begriffsbildung kein klassisches Zeugnis ablegen, aber es ist doch schön, mit jugendlichen Studierenden des Rechtes, wenn die Frage erörtert wird, ob im heutigen [Seite: 39] bürgerlichen Recht zwischen Kauf und Tausch noch ein Unterschied zu finden ist (es gibt noch einen, er liegt auf dem Gebiete des Vorkaufsrechts, das durch den Kauf ausgelöst wird, durch den Tausch nicht), durch die Jahrtausende zurückwandern zu können und von den Zeiten der homerischen Kultur an bis in die Gegenwart die Entwickelung des Tauschverkehrs, das Eintreten eines allgemein beliebten und darum allgemein verwendbaren Tauschmittels zu verfolgen, welches wir das Geld nennen, und daran die skeptische Frage zu knüpfen, ob das Geld wirklich und auch heute noch seine Verwendbarkeit dem Umstande verdankt, daß es in Gestalt eines in letzter Linie auch mit Gebrauchswert ausgerüsteten edlen Metalles vorliegt oder ob nicht vielmehr alles Geld (Metall oder nicht) schließlich nur auf ein staatlich geschütztes Kreditzeichen hinausläuft. Auch Fragen, die die Germanisten auf das lebhafteste beschäftigen, die Frage zumal nach Schuld und Haftung und ihrem Verhältnis zueinander haben übrigens neuestens durch Untersuchung griechischen Rechts und homerischer Kultur Förderung erfahren39.1. Wichtiger natürlich als die Beziehungen der römischen Juristen zu griechischen Dichtern sind ihre Zusammenhänge mit der griechischen Philosophie39.2.
Eine alte Frage von unverminderter Wichtigkeit für die Gegenwart ist die, wer Eigentümer einer Sache wird, wenn jemand aus einem nicht ihm gehörigen Stoff eine neue Sache herstellt. Die beiden Schulen der römischen [Seite: 40] Juristen haben darüber gestritten. Die Sabinianer wollten die neue Sache dem Eigentümer des Stoffes zusprechen. Ihnen war der Stoff die Hauptsache, die Form das Untergeordnete. Die Prokulianer stimmten dafür, das Eigentum der Sache dem Arbeiter zuzusprechen. Die Sabinianer folgten den Ansichten der stoischen Philosophie, die Prokulianer dem Aristoteles, nach dessen Lehre das Bild, das eidos [im Orig. griechische Buchstaben], die Form, dem Stoff, der Materie, der hyle [im Orig. griechische Buchstaben] erst das Wesen gibt.
In der Lehre von dem Einfluß eines Irrtums auf die Gültigkeit eines Vertrages oder sonstigen Rechtsgeschäftes spielt der sogenannte Error in substantia eine große Rolle, der Irrtum z. B. darüber, ob der Inhalt eines bestimmten Fasses Essig oder Wein ist. Die römischen Juristen stehen in dieser Frage, deren Behandlung im bürgerlichen Recht nicht unabhängig von der alten Anschauung ist, unter dem Einfluß der stoischen Lehre von der ousia [im Orig. griechische Buchstaben]. Die römischen Juristen stellten eine auch heute nicht gleichgültige Lehre von drei Arten der Körper auf: der einfache Körper quod uno spiritu continetur, das von einem Hauch Beseelte, das enomenon [im Orig. griechische Buchstaben], die zusammengesetzte Sache, quod ex contingentibus constat, synemmenon [im Orig. griechische Buchstaben], endlich die Gesamtheit, quod ex distantibus constat, soma ek diestoton [im Orig. griechische Buchstaben], eine Lehre, die sie der stoischen Philosophie entlehnt haben.
Vor allem aber ist die allgemeine Lehre von Staat und Recht und von den Staatsformen von der Gedankenwelt der Griechen untrennbar. Man kann sich in diese Materien nicht versenken, ohne überall auf die Gedanken des Plato, des Aristoteles zu stoßen. Wir denken nicht [Seite: 41] daran, zu fordern, daß jeder Jurist Plato und Aristoteles oder die vom Staatsleben so manches merkwürdige bietenden Fragmente des Demokrit41.1 müsse gelesen haben. Aber es ist dringend wünschenswert, daß er etwas davon gelesen hat und imstande ist, den Tiefen und Feinheiten des Denkens jener Großen in selbständigem Verständnis zu folgen, so oft seine Studien ihn darauf führen, sei es in der Literatur, sei es in der Vorlesung. Seine Augen sollen nicht blind sein oder nach der lateinischen Übersetzung schielen müssen, wenn er in Marcians Institutionen41.2 die Definition des Demosthenes vom Rechte findet oder die Summe der stoischen Rechtslehre in den Worten des Chrysippos: [Hier steht das griechische Zitat, das aus technischen Gründen durch einen Link auf den Text in der Ausgabe Stoicorum Veterum Fragmenta III Nr. 314 ersetzt wird.]
Wer auf Übersetzungen verweist, untergräbt die Grundlage alles wissenschaftlichen Studiums, das Bewußtsein, daß es sich ziemt, die Wahrheit an der letzten zugänglichen Quelle zu suchen. An diese gelangt nur, wer die Ursprache selbst versteht. Daß der Jurist nachträglich, d. h. nach absolvierter Schule, auf der Universität noch Griechisch lernt, wozu Einrichtungen getroffen sind, hat alle die Gründe gegen sich, die in bezug auf gleichartige [Seite: 42] Einrichtungen in Sachen der lateinischen Sprache geltend gemacht worden sind. Ein wirkliches Durchdringen der Sprache ist durch solche nebensächliche Kurse, die als eine Last empfunden werden, kaum zu erreichen. Sie werden mehr oder weniger oberflächlich absolviert werden, sie werden dem Studenten auf der Universität die Zeit, die er für andere Dinge braucht, in unerwünschter Weise verkürzen. Darum ist in diesen Kursen nur ein Notbehelf zu sehen; nur als solcher sind sie eingeführt.
Dies, hochverehrte Versammlung, sind die wesentlichen Gründe, die es dringend wünschenswert erscheinen lassen müssen, daß es auch in der Folgezeit noch recht viele Juristen gibt, die vom humanistischen Gymnasium kommen. Um mehr handelt es sich ja bei heutiger Sachlage nicht. Die Zeiten der Alleinherrschaft des humanistischen Gymnasiums wieder herauf führen zu wollen, daran denkt niemand.
Was ich als Jurist zu sagen habe, endet hier. Als Rechtsverständigen wollten Sie mich hören, als solcher habe ich gesprochen. Was vom Standpunkt der allgemeinen Bildung für das humanistische Gymnasium zu sagen wäre, darüber zu reden, hätte ich nicht mehr Beruf als unzweifelhaft sehr zahlreiche Mitglieder dieser Versammlung, den Beruf eines Mannes, der es tief beklagen würde, wenn wir uns von den Grundlagen unserer gesamten Kultur losreißen wollten, der aus seiner Jugend Tagen die dankbarsten Erinnerungen an das Gymnasium bewahrt und der zudem täglich Gelegenheit hat, sich zu überzeugen, wie viele junge Leute ohne Überbürdung und ohne Feindseligkeit gegen die Schule in frischer, fröhlicher [Seite: 43] Arbeitsgemeinschaft mit ihren Lehrern im humanistischen Gymnasium aufwachsen und wie dieses unvermindert die alte Kraft bewährt, den Geist zu stählen und zu schärfen und das zu lehren, worauf es im Leben am allermeisten ankommt: die schwere Kunst des Lernens!