Quelle: Ingrid Baumgärtner, Was muss ein Legist vom Kirchenrecht wissen? Roffredus Beneventanus und seine Libelli de iure canonico. In: Proceedings of the 7th International Congress of Medieval Canon Law. Vatikanstadt 1988, S. 223-245. Die PDF-Datei des Aufsatzes ist hier zu finden. Der Grund für die Transkription und Hypertextualisierung des Aufsatzes ist der Versuch, an einem wichtigen Text über die Verbindung von Legistik und Kanonistik die Möglichkeiten digitaler Verknüpfungen zu erproben.
Leider ist das Referenzwerk, um das es hier geht (Roffredus, Libelli de iure canonico, Avenione 1500 = Ndr. Torino 1968 = Corpus glossatorum juris civilis VI, 333ff.) (noch) nicht digitalisiert.
Daher habe ich eine andere, von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisierte Ausgabe (Roffredus <de Epiphanio>: Sole[m]nis atq[ue] aureus tractatus libellorum Domini Rofredi Beneuentani sup[er] vtraq[ue] censura cu[m] suis fructuosissimis questio[n]ib[us] et eorunde[m] decisio[n]ib[us] exquisitissimis, Argentinae, 1502 [VD16 R 2895] ) als Referenzwerk herangezogen, ohne jedoch die Umrechnung von den Seitenzahlen der Ausgabe 1500 auf diese Ausgabe vorzunehmen. Damit bleibt dem Benutzer / der Benutzerin die Mühe des Blätterns, wenn auch in einem virtuellen Faksimile.
Die Transkription und Hypertextualisierung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin vom 20. April 2018.
Heino Speer, Klagenfurt am Wörthersee, im Mai 2018
Die gegenseitige Durchdringung von ius canonicum und ius civile, der wechselweise Gedankenaustausch zwischen Kanonisten und Legisten sowie deren Notwendigkeit für eine Belebung des mittelalterlichen Rechtslebens waren besonders in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein beliebter Forschungsgegenstand, der immer wieder aufgegriffen und anhand konkreter Beispiele spezifiziert wurde.1 Die mittelalterliche Parömie "Legista sine canonibus parum valet, canonista sine legibus nihil", die bereits von Friedrich Merzbacher eingehend behandelt wurde,2 weist [Seite: 224] darauf hin, dass nicht nur der Kanonist ohne eine Beherrschung der Legistik im Grunde hilflos war, sondern auch der Legist ohne Kenntnisse der canones nur Geringes leisten konnte. Diese Interdependenz zwischen Zivil- und Kirchenrecht ergab sich in keinem anderen Rechtsbereich so frühzeitig und erfolgte vor allem auch nirgends so wirkungskräftig wie im Prozessrecht, obwohl gerade hier eine grundlegende Trennung beider Rechte durch die jeweils institutionalisierte weltliche und kirchliche Gerichtsbarkeit und die damit verbundene Rechtssprechung gegeben war. Die Ordines iudiciarii3 bekunden als literarische Zeugnisse diesen tiefgehenden Austauschprozess.
Einerseits bestanden also zwar durchaus Unabhängigkeitsbestrebungen beider rechtlicher Instanzen, auf die auch die Rechtsentwicklung in der wissenschaftlichen Literatur, in Lehre und Praxis abgestimmt war; andererseits ergab sich aber aus dem Wissen um die verschiedenartigen Schwerpunkte beider Rechte das Bedürfnis nach einer gegenseitigen Rezeption der Inhalte. Anwendung fand nicht nur das ius civile zur Füllung von Lücken in der Rechtsprechung der Kirche, zumindest solange die canones selbst nicht widersprachen, sondern die Rechtsnormen der Kanonistik wurden — wenigstens in Teilbereichen — auch als Entscheidungsgrundlage für die Gerichtsbarkeit des römischen Rechts herangezogen.4 Dies war vor allem dann der Fall, wenn das Zivilrecht Lücken hinsichtlich einzelner Tatbestände und Rechtsgebiete, wie im Ehe- und Zinsrecht, aufwies.5 So musste nicht nur die ältere Kanonistik trotz gewisser Vorbehalte und Einschränkungen, wie des kirchlichen Legistikverbots von Honorius III. (1219),6 die Bedeutung des römischen Rechts für die eigene Rechtsentwicklung als unumgänglich anerkennen, sondern auch [Seite: 225] in der Schule der Glossatoren wurde kanonisches Recht vermittelt, auch wenn dies anfangs durchaus mit Abschätzigkeit und dem Bewusstsein einer eigenen Vorrangstellung erfolgte. Während so die Verweise von der Kanonistik auf die Legistik als ergänzende Quelle relativ häufig waren, dienten umgekehrt die Bestimmungen des Kirchenrechts eher der Bestätigung zivilrechtlicher Anschauungen und Lehrinhalte. Die Herstellung von Rückbezügen erfolgte hier insbesondere aus der Notwendigkeit praktischer Entscheidungen, die im Prozessrecht ihren Niederschlag fanden. Gerade in diesem Rechtsbereich wurden also die kanonistischen Kenntnisse von den Legisten frühzeitig rezipiert. Die Ansätze der Glossatoren in Bezug auf eine — heute oft als oberflächlich abgewertete — Nutzbarmachung kanonistischer Grundlagen dürfen also nicht vernachlässigt werden, auch wenn eine systematische Zusammenschau und der diesbezügliche Ausbau des Zivilrechts erst durch die Kommentatoren (Bartolus, Baldus) vorgenommen wurden.7
Das Interesse der Legisten für die Kanonistik setzte dabei wohl mit dem beginnenden 13. Jahrhundert in verstärktem Maße ein, nachdem für die vorhergehende Zeit diesbezüglich nur verstreute Äusserungen aufzufinden sind. Nachzuweisen sind nunmehr die Versuche einzelner Legisten wie Pascipoverus8 oder Roffredus Beneventanus, die Fortschritte der Kanonistik für sich zugänglich zu machen und durch mehr oder weniger zweckgebundene Schriften für ihre Kollegen aufzubereiten. Für die Frühzeit des intensiven gegenseitigen Austausches beider Rechte müssen neben den Werken, die ausdrücklich einen Vergleich beider Wissenschaften herstellen wollen, auch die Prozeßschriften untersucht werden, die den Einfluss der päpstlichen Dekretalen auf den Zivilprozess unmittelbar widerspiegeln.9 Zu den ersten Schriften, die eine derartige Verbindung expressis verbis beabsichtigen, zählen mit Sicherheit die Libelli de iure canonico von Roffredus Epiphanii Beneventanus, die von diesem Autor als Fortsetzung und Ergänzung seiner vorausgegangenen Libelli [Seite: 226] iuris civilis in den Jahren zwischen 1235 und 1243 niedergeschrieben wurden.10 Aufschlussreich ist an ihnen insbesondere die Verbindung zwischen der Form als Prozessschrift — schon der Titel weist darauf hin — und der Intention des Verfassers, mit diesem Mittel einschlägige Methoden und Inhalte der Kanonistik für die Vertreter der Legistik zu erschliessen.
Die Abfassung dieser Libelli de iure canonico, mit denen Roffredus seiner Auffassung von der Bedeutung der kirchlichen Rechtswissenschaft für die Anwendung des römischen Rechts Ausdruck verlieh, muss dabei als folgerichtiges Ergebnis seiner persönlichen Entwicklung und politischen Betätigung in Italien gesehen werden. Sein Lebensweg, von Giovanni Ferretti zu Anfang dieses Jahrhunderts bereits mit vielen Belegen detailliert aufgezeigt,11 ist gekennzeichnet von drei Hauptphasen, die im wesentlichen von den jeweiligen Aufenthaltsorten und dem damit verbundenen politischen Umfeld bestimmt werden. Der enge Zusammenhang zwischen universitärer Lehre im Bereich des Rechts und politischer Betätigung, der sich zweifellos auch in seinen Werken niederschlug, sticht dabei ins Auge.
(1) Der erste Lebensabschnitt wird geprägt durch Studium und Lehrtätigkeit an der Universität Bologna, die anschliessende Unterrichtung von Studenten in Arezzo (ab 1215)12 und die gleichzeitige aktive Teilnahme am kommunalpolitischen Leben einiger lombardischer und toskanischer Städte als vermittelnder Gesandter.
(2) Danach verlagerte Roffredus seinen Tätigkeitsbereich in die Umgebung Friedrichs II., wobei er offensichtlich nur locker mit dem Hofe selbst verbunden war. Jedenfalls war er Richter in Benevent, seinem vorwiegenden Wohnsitz, und unterrichtete — wenn überhaupt — nur unregelmässig an der neu gegründeten Universität Neapel (ab 1224).13 [Seite: 227] Für Friedrich trat er als Gesandter in diversen politischen Angelegenheiten auf.
(3) Spätestens nachdem Benevent 1229 wieder dem päpstlichen Herrschaftsbereich eingegliedert worden war, richtete er, im Anschluss an einen längeren Aufenthalt in seiner Heimatstadt, sein Betätigungsfeld zunehmend auf Rom und die päpstliche Kurie aus und war dort zunächst vor allem Advokat für eine beneventanische Klientenschaft. Erst ab 1235 weilte der Rechtsgelehrte bis zu seinem Tod bald nach dem Jahre 1243 weitgehend in Rom und unterhielt engere Beziehungen zur päpstlichen Kurie.14.
Die ersten beiden Lebensabschnitte wurden von legistischen Werken, nämlich seinen Quaestiones Sabbatinae — wohl bestimmt für den Universitätsgebrauch in Arezzo — und seinen Libelli iuris civilis, beherrscht. Die letzte Phase in Rom wirkte dann entscheidend auf den Inhalt seiner Libelli de iure canonico ein, die eine Vertrautheit mit den Gepflogenheiten der Kurie immer wieder betonen. Nicht nur in der Einleitung dieses Werks verkündet er in diesem Sinne 'Et ideo dignum duxi inserere quosdam libellos de iure canonico et maxime secundum formam, quae in romana curia frequentatur',15 sondern auch in den einzelnen Kapiteln deutete er an geeigneten Stellen immer wieder auf die Verhältnisse an der Kurie hin, indem er ausführliche Erzählungen und Schilderungen konkret vorgefallener Beispiele in den Text einschob und somit den Gerichtsgebrauch dort illustrierte.16
Zur Zielsetzung seiner Libelli de iure canonico äusserte sich Roffredus im Sinne einer Notwendigkeit der gegenseitigen Rezeption beider Rechte. In den einleitenden Worten wird auf die Tatsache der — seiner Meinung nach — zu geringen und relativ wenig verbreiteten Kenntnisse vom kanonischen Recht unter den Legisten hingewiesen: 'hoc propter [Seite: 228] legistas qui vel parum vel nihil sciunt in iure canonico'17 lautet die klare Begründung für seine nachfolgenden Anstrengungen der Wissensvermittlung. Vielleicht war dies gerade auch die Erfahrung, die sich nach seiner langjährigen Berufstätigkeit als Legist nunmehr aus der ständigen Konfrontation mit der Kurie und der dortigen Rechtsanwendung ergab. Verbunden wird diese Absichtserklärung auch sofort mit einem gewissen Bescheidenheitstopos, in dem auf seine fehlende kanonistische Ausbildung Bezug genommen wird:18
non quia in scientia illa me profitear discipulum vel doctorem. Unde remota invidia hoc opus scolares accipiant; quod magisterio et discretioni docentium in iure canonico corrigendum relinquo et ipsi ex eorum scientia suppleant, quod mihi canonum facundia non ministrat.
Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit soll mit diesen Libelli eine vorläufige Grundlage für Legisten im Umgang mit der Kanonistik geschaffen werden. Die Ergänzungsbedürftigkeit der vorliegenden Schrift wird, mit ähnlichen Worten, nochmals am Schluss des gemäss der ursprünglichen Anlage unvollendeten Werks, das nach der Definition und der Beschreibung der Möglichkeiten einer purgatio abbricht, betont: 'Nec diligenter de purgatione canonica et vulgari sum prosecutus et de aliis que omnia et singula corrigenda doctoribus meis in iure canonico relinquo et ipsi ex eorum scientia suppleant, quod mihi iuris canonici seientia non ministrat'.19
Die Formulierungen des Prologs und des kurzen Epilogs lassen deutlich erkennen, dass die Aufgabe der Libelli de iure canonico darin bestand, die Kanonistik auf einen für den legistischen Benützer notwendigen Umfang und somit auf einige für wesentlich gehaltene Elemente zu reduzieren, diese in das Geflecht der Legistik einzubauen und zugleich die wichtigsten kanonistischen Themenbereiche für eine Handhabung und Anwendung in der prozessrechtlichen Praxis unter einer entsprechenden Aufbereitung zu erschliessen. Die Bedeutung des Traktats liegt folglich nur sekundär in seiner wissenschaftlichen Qualität; seine primäre Funktion leistet er als Beitrag zur Verbreitung des kanonischen Rechts [Seite: 229] unter Legisten, und dies besonders in Hinblick auf den Prozessverlauf. Die praktische Ausrichtung der Schrift ist damit ein entscheidendes Kriterium für ihre Beurteilung.
Bereits der Titel des Werks — libelli, d.h. Gesuche aller Art20 — verdeutlicht diese Ziel- und Schwerpunktsetzung. Doch der angesprochene Rahmen einer einfachen Libellschrift wird, wie übrigens auch in den Libelli iuris civilis, von vornherein nicht eingehalten, und es bietet sich dem Leser eine Mischung aus ordo iudiciarius, Libell- und Aktionsschrift, wobei bekanntlich die Grenzen dieser Literaturgattungen zu den verschiedenen Spezialthemen des Prozessrechts wiederum nicht fest abgesteckt sind, sondern fliessend ineinander übergehen.21 Diese Verbindung von Mustern für Klaglibelle mit Erörterungen zu den Aktionen und noch allgemeineren und weitläufigeren Darstellungen, wie sie von Roffredus geboten wird, folgt nicht der Legalordnung, sondern ist in ihrem Aufbau systematisch begründet.
Angekündigt werden in der Einleitung von Roffredus zwölf Themenbereiche, die allerdings — obwohl ein kurzer Epilog den Text abrundet — keine vollständige Bearbeitung fanden. Nicht mehr ausgeführt wurden, bedingt durch den Tod des Autors,22 die beabsichtigten Teile acht bis zwölf über die Bedingungen für die Ungültigkeit und Ungerechtigkeit einer Exkommunikation, über die Auswahl von Richtern und Schiedsrichtern sowie über verfahrensrechtliche Probleme wie Appellation, Vollstreckung des richterlichen Urteils und Begnadigungsgesuche, — also die letzten Rubriken von De ordine iudiciorum.23 Eine Aufstellung der von Roffredus dargestellten und beabsichtigten Themenbereiche ist zur Verdeutlichung der Konzeption und der Ausführung des Gesamtwerks meiner Studie im Annex beigefügt, wobei in verkürzter Form und im freien Aufgriff wichtige TextsteIlen und Überschriften der Druckfassung für das Schema übernommen wurden. Gleichzeitig erfolgen, soweit sich eine Übereinstimmung in der Wahl der angesprochenen Themen feststellen lässt, Verweise auf die analogen Titel des Liber Extra.
Wie es bereits dieser schematische Überblick zeigt, besteht ein [Seite: 230] grosser Unterschied hinsichtlich der Ausführlichkeit der sieben behandelten Themenbereiche. Relativ strikt auf formale Kriterien ausgerichtet sind — entsprechend der wohl ursprünglich beabsichtigten Anlage — die partes 1 und 2, die durch eine präzise und fallgerechte Aufbereitung des anstehenden Materials anhand von normativen Schriftvorlagen vornehmlich das Werkzeug für den am Gericht tätigen Praktiker liefern. In diesem Sinne ist der Umfang dieser Abschnitte zu Wahl und Postulation sowie zu den Rechten einzelner Gruppen aus der Geistlichkeit relativ gering.24 Aktuelle Bezüge auf konkrete Ereignisse und Daten fliessen jedoch auch hier bereits ein und bestimmen teilweise die Fragestellungen einzelner Punkte.25
Eingehendere Behandlung findet das folgende Kapitel über Verlöbnis und Ehe, wobei jedoch auch hier zu jedem einzelnen Problem ein entsprechender libellus als richtungsweisendes Exempel geboten wird. Breiteren Raum gewinnt die Darstellung der rechtlichen Diskussion um die diversen Tatbestände sowie die Herausarbeitung der unterschiedlichen, übereinstimmenden oder konträren Sichtweisen von Legisten und Kanonisten.26 Anschaulichkeit erlangt die Materie durch kurze Erzählungen, Anekdoten und Erfahrungsberichte aus dem täglichen Leben, wobei sich die Scharfzüngigkeit des Autors besonders bei den Ausführungen zu den impedimenta bemerkbar macht.27 Die genussvoll dargestellte Geschichte eines Laien, der erst nach dem Erhalt einer Tonsur bei seiner Gattin seine ehelichen Pflichten erfüllen kann, wird im Beitrag zum neunten [Seite: 231] Hinderungsgrund 'De frigidis et maleficiatis' erklärt mit 'laici habent capillos in capitis vertice, unde fumositas exalare non potest'28 — eine Anekdote, die die Einstellung des Autors zur Geistlichkeit beleuchtet und zuletzt nur kurz mit dem Kommentar 'rideo sic de facto contingit' bedacht wird. Zugleich werden persönliche Ratschläge und Meinungen in den rechtlichen Zusammenhang eingeflochten: so rät er jedem, beim Abschluss von Verlöbnis und Ehe auch den Willen des Partners zu respektieren und nicht ausschliesslich auf dem ihm zustehenden Recht zu beharren.29 Eingestreut sind zusätzlich Merkverse, die auf einen Unterrichtsgebrauch der Schrift hinweisen könnten. Einen Überblick zu den Ehehindernissen gibt er so leicht spöttelnd mit dem versus: 'Error, conditio, votum, cognatio, crimen. Cultus, disparitas, ius, ordo, ligamen, honestas. Nec socianda vetant, connubia iuncta retractant'.30
Im vierten Abschnitt über die Zehnten dient ein Grossteil des Textes der Erstellung von Definitionen sowie der Beschreibung idealtypischer und realer Zustände, die in der Form von kurzen quaestiones de facto und dissensiones dominorum erörtert werden.31 Eingangs wird die Bedeutung dieses Themenkreises für die Legisten herausgestellt mit 'quia tractatus de decimis et primitiis utilis est et frequenter occurrit et legistis [Seite: 232] pene est incognitus quia in his nihil iure civili cavetur preter (... )',32 um anschliessend noch kurz auf die verschiedenartigen Ansätze beider Rechte hinzuweisen. Bereits bei dem Versuch einer genaueren Bestimmung des Begriffs und der Abgabemodalitäten werden Problemfälle herausgegriffen und anschaulich begründet. Die Schwierigkeiten bei der Besteuerung der Einnahmen einer Dirne werden so mit einer Anekdote illustriert, bei der der Priester den Zehnt in Form von direkten Dienstleistungen eintreibt und dabei nicht nur angenehme Erfahrungen macht. Aus diesem Grund — so meint Roffredus — sind die Kanonisten der Meinung, 'quod meretrix tenetur ad decimam de lucro meretricii, sed sacerdos non debet eam recipere'.33 Weitere, jeweils am Einzelfall orientierte Erörterungen werden mit kanonistischen und legistischen Argumenten untermauert, in denen durchaus die persönliche Meinung des Autors zur Geltung kommt.34 Erst gegen Ende sind verschiedene libelli zur konkreten Einforderung dieser Kirchensteuer auf prozessualem Wege aneinandergereiht.
Ein ähnlicher Aufbau lässt sich für das folgende Kapitel über das Patronatsrecht feststellen. Die Einleitung befasst sich mit der Gegenüberstellung von legistischen und zivilistischen Gesichtspunkten und den unterschiedlichen Definitionen aus beiden Rechten, die eindeutig im Mittelpunkt des Gesamtinteresses stehen. Aus der Kontrastierung der römisch-rechtlichen Auffassung — 'Ius patronatus est potestas iure civili patrono concessa in persona liberti ad obedientiam sibi prestandam propter beneficium manumissionis'35 — mit der kanonistischen Deutung — 'Ius patronatus est potestas providendi ecclesie proveniens ex beneficiis ante consecrationem ecclesie collectis'36 — ergeben sich die Fragenkomplexe, die im folgenden wiederum anhand von Einzelbeispielen aufgegriffen und beantwortet werden. Diverse Merkverse, wie 'Patronum faciunt dos, edificatio, fundus' und 'Patrono debetur honos, onus utilitasque. Presentat, presit, defendit, alatur egenus',37 fassen die für wichtig gehaltenen Punkte zusammen. Nur wenige libelli sind, vornehmlich am Schluss des Kapitels, eingestreut. [Seite: 233]
Eine starke thematische Ausweitung erfährt der angekündigte sechste Abschnitt über Spoliation und andere Artikel, dessen Hauptthema selbst nur kurz abgehandelt wird. Das Interesse des Autors wendet sich dann — im freien Aufgriff verschiedener Titel aus dem dritten Buch des Liber Extra38 — den Pfarrechten mit dem Begräbnisrecht, vermögensrechtlichen Bestimmungen in Form von Präbenden und Steuern, dem Verwaltungsrecht mit Prokuration und Visitation, den standesrechtlich bedingten Immunitäten und Abgaben sowie dem Vermögen und dem Testament von Klerikern zu. Bei den Präbenden, charakterisiert als 'ius percipiendi fructus in aliqua ecclesia, competens alicui tamquam uni de collegio, et est quaedam dignitas preeminens in gradu',39 werden die regionalen Unterschiede, z.B. mit dem Hinweis auf die Sonderregelungen in Benevent und Neapel, hervorgehoben und diverse Missstände in der Klerikerschaft, vor allem das Konkubinat, angeprangert. Die Abgaben werden definiert durch den Satz 'Census est quaedam pensio, quae de proventibus ecclesie solvitur'.40 Ihre Behandlung erfolgt fast ausschliesslich auf der Basis von Quellenstellen aus dem römischen Recht, obwohl eingangs versichert wird, dass dazu wenig oder fast nichts im Zivilrecht enthalten wäre, und der Abschnitt somit, im Sinne des übergreifenden Anliegens, von grösstem Nutzen wäre.41 Bezüglich der Abgabenfreiheit trifft Roffredus, um beide Rechte voneinander abzugrenzen, eine eigenwillige Begriffsklärung, indem er zwischen immunitas im Zivilrecht und emunitas im kanonischen Recht unterscheidet und darauf seine weiteren, ziemlich kurz und theoretisch gehaltenen Ausführungen aufbaut.42
Die Übertrittsfrage, zuerst speziell abgestimmt auf die Regularkanoniker und dann eigens beantwortet für die Religiosen allgemein, wird mit einer für die Zeit aussergewöhnlichen Komplexität präzise und direkt anhand der einschlägigen Rechtssätze durchdiskutiert;43 libelli werden nur [Seite: 234] in sehr geringer Anzahl eingefügt. Der Eintritt von Verheirateten ins Kloster und die Möglichkeit, den Betroffenen von diesem Schritt abzuhalten, werden bevorzugt anhand einzelner quaestiones erörtert. Ausführungen zu weiteren, eher innerkirchlichen Problemen schliessen sich an, wobei offensichtlich diverse Titel des Liber Extra relativ unabhängig von ihrer ursprünglichen Reihenfolge aufgegriffen und dem speziellen Bedürfnis des Gesamtwerks untergeordnet werden. Die Gelübde werden zusammen mit den Anlässen für ihre Zurücknahme in einer knappen Zusammenschau der traditionellen Argumentation erläutert. Die Unterschiede zwischen Mönchen und Kanonikern bezüglich ihres Status werden in genauer Abgrenzung der einzelnen Rechte beider Gruppen detailliert dargestellt. Eine ähnlich aufgebaute und differenzierte Synopse verstreuter Materien wird auch bei den folgenden Themen dieses Abschnitts geboten, wobei die kanonistische Prägung jeweils durch die starke Einbindung legistischer Quellen relativiert wird. Insgesamt steht der kanonistisehe Stoff und seine Aufbereitung für den Legisten im Vordergrund; die libelli, auf deren Erstellung die vorausgehenden fünf Abschnitte ausgerichtet waren, sind nur noch an sehr wenigen Stellen eingestreut. Bezüge zu aktuellen Vorgängen der Zeit zeigen sich vereinzelt, wie z.B. im Hinweis auf die Papstwahlen der Jahre 1241 (Cölestin IV.) und 1243 (Innozenz IV.) im letzten Titel 'Ne sede vacante'.44 Der Anekdotenreichtum anderer Abschnitte ist jedoch zugunsten einer straffen Argumentationsführung zurückgedrängt.
Zu einem eigenen, sozusagen kriminalistischen Hauptteil45 ausgedehnt wird der letzte, der siebte Abschnitt über die drei Arten des Kriminalverfahrens, Akkusation, Inquisition und Denunziation, gleichsam als Gegenpol zu den anderen bürgerlichen Einzelklagen, — und gedacht wohl als Fortsetzung der Libelli iuris civilis nunmehr in Hinblick auf kanonistische Fragestellungen. Von der Möglichkeit, eine Anklage vorzubringen, werden insbesondere Frauen, Minderjährige, Soldaten, Vorsitzende, Richter und Ehrlose ausgeschlossen.46 Nach der Aufzählung zusätzlicher Gründe für die Zurückweisung einer Anklage und der Aufführung anderer Einschränkungen und Modifizierungen hinsichtlich des Akkusationsprozesses wird die vorgeschriebene Art der Anklageerhebung im strafrechtlichen Verfahren erläutert. Abgestimmt auf die jeweiligen Verbrechen — sie sind einzeln in der Zusammenstellung des Anhangs [Seite: 235] unter Punkt 7a aufgelistet - werden dann ausführlich die entsprechenden und verschiedenartigen libelli vorgestellt. Besondere Berücksichtigung finden dabei Beispiele aus dem Königreich Neapel gemäss den aktuellen Bestimmungen von Friedrich II. und Vorlagen aus der Kurie.47 Die Folgehandlung im Prozessverlauf, nämlich die Vorladung des Beklagten vor den Richter, wird vor allem hinsichtlich eines möglichen Ungehorsams gegenüber dem Richter, d.h. unter dem Aspekt einer Pflichtversäumnis von Kläger und Beklagtem, beleuchtet. Ein eigener Absatz geht in diesem Zusammenhang auf die Sonderregelungen der Gesetzgebung des Königreichs beider Sizilien ein.48 Die weitreichenden Freiheiten des Inquisitionsprozesses im Vergleich zum Akkusationsprozess, die im verstärkten Masse gerade in dieser Zeit der Einrichtung einer weltlichen Inquisition durch Friedrich II. aktuell sind, werden in allen Feinheiten erörtert.49 Die Schilderung des Denuntiationsverfahrens erfolgt analog dazu mit einer Argumentation, bei der alle möglichen Einwände, die sich aus scheinbar widersprechenden leges ergeben, als oppositiones zum Leitgedanken bedacht werden. Zuletzt werden die verschiedenen Arten der purgatio vom Reinigungseid (purgatio canonica) bis hin zum bereits verbotenen Gottesurteil in Form der Probe mit glühendem Eisen und kaltem Wasser und dem gerichtlichen Zweikampf dargestellt.50 Dies bietet dem Autor die Gelegenheit, auf die Diskrepanz zwischen dem kanonistischen Zweikampfverbot in der Theorie und der häufigen Durchführung dieser Methode in der Praxis sowie auf die Unterschiede zwischen zeitgenössischen und älteren Bestimmungen hinzuweisen.51
Bereits diese kurze und notgedrungen sehr allgemein gehaltene Skizzierung des Aufbaus des Werks zeigt die eindeutige und unverkennbare Veränderung in der Schwerpunktsetzung und der Vorgehensweise. Während die Teile eins bis fünf thematisch relativ eng im Rahmen der [Seite: 236] eingangs geäusserten Vorstellungen bleiben, ist die Durchführung des ursprünglichen Plans in den beiden letzten Teilen nicht mehr eingehalten. Im Aufgriff der sehr divergierenden Themen einerseits und andererseits wegen der Stringenz bei der Abhandlung der entscheidenden juristischen Erörterungen weicht der sechste Teil, der im besonderen Masse von den Titeln des Liber Extra geprägt ist, ab von der Anlage der vorausgehenden Abschnitte, die einen grösseren Anteil von libelli aufweisen. Eine vollkommen neue Systematik im Anklang an die ordo-Literatur gewinnt dann jedoch der letzte und siebte Teil, der — und auch das ist auffällig — teilweise fast ausschliesslich und ansonsten zumindest überwiegend mit legistischen Quellenstellen belegt wird. In diesen Teil zum Kriminalverfahren fliessen zudem nur sehr wenige Titel aus dem Liber Extra in den Aufbau ein.
Insgesamt ist der Text selbst weitgehend losgelöst von der Reihenfolge der Rubriken und Titel der Dekretalen Gregors IX. und ihrer Wortwahl. So werden — wie es die Übersicht im Annex verdeutlicht — nur sehr selten mehrere aufeinander folgende Titel rezipiert, und auch sie werden gemäss dem eigenen Stil weiterverarbeitet. Im Gegensatz zu den Libelli de iure civili des Roffredus, die hinsichtlich Prozesstheorie und Klaglibelle eindeutig nach verschiedenen Vorbildern, wie vor allem der Summa libellorum des Bernardus Dorna, des Arbor actionum des Johannes und den Brocarda des Pillius, hergestellt wurden.52 können für die Libelli de iure canonico, die gewissermassen die zivilrechtlichen Libelli ergänzen sollten, keine direkten Vorlagen genannt werden.
Der innere Aufbau der einzelnen Gliederungspunkte ist nicht ganz einheitlich und steht in enger Abhängigkeit zu den jeweils angesprochenen Themenbereichen. Trotzdem lässt sich — zumindest grobmaschig — ein formales Anordnungsprinzip herauskristallisieren: Fast durchgängig folgt auf die einleitende Begriffsdefinition, die häufig mit Erläuterungen zum unterschiedlichen Ansatz von Kanonistik und Legistik verbunden ist, eine Aufstellung der Fragen, deren Beantwortung dem Autor im jeweiligen Zusammenhang aufschlussreich erscheint. Anschliessend werden die allgemeinen Fragen anhand von Einzelfällen konkretisiert und individuell gelöst. Die libelli werden im Anschluss daran oder erst gegen Ende des gesamten Abschnitts eingefügt. [Seite: 237]
Der formale Schwerpunkt des Werks liegt dabei nur anfangs auf den Gesuchen, den libelli. Die Darstellung der juristischen Argumentation nimmt dann zunehmend einen breiteren Raum ein und dominiert gegen Ende vollkommen. Ihr äusseres Formungsprinzip sind die dissensiones, zusammengesetzt aus quaestiones de facto und der zusätzlichen Möglichkeit ihrer theoretischen Erörterung in oppositiones, in denen nicht nur die legistischen und kanonistischen Quellen, sondern auch die wichtigsten Lehrmeinungen der Legisten und Kanonisten abwägend einander gegenüber gestellt werden können. An Quellen zitiert Roffredus selbstverständlich die aktuellen Grundlagen: aus dem kanonistischen Bereich das Dekret und die Dekretalen Gregors IX., aus dem legistischen Bereich vornehmlich den Codex und die Digesten. Bei ihrer Verwendung macht sich jedoch die legistische Ausbildung des Autors bemerkbar. Der anfängliche Versuch, beide Rechte gleichmässig und unter gegenseitiger Ergänzung anzuwenden, weicht insbesondere im siebten Teil der einseitigen Begründung aus dem römischen Recht, während die Zitierung von Kanonisten nahezu auf eine Alibifunktion herabsinkt.53
Überhaupt werden von Roffredus Schriftsteller nicht allzu häufig herangezogen. Verwiesen wird auf Azo (gest. um 1230), seinen legistischen Lehrer in Bologna, und dessen Lehrer Johannes Bassianus (gest. 1197), den wohl ersten 'doctor utriusque iuris'.54 Ein besonderes Gewicht der Argumentation entfällt auf den Kanonisten Tancred (gest. um 1236), der bekanntlich mit seinem Ordo iudiciarius (1214/16) einen Höhepunkt des kanonistisch-legistischen Zivilprozesses schuf.55 Auch dessen Schüler Laurentius Hispanus (gest. nach 1248), dessen Apparat zum Dekret auch in der Glossa ordinaria zu den Gregorianischen Dekretalen ständig wiederkehrt, und Vincentius Hispanus, ein weiterer Spanier (gest. nach 1234), dessen Apparat zum Liber Extra allgemein viel zitiert wird, kommen immer wieder zu Wort.56 Selten erwähnt werden die Rechtslehrer [Seite: 238] Alanus Anglicus und Johannes Teutonicus (gest. 1245/46).57 Die Argumentation selbst lebt aber vor allem von der Polarisierung der häufig sehr pauschal angeführten 'doctores iuris canonici' und dem ius civile, bei der die verschiedenen Lehrmeinungen von Legisten und Kanonisten erst im Laufe der weiteren Textführung detailliert einander gegenübergestellt und diskutiert werden. Auch bei den Quellen erfolgen vor genaueren Spezifizierungen oft Pauschalverweise auf das ius canonicum und das ius civile. Generell gilt die besondere Aufmerksamkeit des Autors den grundsätzlichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Anschauungen beider Rechte, auf die im allgemeinen gleich zu Beginn jedes neuen thematischen Abschnitts ausführlich hingewiesen wird. Nicht nur beim Patronatsrecht und den Zehnten versucht er in diesem Sinne, einleitend genaue Begriffsbestimmungen, getrennt nach römischem Recht und Kanonistik, anzugeben und Übereinstimmungen und Differenzen zu ermitteln. Besonders herausgearbeitet werden diese Divergenzen u.a. bei der Behandlung der Ehehindernisse, wobei auch zusätzliche Hindernisse des Zivilrechts gegenüber dem Kirchenrecht, wie das Verbot der Eheschliessung zwischen Vormund und Mündel,58 unterstrichen werden.
Eine besonders charakteristische Argumentationsweise des Autors ergibt sich aus anderen Passagen der Schrift. Als Beispiel herangezogen seien die Zehnten, bei denen er mit 'quia de hoc parum vel fere nihil tractatur in iure civili'59 das Interesse auf die Kanonistik lenkt, und dann, nach einer kurzen Definition gemäss einiger 'doctores iuris canonici', im Gegensatz dazu fast ausschliesslich auf die legistische Begründung des Phänomens eingeht. Auch bei den Präbenden äussert er sich zuerst bescheiden mit 'nihil habetur in iure civili',60 um dann doch ausführlich auf die Fundamente im römischen Recht einzugehen. Besonders auffallend ist diese Vorgehensweise im letzten Teil des Werks, bei dem er die Dominanz der Legistik von vornherein als beabsichtigte Tatsache herausstellt. Gemäss seinen Fähigkeiten und geistigen Qualitäten möchte er, wie er sagt, die Darstellung der Kriminalverfahren durchführen und — gleichsam als Beigabe — einiges aus dem kanonischen Recht zur Kenntnisnahme [Seite: 239] der Legisten einstreuen.61 Das Ergebnis entspricht hier auch seiner legistischen Ausbildung. Während er in den ersten Teilen noch versucht hatte, kanonistische und legistische Belege fast gleichwertig anzuführen und in Entsprechung zum Thema zu verwenden, behandelt er nun die Inquisition ziemlich einseitig von einem legistischen Standpunkt. Entgegen seiner anfänglichen Behauptung, die Verankerung der Inquisition liege allein in der Kanonistik, bringt er ausführlichst legistische Quellen zur Untermauerung dieser ursprünglich kanonistischen Thematik.
Aus der Art der Argumentation und der angesprochenen Themenbereiche muss nun zwangsläufig das Fazit gezogen werden, dass die Kenntnisse eines Legisten über die Kanonistik hauptsächlich auf die Grenzgebiete zwischen beiden Rechten ausgerichtet sein sollen. Von den Legisten müssen zudem vor allem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Rechte beherrscht werden, wobei die wichtigsten Quellenstellen des ius canonicum und deren Auslegung durch die Kanonisten die Ergänzung zum legistischen Grundwissen bilden. Die Schrift selbst stellt dabei gewissermassen den Versuch dar, den Legisten verschiedene kanonistische Themenbereiche auf dem Fundament einer vorwiegend legistischen Argumentationsführung nahezubringen. Besondere Anerkennung findet die Kanonistik nur in einzelnen Passagen, wie selbstverständlich im Eherecht.
Doch nicht nur das Wissen von der kanonistischen Theorie im Vergleich zur Legistik soll vermittelt werden, sondern auch der Bezug zur Praxis. Beides zusammen verleiht dem Werk den Charakter eines Handbuchs, das sowohl für Kanonisten als auch Legisten interessant ist. Zudem wird mit vielen durchaus eigenständigen Passagen versucht, über das Standardwissen hinauszugehen. So liegt der Wert der Ausführungen einerseits oft in der Komplexität und Anschaulichkeit einer in dieser Richtung neuen Zusammenschau. Andererseits erstaunt aber auch die Reichhaltigkeit der Belehrungen für den praktischen Gebrauch, durch die das Werk durchaus zu einer 'Fundgrube rechtsgeschichtlicher Notizen'62 gemacht wird.
Zum Vorschein kommt dieser Ansatz deutlich bei der Darstellung der purgatio, bei der die verschiedenen Arten von Gottesurteilen und die nunmehr beschränkten Möglichkeiten ihrer Anwendung erörtert werden. Nach Aussagen von Roffredus war zu seiner Zeit der gerichtliche [Seite: 240] Zweikampf, trotz des kanonistischen Verbots, in Deutschland, Frankreich und England noch erlaubt und wurde unter Laien sogar wegen Nichtigkeiten ausgetragen. Im Königreich Sizilien hingegen, in dem er nach langobardischem Recht für zwölf Fälle vorgesehen war, wurde nunmehr durch die Konstitutionen von Friedrich II. seine Durchführung auf zwei Fälle reduziert. Die Probe des glühenden Eisens und des kalten Wassers, deren Ablauf er genau beschreibt, sah er angeblich noch mit eigenen Augen, auch wenn sie vom kanonischen Recht immer missbilligt (C.2 q.5 und X 5.34.8) und zwischenzeitlich durch die Konstitutionen Friedrichs II. auch untersagt wurde.63
Die Herstellung derartiger Relationen zu den Gesetzen und Gebräuchen einzelner Gebiete, den 'consuetudines locorum', beleben das Werk an vielen Stellen und verleihen ihm eine persönliche Note im konkreten Bezug zur Wirklichkeit.64 Erfahrungsberichte des Autors fliessen ein; Empfehlungen und Ratschläge werden dem Benützer für sein Verhalten in bestimmten rechtlichen Situationen erteilt. Mit verschiedenen amüsanten Geschichten werden z.B. die Heilungsmöglichkeiten bei Frigidität und Impotenz geschildert, wobei freilich der etwas überzogene Stil und der ironische Unterton nicht übersehen werden dürfen.65 Missstände im klerikalen Bereich werden immer wieder angeprangert. So beschreibt Roffredus unter der Fragestellung, wem Präbenden zu geben seien, voller Entrüstung die angeblich unbeschränkten Übeltaten der Kleriker: die Masslosen hielten öffentlich Konkubinen und verzichteten nicht einmal auf die Unterredungen mit ihnen, die sie zudem sogar öffentlich in ihren Kirchen führen würden, so dass die Annahme naheläge, an einem so heiligen Ort würde Unehrenhaftes besprochen.66
Eingehende Berücksichtigung findet — wie oben bereits angedeutet — das Gesetzgebungswerk Friedrichs II., dessen neuartige Bestimmungen des öfteren erörtert werden. Ein direkter Bezug ergibt sich auch zu einzelnen Vorgängen und Ereignissen an der Kurie, die auch den stark legistisch geprägten siebten Teil untermauern. Die Anredeformen in den libelli und die Art der angeführten Beispiele verweisen dabei auf die Herkunft aus dem kurialen Gebrauch. In formaler und thematischer Hinsicht lassen sich somit die Libelli de iure canonico mit den päpstlichen Formelbüchern vergleichen.67 [Seite: 241]
Die Bedeutung der Libelli de iure canonico von Roffredus Beneventanus liegt also — dies kann zusammenfassend festgestellt werden — in der prozessorientierten Darstellung der Widersprüche und Übereinstimungen von Legistik und Kanonistik. Die Vorführung des Stoffes erfolgt eindeutig unter der Fragestellung 'Was muss ein Legist von der Kanonistik wissen?'. Die Notwendigkeit, das Wissen in die Praxis umsetzen zu müssen, dient als ein leitender Gesichtspunkt. Sicherlich liegt das Hauptgewicht der Schrift, schon bedingt durch die Ausbildung des Autors, im römischen Recht. Doch darf daraus keine grundsätzliche Dominanz der Legistik abgeleitet werden. Gerade die Auswahl kanonistischer Themengebiete in freier Assoziation zu der aktuellen Kirchenrechtssammlung, dem Liber Extra, zeigt deren Relevanz für den Legisten, dem ohne Zweifel eine durch die Interessen Roffredus sehr persönlich gefärbte Grundlage zur eigenen Urteilsbildung erstellt werden sollte. Denn zur Pflicht des Legisten gehört es nach Roffredus, zumindest die wichtigsten Themenbereiche der Kanonistik, die Abgrenzungen und Überschneidungen beider Rechte sowie die entscheidenden Quellenstellen und Diskussionen der kirchlichen Rechtswissenschaft zu kennen, da die Erfordernisse der Praxis ihre Anwendung verlangen. Die Eingängigkeit wichtiger Informationen wird dabei durch den Einbau von Merkversen gefördert.68
Der grosse Umfang der Rezeption der Libelli de iure canonico beweist auch die Notwendigkeit eines derartigen Unterfangens. So ist die Schrift nicht nur in ausserordentlich vielen Handschriften und einigen älteren Drucken überliefert.69 sondern es griffen zudem mehrere Juristen, vornehmlich des 13. Jahrhunderts, auf sie zurück. Für das Speculum iudiciale [Seite: 242] von Guilelmus Duranti (gest. 1296) waren neben den Werken der Prozessualisten Gratia, Aegidius de Fuscarariis, Albertus Baleottus und Tancred die Libelli von Roffredus eine Grundlage, obwohl die Übernahmen zumeist nicht gekennzeichnet sind.70 Dankbar verweist Gratia, ein Zeitgenosse von Roffredus, auf die Libelli de iure canonico, um in seinem Werk De ordine iudiciorum die bereits so ausgezeichnet behandelte Materie nicht nochmals behandeln zu müssen.71
Zu fragen wäre nun, inwieweit Roffredus als symptomatische Erscheinung seiner Zeit zu gelten hat. Eine eingehendere Behandlung der Schrift anhand der Einzelthemen und ihrer Einordnung in das Geflecht der Rechtsanschauungen sowie eine stärker auf das Detail ausgerichtete Untersuchung unter einer monographischen Fragestellung hätten diesen weiterführenden Aspekt noch zu klären.72
Universität Augsburg
[Titel bei Roffredus] | Analoge Titel im Liber Extra |
1. De electionibus et postulationibus (forma electionis, libelli, de litteris, forma decreti electionis, differentia inter electionem et postulationem) | X 1.6 et 5 |
2. De iuribus episcopalibus metropoliticis et archidiaconalibus (iura praelatorum et primatum, forma libellorum super iuribus episcoporum et archidiaconi) | |
3. Super sponsalibus et matrimoniis | |
a. De sponsalibus et matrimoniis (ultra septem annos, dissolutio propter lepram, libelli diversi) | X 4.1 |
b. De sponsa duorum (libelli diversi) | X 4.4 |
c. De conditione apposita in matrimoniis vel sponsalibus (impedimentum erroris, voti, quarti gradus, consanguinitatis, coniugicidii, infidelitatis, adulterii, disparitatis cultu, violentiae, sacri ordinis, frigiditatis et maleficii, propter publicam honestatem, cognationis spiritualis, interdicti ecclesiae, feriarum, cognationis legalis s. adoptionis, iuris civilis non canonici) | X 4.5 X 4.14 X 4.15 X 4.16 |
4. Super decimis et primitiis (Quid sit decima, qualiter dividantur, quibus et a quibus et de quibus sunt dandae, qualiter sunt dandae, qua actione petantur) | X 3.30 |
5. Super iuribus patronatus (Quid sit ius patronatus, ex quibus causis provenit, officia et utilitas, translatio, praesentatio, differentiae inter patronum laicum et patronum clericum) | X 3.38 |
6. Super iuribus quando quis se dicit expoliatum et super aliis diversis articulis (Qualiter, quis, quando) | |
a. De parochiis et alienis parochianis (cura animarum, iura parochialia, limites parochiae, transitus parochiani ad aliam ecclesiam) | X 3.29 |
b. De sepulturis et de iure funerandi (Quis, ubi) | X 3.28 |
c. De praebendis (Quid sit praebenda, a quo, quando, quibus, infra quod tempus, qualiter, plures praebendae) | X 3.5 |
d. De censibus, procurationibus et exactionibus Census (Quid sit c., quis imponat, quo tempore, possibilitates mutationis) | X 3.39 |
Procuratio (Visitatio) | X 1.38 |
Immunitas ecclesiarum (angaria et perangaria, diversa munera, emunitates) | X 3.49 |
e. De peculio clericorum et testamentis eorundem | X 3.25 et 26 |
f. De regularibus et transeuntibus ad religionem | X 3.31 |
g. De conversione coniugatorum (revocatio mariti ab uxore) | X 3.32 |
h. De voto et voti redemtione (species voti, quae personae, redemtio, commutatio et recessus) | X 3.34 |
i. De statu monachorum et canonicorum regula (iura in iure canonico, qualiter aliqui fiant monachi, officia, dispensatio, abstinentia, de monachis et canonicis regularibus, electio abbatis) | X 3.35 |
k. De religiosis domibus (conversio in usum saecularem) | X 3.36 |
l. De capellis monachorum et aliorum religiosorum | X 3.37 |
m. De rebus ecclesiae alienandis ve1 non | X 3.13 |
n. De his quae fiunt a praelatio sine consensu capituli | X 3.10 |
o. De his quae sunt a maiori parte capituli | X 3.11 |
p. Ut ecclesiastica beneficia sine diminutione conferantur | X 3.12 |
q. Ne sede vacante aliquid innovetur | X 3.9 |
7. Super accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus | X 5.1 |
a. De accusationibus (De his qui non possunt accusare ratione sexus, ratione aetatis, ratione sacramenti, ratione magistratus, propter delictum proprium; repulsa propter turpem quaestum, sociorum et participium criminum, propter paupertatem, propter conditionem et revercntiam personarum, propter ipsorum defectum, laicorum ab accusatione clericorum, inimicorum et infamium; in quibus casis praedicti accusare possunt; personae quae possunt accusari et quae non; Quid sit a., qualiter sit facienda; forma libelli accusatorii super quibusdam criminibus; crimen laesae maiestatis, crimen hereseos, crimen simoniae, crimen adulterii, crimen homicidii, crimen falsae monetae; super publicis et extraordinariis iudicis (lex Iulia), de plagiariis (lex Flavia), in privatis delictis, in actione iniuriam; qualiter precedatur ante accusationem et post) | X 5.7 X 5.3 et 16 X 5.12 et 20 |
b. De citatione (Qualiter puniatur contumacia accusatoris, contumacia rei in accusatione ante et post litem contest., qualiter sit procedendum, qualiter secundum constitutionem regni, qualiter sit puniendus accusator vel accusatus si fuerit contumax, de poena statuta contra accusatorem et accusatum) | |
c. De inquisitionibus (Qualiter fiat inquisitio, quis, quando, contra quem, quot sint necessaria ad hoc, qualiter sit procedendum, qualiter puniatur qui inquisitionem convincitur) | |
d. De denunciatione (Quid sit denunciatio, quae sint necessaria ad hoc, qui admittantur ad denunciandum, qualiter procedatur ad denunciationem, effectum, qualiter facienda est inquisitio super criminibus, super quibus fama praecessit) | |
e. De purgatione canonica | X 5.34 |
(quid sit purgatio, de alia purgatione (vulgari), de tertia purgatione, de quarta purgatione, quis debeat se purgare, quando, qualiter, cum quo, de forma sacramenti se purgandi, de effectu purgationis) | X 5.35 |
Beabsichtigt - nicht mehr ausgeführt: | |
8. Super excommunicationibus, quando dicantur nullae vel iniustae | |
9. Super iudicibus et arbitris eligendis | |
10. Super appellationibus | |
11. Super executione rei iudicatae | |
12. Super gratia petenda, que non in figura iudicii petenti conceditur |