Quelle: Johannes Bartmann, Das Gerichtsverfahren vor und nach der Münsterischen Landgerichtsordnung von 1571 und die Aufnahme des römischen Rechts im Stifte Münster (Heidelberg 1908, Carl Winter's Universitätsbuchhandlung) = Deutschrechtliche Beiträge. Forschungen und Quellen zur Geschichte des Deutschen Rechts. Herausgegeben von Dr. Konrad Beyerle, ord. Professor an der Universität Göttingen, Band II, Heft 3.
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Heino Speer 2010 / 2020.
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Am 26. Oktober 1566 wurde Johann von Hoya zum Bischof von Münster gewählt.1.1 Nach seiner ganzen Vergangenheit erschien er sehr tauglich zur Verbesserung des stiftischen Gerichtswesens, über welches hie und da Klagen laut geworden waren. Johann hatte in Paris und Orleans studiert, er genoß den Ruf eines tüchtigen Juristen, und er war auch gräflicher Beisitzer und Präsident am Reichskammergericht gewesen. Die Stände ließen nicht lange auf ihre Wünsche warten.
Schon der Landtagsabschied vom 14. Mai 15671.2 teilt mit, daß "letztlich durch gemeine stende auch angeregt worden, die mengell in der justizien zur richtigkeit pringen zu lassen". Ein Memorial der Hofräte über die den Landräten, den ständischen Beratern des Bischofs, am 1. Juli 1567 zu machenden Vorschläge nimmt diese Frage wieder auf. Es heißt darin, die Reform sei zwar noch keine "hochnotwendigkeit", aber gleichwohl habe Ihre fürstlichen Gnaden durch Dr. Rey schon "etwas verfassen lassen". Dieses "etwas" wird wohl die in W. Ldr. I1.3 abgedruckte [Seite 300 [Seite: 300]] "kurtze anzeich der misbruiche" sein. Weiter heißt es, vor allem solle eine "Inquisition bei allen hoch- und niedergerichten bestendiglich durch etliche erfarene Rethe sopalt immer müglich, fürgenommen werden". Ferner: "Dweill in den gerichten nit allein nach gemeinen beschriebenen rechten, sonder auch nach alten guten gewohnheit pfleget geurthelt zu werden, und dann hiebevor vill reden von dieser lanthgepreuchen fürgefallen, aber dannoch nit eigentlich angezeigt werden mogen, ob dieselben also jeder zeit gehalten oder danach geurtheilt worden, zudem unbewußt, ob solliche gepreuch der pillichkeit gemeß", so sollen auch diese aufgezeichnet werden.
Die Hof- und Landräte beschlossen alsdann in gemeinsamer Sitzung, es solle eine Kommission zusammen mit erfahrenen Leuten aus den Ständen die Mängel besprechen und ihre Bedenken äußern. Alsdann werde der Bischof hierauf bezügliche Interrogatoria an die Amtleute schicken. Diesem Beschlusse trat der Landtag in seinem Abschiede vom 9. Januar 1568 bei.
Die Erhebungen durch die Amtleute geschahen indes nicht sogleich, vielmehr wurde zunächst am 27. April 1569 die Reform, "wie sie I. f. Gn. auffs Papier hatte pringen lassen" den Ständen vorgelegt und ein Ausschuß aus den Ständen gewählt, welcher "mit und neben I. f. Gn. Rethen dasjenige, so ufs Papier gepracht, in allen seinen stücken examiniren und disputieren solle". Vorgelegt wurden die neue Fassung des Privilegium patriae und Entwürfe für eine Offizialat-, eine Hof- und eine Landgerichtsordnung.1.4 Von einer Aufzeichnung des Gewohnheitsrechtes sehen und hören wir nichts mehr.
Die wieder vorgelegten Entwürfe wurden durch den Landtagsabschied vom 8. August 1569 nochmals einer Kommission überwiesen. [Seite 301 [Seite: 301]] Im April 1570 wurde endlich die "Reformation des geistlichen Offizialat-, auch Hof- und Landgerichts- und andere gemeine Ordnungen" von dem Landtage angenommen.
Erst am 26. Februar 1571 erließ der Bischof das im Januar 1568 beschlossene Schreiben an die Amtleute. Darin werden Auskünfte verlangt über die Gerichtspersonen, Ort und Zeit der Gerichtsverhandlungen u.s.f., auf Grund deren die durch die Landgerichtsordnung (abgek. LGO.) eingeführten Neuerungen in die Tat umgesetzt werden sollten.1.5
Durch mancherlei Streitigkeiten zwischen Bischof und Ständen wurde die Publikation der Ordnungen bis zum 31. Oktober 1571 verzögert. Als ihr Verfasser wird in dem Protokoll über die Eröffnung des Hofgerichts der Kanzler Dr. jur. Steck genannt. [Seite 302 [Seite: 302]]
Um beurteilen zu können, weiche Bedeutung die LGO. für die Rechtsentwicklung des Stiftes2.1 besonders für die Aufnahme des römischen Rechtes gehabt hat, ist zunächst das frühere Verfahren darzustellen.
Dabei rechtfertigt sich die Beschränkung auf das Zivilverfahren vor den Gogerichten, den ordentlichen weltlichen Landgerichten2.2, denn nur dieses hat in der LGO. eine durchgreifende Regelung bezw. Umgestaltung erfahren.
Bezüglich des peinlichen Verfahrens wird auf die Vorschriften der Carolina verwiesen.2.3 Über das Brüchtenverfahren, ein halb ziviles, halb kriminelles Verfahren2.4, bestimmt die LGO. nur, daß "kein länger Prozeß gehalten, sonder allein Clag, Antwort und Beweiß angehört und darauff alßbald erkendt werden soll" (3 II). Für die Freigerichte begnügte man sich mit einer energischen Ermahnung, die bestehende "Reformation" zu befolgen.2.5 Auch [Seite 303 [Seite: 303]] die Holz-, Gast- und Bauergerichte können wir übergehen, da sich über diese nur wenige Vorschriften in der LGO. finden2.6, die überdies auch den Bestimmungen über die Gogerichte nach Möglichkeit entsprechen.2.7
Zwei Formen der Goversammlung sind scharf zu scheiden: das Goding, auch "generallandgoding"2.8, "echtes godinch"2.9 oder "steveliger gerichtestag"2.10 genannt, und das eigentliche Gogericht, "Gericht in streitigen Partiensachen".2.11
An vielen Orten bestand für beide eine verschiedene Malstatt: so wurde z.B. in Beckum und in Ahlen das Goding vor dem Ost-, das Gogericht vor dem Westtore abgehalten.2.12 Ferner war das Goding ein ungebotenes Ding, zu welchem alle Dingpflichtigen, also auch die Parteien, ungeladen erscheinen mußten2.13 und welches an bestimmten, sogenannten Pflichttagen gehalten wurde. Solcher Tage gab es in einigen Gerichten nur zwei (eines bei Gras und eines bei Stroh2.14), in anderen drei, vier oder sogar sechs.2.15 Außerdem konnte der Bischof noch außerordentliche "steffliche richtliche pflichtdaiche" anberaumen.2.16
Gogericht wurde dagegen gehalten, "so offt es durch des Herrn von Munster amptlude uthgekundyget worth, ock dar es parten umb schulden und unschulden begeren".2.17 Dies war ein gebotenes Ding, zu welchem die Gegenpartei zehn Tage vorher geladen werden mußte.2.18
Über die Abgrenzung von Goding und Gogericht im [Seite 304 [Seite: 304]] Hochstift Osnabrück schreibt Stüve2.19: "Ursprünglich sollten alle Klagen bei den Landgödingen vorgebracht werden. Später wurden gewöhnliche Schuldklagen und ähnliche außerhalb der Landgödinge in einfacherer Form erledigt". Auch in Münster sehen wir zunächst das Goding als erkennendes Gericht.2.20 Später trat jedoch eine Trennung ein: "Auf den Gödingen wurde das Recht gewiesen. Auf dem Bottdinge (judicium partium) wurde in den einzelnen Prozeßsachen nach dem auf dem Goding gewiesenen Rechte erkannt."2.21
Praktisch wird sich das Verhältnis zwiefach gestaltet haben. Wenn gerade ein Goding nahe bevorstand, oder wenn man Zweifel an der Rechtsgültigkeit seines Anspruches hatte, so ging man zunächst zum Goding. Dort holte man sich in Gestalt eines "gemeynen ordels"2.22 eine Auskunft über das Bestehen eines Rechtssatzes2.23 oder eines tatsächlichen Verhältnisses2.24, alles "per viam consultationis".2.25
Mit diesem Urteil (vurraem)2.26 in der Hand konnte man immer noch überlegen, ob es aussichtsvoll sei, einen Rechtsstreit [Seite 305 [Seite: 305]] zu beginnen, damit "das urthel zum negsten gerichte vur recht abgekant werde". Auch pflegte man den späteren Gegner von der Verhandlung vor dem Goding zu benachrichtigen.2.27 Durch deren Ergebnis konnte sich dann vielleicht der Gegner veranlaßt fühlen, den Anspruch zu befriedigen oder schon im Goding seine Einwendungen anzubringen. Der erteilte Richtschein konnte im späteren Rechtsstreite verwandt werden.2.28
Hatte man dagegen den Rechtsstreit am Gogericht anhängig gemacht, so wurde dort möglicherweise die Befragung der Dingpflichtigen oder eines Teiles derselben über einen tatsächlichen Zustand oder über eine Rechtsfrage beschlossen. Die Antwort auf beides geschah stets durch Urteil2.28 im Goding; denn auch bei der Feststellung des objektiven Rechtes handelte es sich nicht um Rechtserzeugung oder -auslegung, sondern auch nur um eine Tatsache, das Wissen oder Nichtwissen des verlangten Rechtssatzes.2.30 Wie diese Verweisung vom Gogericht an das Goding geschah, sehen wir deutlich an folgendem Falle aus dem Jahre 1488.2.31
Dort kommt eine Partei zum Goding und erklärt, es sei "ein receß und cedule bededinghet"2.32, den sie vorliest: "To [Seite 306 [Seite: 306]] gedenkenne, dat men up den nesten godinck ... vraghe den gemeynen dinckpflichtigen, of de ok gedenken ... Sachten ok de dinckpflichtigen, dat id also de tyt eres levendes geholden were, dat dan de Korve by eren besitte blyven". Als die Partei nun noch eine "Ansprake" tun will, läßt die Gegenpartei erklären: "De cedule en vermochte nicht, dat dar ansprake gescheyn solde, darumb en wolden se ... na inholt und vermoghen der cedulen doen". Wie die erste, so fand auch die Schlußverhandlung wieder vor dem Gogericht statt, das auf Grund des erteilten Richtscheines das Endurteil fällte.
Sachlich waren die Gogerichte zuständig für sämtliche bürgerlichen Streitigkeiten.2.33 Die persönliche Zuständigkeit interessiert hier nicht, da sie durch die LGO. nicht geändert wurde.2.31
Freiwillige Gerichtsbarkeit fand nur wenig in den Gogerichten statt, denn "echtes Eigen wurde im Freigericht aufgelassen, Übertragung von Leihenutzung, ja sogar Ausstattung der Kinder und Versorgung der Leibzüchter wurden im Hofgericht oder vor dem Gutsherrn getätigt".2.35 Die wenigen anderen Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit fanden im Gogericht, im "sunderlix darto gehegeden gericht"2.36 statt, ob auch im Goding, muß dahingestellt bleiben, ist aber sehr wahrscheinlich.
Der Umfang der Geschäfte, welche gerichtlich beurkundet werden mußten, wird der gleiche gewesen sein wie nach der LGO.2.37
Vorsitzender eines jeden Gogerichts war der Gograf. Er wurde von dem Inhaber des Gerichts ernannt2.38, nicht [Seite 307 [Seite: 307]] mehr von dem "Land" gewählt.2.39 Seine Tätigkeit bestand fast ausschließlich in der Leitung der Verhandlung.2.40
Das Betreiben des Verfahrens lag den Parteien ob. Deren Sache war es, dem Gografen alle Prozeßhandlungen "affzugewinnen", das heißt, ihn durch Befragung des Umstandes und darauf ergehendes Urteil dazu zu zwingen.2.41
War der Gograf an der Ausübung seines Amtes verhindert, so ließ er sich durch "bequeme Personen" vertreten.2.42 Bei bloß augenblicklicher Verhinderung, z.B. bei der Beratung mit dem Umstande, legte er ein "instrument" an seine "stede".2.43
Die Urteilsfindung lag bei dem Umstande. Daß im Goding die ganze Gemeinde, das "land"2.44, urteilte, sehen wir aus den zahlreich erhaltenen Richtscheinen.2.45 Jeder "Hausherr" war bei Strafe verpflichtet, selbst im Goding zu erscheinen.2.46 Aber auch im Gogericht entschied der Umstand. Weil hier keine allgemeine Dingpflicht bestand, wurde er aus den zufällig anwesenden Männern gebildet.2.47 Daß dem so war, ersehen wir aus den Berichten von Brunnen und Dingden2.48, wo es heißt: "mit dem umbstand gerichtet", obgleich an den beiden genannten Orten keine Godinge stattfanden, ferner aus dem Mißbr. Nr. 142.49 und aus LGO. 1 II: "Es soll durch richter und scheffen und nit durch den umstandt (wie biß daher geschehen) erkendt werden". Auch hier ist nicht das Goding gemeint, denn dieses regelt ausschließlich [Seite 308 [Seite: 308]] und erschöpfend LGO. 2 II. Schließlich wäre noch die Kölner Reformation von 1537 heranzuziehen: "Und wollen hiemit den alten mißbruch unser Westvelischer gericht, als das die urthel nit durch den richter sonder den ungeferlichen umbstandt adir einen uß dem hauffen gegeben werden, gentzlich abgethan haben". Hier ist auch offenbar das Gogericht gemeint, denn im Goding kann man doch nicht von einem "ungeferlichen umbstandt" reden, weil dort der Umstand, die Gemeinde, immer der gleiche ist.
Eine besondere Stellung unter dem Umstände nahmen die "kornoten" ein, die auch "standenoten, getugen oder tuchluden" genannt wurden.2.50 Wie die letzten Namen schon andeuten, scheinen sie Urkundspersonen für das Gerichtszeugnis gewesen zu sein. Mit dem Richter zusammen bildeten sie die "bank".2.51 Mancherorts wurden sie auch bei dem Urteilsvorschlag bevorzugt2.52, jedoch waren sie nicht identisch mit den noch zu erwähnenden Urteilsfindern. Die Bezeichnung "Kornoten", das heißt gekürte Gerichtsgenossen, deutet auf ihre Berufung im Einzelfall hin. Tatsächlich sehen wir auch, daß die Kornoten (die LGO. 1 I nennt auch die Schöffen in Anlehnung hieran Kurgenossen) von den Parteien2.53 oder sonstigen Interessierten2.54, in letzter Linie vom Gografen für jede Verhandlung besonders ernannt wurden, und zwar durchaus nicht immer aus der Gerichtsgemeinde.2.55 Im Goding konnte der Gograf stets genug Adelige, Bauerrichter oder Bauern als Kornoten haben; aber zum Gogericht, wo er nicht darauf rechnen durfte, stets passende Leute zur [Seite 309 [Seite: 309]] Hand zu haben, brachte er seine Kornoten mit, und zwar waren dies meist Beamte, so in Vechta der Drost und der Richter von Wildeshusen, in Dülmen und Bocholt Bürgermeister und Ratsschöffen, in Kloppenburg die Amtleute.2.56
Zur Urteilsfindung war, grundsätzlich wenigstens, jedermann aus dem Umstande berufen2.57; nur in den westlich gelegenen Gerichten sehen wir, daß eine besondere Klasse, die Inhaber von Sattelgütern, zusammen mit den Kornoten das Urteil fanden2.58, ferner in den Ämtern Vechta, Kloppenburg und Wildeshausen die Burgmannen mit 24 beeideten Hausleuten.2.59
Ständige oder gar beamtete Vorsprechen gab es noch nicht, vielmehr erbat sich jede Partei und überhaupt jeder, der im Gerichte sprechen wollte, einen beliebigen Mann von dem Gografen als Vorsprecher. Dieser mußte "sich an die bank dingen", das heißt eine Reihe von Urteilen finden lassen über die seiner Partei und ihm selbst zukommenden Rechte2.60; er mußte außerdem von der Bank zugelassen werden.2.61
Nur ein Teil der Gogerichte hatte einen Gerichtsschreiber; daraus kann man ersehen, daß diesem keine rechtlich bedeutsame Stellung zuteil geworden war. Seine spätere Aufgabe, Urkundsperson zu sein, erfüllten schon die Kornoten.
Über die Form der Verhandlungen im Goding sind wir hinlänglich unterrichtet; bezüglich des Verfahrens im Gogericht [Seite 310 [Seite: 310]] können wir nur Vermutungen aufstellen. Wir werden jedoch wohl nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, daß bedeutende Unterschiede zwischen beiden nicht bestanden haben. Sehen wir doch noch im Jahre 14482.62 Goding und Gogericht vereinigt. Und als sich später die Trennung vollzogen hatte — wahrscheinlich, weil die Dingpflicht zu lästig wurde — da war immer noch kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Rechtsprechen und dem Erteilen eines Weistums. Wir können somit das Verfahren für beide einheitlich darstellen. In seinen Hauptzügen stimmt es naturgemäß mit dem den Rechtsbüchern, insbesondere dem Sachsenspiegel, zugrunde liegenden Verfahren überein: in der gleich zu erörternden Dreiteilung2.63, ferner in der Mündlichkeit, dem Parteibetrieb und der Verhandlungsmaxime. Auch in Einzelheiten (z.B. Hegung, Schelte) finden wir viel Übereinstimmendes, nur daß an die Stelle der verschiedenen Klagearten (schlichte, Anefangsklage) mit ihrem großen Formalismus ein einheitliches Verfahren trat, das auch freiheitlicher ausgestaltet war (es ist z.B. keine dreimalige Ladung des Ungehorsamen mehr nötig). Die Zulassung des Zeugenbeweises im modernen Sinne2.63 und die damit notwendig verbundene Beweiswürdigung trug natürlich auch viel zur Beseitigung des Formalismus bei. Die Verhandlung zerfiel in drei Teile: Vorfragen, Hauptverhandlung und Beweiserhebung.2.64
Begonnen wurde der Gerichtstag mit einer feierlichen Hegung, das heißt "Befragung oder bestattung besonderer fürurtheil an den umbstandt oder fürsprächen"2.65, ob es sei rechte Dingzeit, ob er, der Gograf, nicht müsse verbieten "unrecht, unlust, scheltwort, nytwort, strytwort, kyffwort, hennewort."2.66
Nachdem also "die bank gespannt", folgte zunächst [Seite 311 [Seite: 311]] die Zulassung der Fürsprechen, denn im Gegensatz zum Sachsenrecht, das die Annahme eines Fürsprechen der Partei anheim stellte2.67, durfte hier niemand sprechen, "he doe dat vermitz sinen togelaten und erloefften vorspreicken".2.68 Daraus, daß jedermann, also nicht nur die Partei, einen Fürsprechen haben mußte, ersieht man, daß es sich hier nicht um eine Prozeßvertretung handelte, die von der Pflicht zumn persönlichen Erscheinen entband, sondern nur um ein Fürsprechen, das heißt Reden für den ungeübten Bauersmann, mit bindender Kraft für diesen nur dann, wenn er schweigend seine Zustimmung gab.2.69 Falls Bedenken obwalteten, wurde durch Urteil entschieden, ob ein Fürsprech genügende Vollmacht habe2.70, ob der Beklagte zur Antwort vor diesem Gerichte und an diesem Tage2.71 verpflichtet sei.2.72
Zum Vorverfahren gehörte wohl auch noch die Bekümmerung.2.73 Diese bezweckte, den unsicheren Gegner, einen Zeugen2.74 oder einen Fürsprechen2.75 persönlich oder ein ihnen gehöriges Gut festzuhalten, um zunächst ihr Erscheinen vor [Seite 312 [Seite: 312]] Gericht, dann auch die Erfüllung ihrer anderen Verbindlichkeiten sicher zu stellen.2.76
Von einem Versuche, den Streit im Vorverfahren auf gütlichem Wege, mit Minne, beizulegen2.77, finden wir keine Spuren.
Zum Beginn des Hauptverfahrens "spricht der Kläger den Beklagten an und giebt ihm Schuld".2.78 Den Grund des Klageanspruches bringt er in längerer Erzählung vor, nach jedem Satze sich zum Beweise erbietend mit Worten, wie: "Wolde ome de yemand bespreken" oder "wolde he dar wat eynkeghen seggen, dat wolde he wysen und kunden, wo he myt rechte solde na demme lantrechte".2.79 Beispiele einer schlichten Klage2.80 lassen sich nicht nachweisen; möglich, daß solche im Gogericht üblich waren, möglich auch, daß die schlichte Klage im 16. Jahrhundert schon ein überwundener Standpunkt war. Zuletzt bringt der Kläger dann sein Klagebegehren vor: "Und begherden, dat ick, gogreve vorskreven, den buerrichter (Beklagten) wolde dwingen myt deme rechte, dat he den broke uthgeve und den schaden richtede, off tor rechten antworde".2.81
Der Beklagte erhält zur Antwort eine Frist von 14 Tagen2.82, aber nur, falls er "handgeloiffthe" gibt.2.83 Dieses "Handgelübde" entspricht der fränkischen Wette und ist ein förmliches Schuldversprechen unter Verpfändung der Treue.2.84 Inhalt des Versprechens ist die Erfüllung der prozessualen Pflichten, insbesondere hier das Erscheinen im nächsten Ding. Erkennt der Beklagte den Anspruch an, so erhält er eine Frist zur Befriedigung des Klägers. [Seite 313 [Seite: 313]] Beteuert der Beklagte dagegen seine "unschult up de ansprake"2.85, so muß er die Behauptungen des Klägers, die er nicht gelten lassen will, Satz für Satz bestreiten2.86 oder Einwendungen machen, worauf dann Replik, Duplik usw. uneingeschränkt folgen können, und zwar "dith allent oen bewieß".2.87 Sache der Parteien ist es, durch stete Fragen an den Umstand, die meist mit den Worten: "Off wat dar recht up were"2.88 endigen, den Gang des Prozesses weiter zu treiben. Jedes dieser Urteile steht hinsichtlich seines Zustandekommens und seiner Form einem Endurteile gleich, kann auch für sich gescholten werden.2.89 In einem solchen Falle wird ein Richtschein ausgestellt, mit dem der Schelter zu dem höheren Gerichte geht; dieses entscheidet dann, ob das Urteil richtig gescholten ist oder nicht.2.90 "So wert dann in einer saiche etwan 2 oder 3 mael zu haupte zu verscheiden zeitten appellert und wedderumb de saiche ad inferiorem judicem remittirt".91 Die Eröffnung eines solchen "zu hofe geholten" Urteils ist besonders teuer.2.92
Ist so durch "stetiges urteilen, ... ehe die beweisung beschehen"2.93 festgestellt, welche Punkte bestritten und erheblich sind, welche Kraft die einzelnen Beweismittel haben, so wird die Hauptverhandlung durch das Beweisurteil geschlossen. Durch dieses wird über den Klageanspruch unter der Bedingung erkannt, daß die dem Streitgegenstand "nähere" Partei für ihre Behauptungen einen gesetzlich zulässigen Beweis erbringen kann. Ein solches Beweisurteil finden wir in W. Ldr. S. 239e.2.94 [Seite: 314]
Da der Beweis ein Recht ist, so ist ein Gegenbeweis ausgeschlossen, andererseits aber auch jede Partei, die den angebotenen und ihr zuerkannten Beweis "by sittendem gerichte" nicht zu erbringen vermag, sofort "der saeke fellig und verluestig".2.93
Die Beweismittel bilden eine Mischung von Altem und Neuem; neben dem Selbstzeugnis der Partei, das heißt dem Parteieid ohne2.96 oder mit "Zeugen"2.97, finden wir schon Zeugen im heutigen Sinne, das heißt solche, deren Schwur nicht mehr zu dem Parteieide hinzutritt und wie dieser ein Urteil ist, die vielmehr über ihnen bekannte Tatsachen aussagen.2.98
Gelingt dem Beweisführer der Beweis nicht und kann die Gegenpartei dies "bybrengen", das heißt nachweisen, so hat er damit den Prozeß verloren.2.99
Glückt aber der Beweis, so ist nur noch übrig, über die Art der Vollstreckung ein Urteil zu fragen, durch welches naturgemäß zugleich der Klageanspruch als zu Recht bestehend anerkannt wird.2.100 [Seite 315 [Seite: 315]]
Die sämtlichen Urteile, die der Umstand zu sprechen hat, werden vorher beraten. Handelt es sich um Urteile, die den Gang des Prozesses betreffen, so nimmt der Gograf an der Beratung teil: "So nu etzliche saken vorqweimen, da ick, gogreve, bi mi so nicht kunde vinden ader schiren, offt ick nicht mochte ... beraden mi mit dem umbstande und frunden dusses gerichtz ...".2.101 Urteile in der Sache selbst werden von dem Gografen "bestadet"2.102, und zwar, soweit es keine bestimmten Urteilsfinder gibt2.103, entweder an die sämtlichen Dingpflichtigen2.104 oder an einzelne aus dem Umstande.2.105
Der zum Urteilfinden Bestimmte kehrt sich, wie es in den Urkunden so plastisch beschrieben ist, mit den sämtlichen Dingpflichtigen um, berät sich mit ihnen und bringt dann das gefundene Urteil wieder ein. "Im fall aber sie bei demselben gerichte under sich dasselbe nith finden können, pflecht dergenne, daran es bestattet, zeit zu belherungh begeren".2.106 Es wird ihm alsdann aufgegeben, "sich by rechtzgelerten zu ersuegen umb deß urthels verfathung"2.105, und die Einbringung erfolgt im "achtergudynge", das 14 Tage später stattfindet.2.107 Letzteres heißt dann das "hele gericht" im Gegensatz zu dem ordentlichen Ding, dem "halven gericht".2.108
Für das gefundene Urteil fragt der Gograf "ghevolchnisse"2.109, und zwar "eynewerff, anderwerff, tomme negeden male overwerff".2.110 Wenn der Spruch "myt swygener fulbarth togelaten" ist, so "stadet der gogreve dat vor rechte".2.110 Haben dann die Parteien dem Gografen noch [Seite 316 [Seite: 316]] "affgewunnen, dal he en itlichen eyn schyn moiste geven under syn segel up oer koist"2.111, so "entfanght er syne orkunne darup, wandt alle gerychtlike gescheyn und myt ordelle und myt recht bestediget und gevestyged sind".
Das Versäumnisverfahren ist folgendermaßen ausgebildet: läßt der ungehorsame Beklagte sich nicht "vernotsinnigen", das heißt durch Säumnisboten (fränkisch "sunnis") echte Not dartun, so erhält der Kläger, und zwar im Goding ohne weiteres, im Gogericht bei nachgewiesener einmaliger2.112 Ladung (bodagunge) des Beklagten, auf seine "Ansprache" ein "doergaende gericht et rem judicatam", ein Versäumnisurteil.2.113 Dieses gründet sich auf das bloße Nichterscheinen des Beklagten, nicht etwa auf die vorgebrachten Behauptungen des Klägers.2.114
Ein Einspruch gegen das Versäumnisurteil ist nicht möglich: "Imo non permittitur, ut reus purget contumaciam hujus modi".2.113 Außerdem hat der Ungehorsame noch eine Geldstrafe (gewedde, Friedensgeld)2.113 wegen Nichtbeachtung des in der Ladung enthaltenen obrigkeitlichen Befehles zu gewärtigen.2.116
Rechtskräftig wird ein Urteil, wenn "niemantz by sittenden gerichte tor scheldunge erschennen".2.117 Zur Schelte ist nicht nur jede Partei, sondern überhaupt jeder Anwesende befugt2.118, eine Tatsache, die im Wesen der Schelte begründet liegt. Diese bezweckt nämlich nicht die Aufhebung eines schon gesprochenen Urteils — ein solches [Seite 317 [Seite: 317]] kommt nur zustande, wenn niemand "wedderachtet" — vielmehr soll durch das Angehen eines höheren Gerichtes"2.119 die zur Urteilsfällung erforderliche Einstimmigkeit ersetzt werden. Die Schelte ist darum ein Streit zwischen Urteilsfinder und Schelter; ist letzterer eine der Parteien, so schilt sie auch nur als Mitglied der Gerichtsgemeinde.2.120 Die Schelte besteht aus drei Akten: 1. der formellen Erklärung, daß man das gefundene Urteil nicht anerkenne, 2. dem Vorbringen eines besseren "vurraem"2.121 3. dem Angehen eines höheren Gerichtes. Es ist möglich, daß der dem Urteilsvorschlag Widersprechende sich mit den beiden ersten Handlungen begnügt: alsdann entscheidet die Gerichtsgemeinde durch Stimmenmehrheit, welcher Vorschlag der bessere ist. Erst durch die Erklärung, man werde ein höheres Gericht angehen, wird der Gegenvorschlag zur wirklichen Schelte.2.122 Deshalb wird man "der scheldunge vellich", wenn man "den ordelvinder by namen offt tonamen nicht nennt und sick des ock an nyn hoger gericht bereipt".2.123 Im Stift Münster ging die Schelte an das Goding2.124, und zwar nach Sandwelle2.125 oder zum Desum.2.126
Ist das Urteil richtig gescholten, so pflegt der Gograf die Urteilsausfertigung eine Zeitlang hinauszuschieben ("eyn tytlank upgeschort"), "um fruntlike schedinge to versokene".2.119 Kommt eine Einigung nicht zustande, so fertigt der Gograf den Richtschein aus und stellt den Parteien anheim, das Urteil " up den nesten godink to hovede to halen". Zu dieser Verhandlung muß der Schelter den Urteilsfinder [Seite 318 [Seite: 318]] und auch denjenigen laden, auf dessen Frage das Urteil gewiesen worden ist.2.127
Dem oben besprochenen Wesen der Schelte entspricht es, daß es in der höheren Instanz kein neues Vorbringen von Beweisen und Tatsachen gibt2.128, daß vielmehr einfach der Richtschein verlesen und dann sogleich ein Urteil darüber gefällt wird, ob der Schelter richtig gescholten habe oder nicht. Wird erkannt, daß mit Recht gescholten sei, so ist damit nicht nur der Vorschlag des Urteilfinders beseitigt, sondern zugleich der "vurraem" des Schelters als bindende Norm aufgestellt, obwohl vielleicht die Mehrheit in der ersten Instanz auf Seiten des Urteilfinders gestanden hat. Insofern ist die Schelte doch mehr als ein bloßer Zwischenstreit des Schelters und Urteilfinders. [Seite 319 [Seite: 319]]
Wieviel römisches Recht schon vor Erlaß der LGO. in den Prozeß der münsterschen Gerichte eingedrungen ist, läßt sich an der Hand eines Berichtes feststellen, den im Jahre 1574 die Burgmänner zu Vechta an den Bischof von Münster sandten und in welchem die Prozeßformen dargestellt sind, wie sie "von alterß her im swange gewest, geubeth und gebraucht" worden waren.3.1 In diesem Berichte lesen wir viele fremdrechtliche Ausdrücke, von denen sich jedoch nicht mit Sicherheit behaupten läßt, ob sie nur Latinisierungen der alten Begriffe sind, oder ob die Praxis schon teilweise einen anderen Sinn mit ihnen verband. So wird die Ladung Zitation, die Klage Aktion, der Fürsprech Prokurator, das satzweise Bestreiten der Klage litis contestatio, insaghe exceptio genannt. Die Befragung der Dingpflichtigen findet in einem terminus probandi statt, das Beweisurteil heißt nun Beiurteil.
Jedenfalls ist das Verfahren noch kein vollständig anderes geworden, vielmehr lassen sich nur einige wesentliche Unterschiede gegenüber dem alten Prozeß feststellen. Zunächst finden wir, daß ein Protokoll geführt wird, in das Klage, Klagebeantwortung, ferner die Zeugenaussagen aufgenommen werden. Der Gerichtsschreiber wird dadurch ausschließlich Urkundsperson an Stelle der "kornoten". Auch sehen wir, daß für jedes Vorbringen ein besonderer Termin [Seite 320 [Seite: 320]] angesetzt wird, worauf die Gegenpartei Abschrift des Protokolls und neuen Termin zur Antwort erhält. Überhaupt scheint die Schriftlichkeit sich immer mehr, auch im Parteivorbringen, breit gemacht zu haben.3.2
Während früher die Urteile des Sandweller und Desumer Stuhles unanfechtbar waren3.3, ist jetzt eine Appellation an die fürstliche Kammer möglich.3.4 Da diese noch kein eigentliches Rechtsmittel, sondern nur eine "Supplikation" ist, so steht es im Belieben des Fürsten, sie anzunehmen oder nicht. Tatsächlich wurde sie jedoch immer gewährt.3.5
Somit ist der Boden schon bereitet für die LGO.
Die durch Abtrennung des Gogerichtes vom Goding angebahnte Entwicklung wird vollendet in der LGO. Die bisher noch unsichere Abgrenzung zwischen beiden wird nunmehr scharf hervorgehoben, indem die bislang vermengten Tätigkeiten der Rechtsprechung und Feststellung des objektiven Rechtes getrennt, erstere dem Gogericht, letztere dem Goding überwiesen werden. "So sollen auch die fragung der urtheil, so an gerürten gödingen und landtgerichten zu underschiedtlichen zeiten deß jahres zu geschehen pflegen, hiemit eingestellt und abgeschafft sein. Doch soll der gograff oder richter macht haben, einmahl im jahr zu sommerszeiten ein gemein göding . . öffentlich verkündigen zu lassen, auf welchem gerürter gograff für sich selbst oder auff ansuchen der partheien die erscheinende ins gemein befragen sol, wie es nach landts gebrauch mit graben, zeunen, potten oder pflantzen, sehen, mehen, wegen [Seite 321 [Seite: 321]] und stegen, und dergleichen zu halten, item von Mist und pflug gerechtigkeit, ... und sie darauff bey iren eyden ermahnen, die warheit, wie man die ins gemein belebt und erfahren und bißheran bestendiglich gehalten, zu vermelden. Was dann einhelliglich oder durch den mehrerntheil also einbracht und erklärt, landtbräuchlich zu sein, das sol durch den gerichtsschreiber fleißig verzeichnet, und so wir dasselbig bestettigen wurden, sollen solche landtgerichts urtheil in ein ordnung gebracht und folgends für ein landtrecht der Ort publiciert und gehalten werden" (2 II, Abs. 2).
Eine außerordentlich geschickte Maßregel! Man will das Volk als Ganzes nicht mehr an der Rechtsprechung teilnehmen lassen, darum schält man das Goding aus dem Verfahren heraus. Andrerseits wünscht man, den Zusammenhang zwischen der Rechtsprechung und der Überlieferung aufrecht zu erhalten. Darum läßt man das Volk weiter im Goding das Recht finden.3.6 Dies bot zugleich den Vorteil, daß die Schöffen, in deren Händen nun die Rechtsprechung lag, als Gemeindemi tglieder am Goding teilnahmen und so in steter Fühlung mit der lebendigen Überlieferung und dem Rechtsbewußtsein des Volkes blieben.
Neben der Rechtsprechung findet die freiwillige Gerichtsbarkeit in den Gogerichten statt, doch wird sie nur zweimal flüchtig in der LGO. erwähnt. Einmal im 2. Teil, Titel I, wo angeordnet wird, daß das Protokoll über die Übergaben, Verträge und Testamente, die gerichtlich geschehen sind, gut aufbewahrt werden solle. Zum anderen in der Taxe der Gerichtsgefälle, 1 XVI, wo es heißt: "Item von Erbkaufen, [Seite 322 [Seite: 322]] Verträgen, Verzichten, Erbaußgängen und dergl., da etwas erblich gegeben, verkaufft oder auffgetragen wird, welches vor dem Richter in beysein der Schöffen jederzeit geschehen sol ...". Die alte Form ist also mit Änderung der Namen beibehalten, es sei denn, daß auch hier der Gerichtsschreiber rechtliche Bedeutung hatte.
Infolge ihrer völlig verschiedenen Aufgaben haben Goding und Gogericht fortan verschiedene Formen. Mangels weiterer neuerer Bestimmungen behält allerdings das Goding im wesentlichen sein altes Verfahren bei.3.7 Wie früher schon in den Gogerichten, so treten jetzt auch hier sehr häufig Beamte als Kornoten auf.3.8
Obwohl die Vorsprechen von nun an fest angestellt sind (1 V, Abs. 1), müssen sie gleichwohl im Goding noch jedesmal sich an die Bank dingen und zugelassen werden.3.9 Sie treten nun fast allein als Urteilfrager auf, und zwar dürfen sie dabei die Namen der Parteien nicht mehr nennen.3.10
So vollzieht sich allmählich in einfacher, natürlicher Weise der Übergang zum geschriebenen Recht. Man zeichnet nicht nur alle "gemeinen", das heißt im Goding gewiesenen Urteile in einem Protokollbuche auf, sondern man sammelt auch noch solche aus den früheren Jahren. So entstehen Sammlungen wie die der Sandweller Urteile zu C.3.11 Diese bildeten dann den Grundstock zu einer im Jahre 1586 erfolgten systematischen Bearbeitung.3.12
Verfassung und Verfahren des Gogerichtes zeigen nach der LGO. von 1571 ein völlig verändertes Aussehen. Die seit Anfang des 16. Jahrhunderts so tätige prozessuale Gesetzgebung aller Territorien und des Reiches macht ihren [Seite 323 [Seite: 323]] Einfluß deutlich bemerkbar. Als Vorbilder dürften der LGO. gedient haben: die Mainzer Untergerichtsordnung, die Kölner Reformation von 1537 und die Kammergerichtsordnungen; insbesondere die KGO. von 15553.13, die umfassendste Prozeßordnung ihrer Zeit, hat bedeutend auf die LGO. eingewirkt.
Im einzelnen die Übereinstimmung zwischen beiden nachzuweisen, wird sich erübrigen; es sollen im Folgenden nur einzelne Verschiedenheiten hervorgehoben werden.
Die Münster. Hofgerichtsordnung stimmt in ihren Grundzügen mit der gleichzeitig verkündeten LGO. überein; beim Mangel eines älteren heimischen Appellationsverfahrens lehnt sie sich jedoch noch stärker als diese an den reichskammergerichtlichen Prozeß an.
Im Gogericht wird das Volk, der Umstand, jeder rechtlichen Bedeutung beraubt. Während der Richter, der jetzt nicht mehr Gograf heißt, emporsteigt und nicht mehr als bloßer Verhandlungsleiter, sondern als volles, stimmberechtigtes Mitglied in den Gerichtshof eintritt, muß die Gemeinde ihre Stellung den vier oder sechs Schöffen abtreten (1 I). Im Gegensatz zu den Kurgenossen, die nur primi inter pares waren, stehen sie über dem anwesenden Volke und bilden mit dem Richter zusammen das Gerichtskollegium, das nach Mehrheitsbeschluß, nicht mehr durch Einstimmigkeit beschließt (1 II). Vertreter des Richters ist der älteste Schöffe.
Die Schöffen werden von dem Inhaber des Gerichtes auf Lebenszeit gewählt, doch können sie "auß redlichen Ursachen ihres gerichtlichen Ampts durch die Obrigkeit erlassen werden" (1 I). Wenn ein Schöffe stirbt oder aus sonstigen Gründen sein Amt nicht mehr ausüben kann, so [Seite 324 [Seite: 324]] sollen "die undergesessene deß gerichtes" dem Stuhlherrn zwei oder drei Personen aus ihrer Mitte vorschlagen, damit er eine daraus zum Schöffen wähle. Die übrigen Gerichtspersonen ernennt er ohne Vorschlag (1 I).
Als Rechtsbeistände kennt die LGO. keine Advokaten, das heißt Gelehrte, die die Parteien außerhalb des Gerichtes beraten, sondern nur Prokuratoren oder Fürsprechen, die jetzt eigentliche Prozeßvertreter sind. Während die alten Fürsprechen nur Organe der notwendig mitanwesenden Partei waren, können die Prokuratoren den Parteien das persönliche Erscheinen vor Gericht ersparen, ja sogar das Schwören, indem sie in deren und in ihre eigene Seele den Schwur ablegen (2 V). Ferner konnte früher jedermann als Fürsprech auftreten; dagegen werden jetzt nur zwei oder drei an jedem Gericht zugelassen und fest angestellt. Sie müssen durch den Richter und zwei Schöffen "als treulich befunden" und vereidigt sein (1 I).
Wird ein Prokurator als "unfleißig und untüglich" befunden, so wird ihm sein Amt entzogen.
Für jeden Prozeß muß der Anwalt eine beglaubigte Vollmacht beibringen; ohne diese wird er nur gegen Kaution bis zur litis contestatio zugelassen (1 V).
Der Anwaltszwang ist gemildert, indem solche Parteien, die geschickt genug erscheinen, mit Erlaubnis des Gerichtes selbst auftreten dürfen (1 II). Diese Maßregel ist sehr gerechtfertigt, da, wie wir sehen werden, die Leitung des Prozesses nicht mehr den Parteien obliegt und auch der Schwerpunkt des Verfahrens durch die Schriftlichkeit in die außergerichtliche Tätigkeit der Parteien verlegt ist.
Außer den bereits genannten Personen muß in jedem Gericht ein beeideter Gerichtsschreiber sein. Er hat "die namen der Partheien, Citationen, Mandaten, vort Clag, Antwort, Beweisungen, ein- und gegenreden, auch die Urtheil und Decreta auszuschreiben", und den Parteien auf Verlangen Abschriften der Protokolle und Urteile auszufertigen [Seite 325 [Seite: 325]] (1 IV). Die Ladungen und sonstige Botengänge, ferner die Aufrechthaltung der Ordnung während der Sitzungen besorgt ein Bote oder Frone, der ebenfalls beeidet wird (1 VI).
In Anlehnung an die für Nachgodinge üblich gewesene Frist wird bestimmt, daß alle 14 Tage Gericht gehalten werden soll. "Die verlengerung aber, so an etlichen ortten diesem zuwider in zwang gewesen und geübt worden, soll aufgehoben sein" (2 I). Die Tagung beginnt nicht mehr mit der feierlichen Hegung, vielmehr soll das Gericht "genugsam gespannen und geheget" sein, wenn Richter und Schöffen sich niedergesetzt haben (1 II). Der für diese Änderung angegebene Grund, daß Richter und Schöffen, kraft der LGO. "genugsam Gewalt, Macht und Befehl" zum Urteil haben, zeigt deutlich den Geist der neuen Zeit, der keine Gerichte kraft Volkswillens, sondern nur von der Landesherrschaft abhängige Gericht anerkennt.
In jeder Verhandlung hat der Gerichtsschreiber ein Protokoll zu führen, in welchem alles, was von den Parteien schriftlich oder mündlich vorgebracht wird, verzeichnet werden soll (2 I). Auch sind die Parteien verpflichtet, ihr Vorbringen, wie Klage, Antwort u.s.f., stets schriftlich einzureichen, ausgenommen bei Sachen unter 20 Taler Wert und bei Extraordinar-Sachen. Abgesehen von diesen Ausnahmen geschieht auch die Ladung nicht mehr mündlich, sondern schriftlich durch Vermittlung des Gerichtsschreibers und mit genauer Angabe des Anspruches und des streitigen Rechtsverhältnisses (2 III). Der Frone übergibt dem Gegner nur die Kopie der Ladung; das Original reicht er dem Auftraggeber nebst der Exekution, d.h. Zustellungsurkunde zurück (1 VII). Die Ladefrist ist von zehn auf sechs Tage herabgesetzt (1 VII).
Ein Schiedsverfahren, das heißt ein Versuch, die Streitigkeit durch einen Vergleich, "mit minne" zu erledigen, wie [Seite 326 [Seite: 326]] er in vielen Ordnungen vorgeschrieben war3.14, findet wie früher, so auch jetzt nicht statt.
War im alten Verfahren der Fortgang der Verhandlung gesichert durch das stete Urteilen, so sucht man jetzt der Verschleppung vorzubeugen durch Einführung der Eventualmaxime und durch Verteilung des Prozeßstoffes auf feste Termine.
Im ersten Termin wird die Klage eingebracht, und zwar schriftlich und artikuliert.3.15
Jede Partei, die bereit ist, "deß Streites außzuwarten", hat das Recht, von dem Gegner Kaution "mit Bürgen oder Güttern" für den Fall ihres Obsiegens zu verlangen (2 IV). Eine Bekümmerung der Person oder Güter findet dagegen nur unter bestimmten Voraussetzungen statt, so z.B., "wenn einer wegfertig wäre", oder "der Streit fahrende Habe belangt, die verrückt werden mochte". (Gem. Münst. Landtordnung, Tit. II.)
Erkennt der Beklagte den Klageanspruch an, so wird ihm eine Frist zur Befriedigung des Klägers gesetzt und nach deren fruchtlosen Ablauf "mit ernst laut dieser Ordnung fortgefahren" (2 V). Das als Mißbrauch gerügte Verfahren3.16 wird also beibehalten.
Will der Beklagte dilatorische oder solche peremptorische Einwendungen machen, die litis finitae heißen, so [Seite 327 [Seite: 327]] muß er sie bei Strafe der Ausschließung sämtlich auf dem ersten Termin vorbringen (2 XXIV).3.17 Nach Erhebung von Beweisen wird darüber in einem besonderen Verfahren durch Urteil entschieden (2 XXIV). Hiermit ist dann das Vorverfahren beendet. Spätestens auf dem zweiten Termin muß der Beklagte sich erklären, ob er den klägerischen Anspruch bestreite. Alsdann findet die Kriegsbefestigung statt, indem der Beklagte sagt: "Ich bin der Clag nit gestendig und bitte, mich davon mit abtrag kosten und schaden zu erledigen", worauf der Kläger antwortet: "Ich repetir mein eingebrachte Clag, sag dieselb wahr und beweißlich zu sein und erwarte darauff Gegentheils klare antwort".
Alsdann muß der Beklagte sofort3.18 "sein Responsiones, Defensiones oder Peremptoriales, so viel er deren hette, auf einmal übergeben", bei Vermeidung der Ausschließung (2 V).3.19
Die Antworten müssen auf jeden Artikel einzeln durch das Wort: "Glaub wahr" oder "Glaub nit wahr" geschehen (2 V). Alsdann kann das Gericht "für sich selbst oder auff begeren der Partheyen" beiden Streitteilen die juramenta dandorum et respondendorum auferlegen (2 V).
Die Artikulierung der Klage und das Antworten auf die einzelnen Artikel entsprechen dem satzweisen Vorbringen und Bestreiten der Klagetatsachen im alten Verfahren.
Außer den oben genannten Eiden wird noch einer oder beiden Parteien das juramentum calumniae, der Eid "für gefehrde", auferlegt. Bei Verweigerung dieses Eides wird [Seite 328 [Seite: 328]] der Kläger kostenpflichtig abgewiesen, der Beklagte ohne weiteres verurteilt (2 V).3.20
Auf dem dritten Termine bringt der Kläger seine Repliken vor. Da eine Duplik nicht mehr geschehen darf, so ist damit das Behauptungsverfahren beendet, und es beginnt das Beweisverfahren. Das unnütz gewordene3.21 Beweisurteil hat man vernünftigerweise fallen gelassen. Auf dem nun folgenden terminus probandi wird über alle bestrittenen Behauptungen beider Parteien Beweis erhoben.3.22
Die alte, straffe Prozeßgliederung in Vor-, Haupt- und Beweisverfahren hat man also beibehalten.
Beweismittel sind Zeugen, Urkunden und Augenschein; den Parteieid oder richterlichen Eid kennt die LGO. nicht. Man glaubte anscheinend, daß durch die neuen Beweismittel die alten: Eid mit oder ohne "Zeugen" völlig entbehrlich geworden seien. Die Zeugen werden von dem Beweisführer geladen und in Abwesenheit der übrigen Zeugen, selbst der Parteien, vernommen; bei ihrem Eide sind sie verpflichtet, ihre Aussagen geheim zu halten (2 IX). Dem Bauer, der gewöhnt ist, seine Aussagen frank und frei vor der ganzen Gemeinde zu machen, wird diese Heimlichkeit unwürdig vorgekommen sein. An Stelle des Nacheides wird jetzt der Voreid geleistet (2 VII).
Die Unmittelbarkeit wird dadurch teilweise abgeschafft, daß Zeugen, die in einem anderen Gerichtsbezirk wohnen, kommissarisch vernommen werden (2 XI).3.23
Auf dem vierten Termin werden die Zeugenaussagen eröffnet. Hat eine Partei sich vor dem Verhör Einwendungen [Seite 329 [Seite: 329]] gegen einen Zeugen vorbehalten oder leistet sie einen besonderen Gefährdeeid, so wird in einem getrennten Verfahren die Glaubwürdigkeit des Zeugen geprüft. Unter Umständen kann dann derselbe Zeuge noch einmal vernommen werden; nie jedoch wegen der Gefahr "einer underrichtung", das heißt einer Besprechung der Zeugen untereinander, ein neuer Zeuge (2 XIX-XXI).
Alsdann wird der Streit förmlich beschlossen (2 XXII) und das Urteil durch Mehrstimmigkeit gefällt. Wenn Richter und Schöffen nicht schlüssig werden können, so dürfen sie die Akten an einen oder zwei Rechtsgelehrte senden. Das von diesen verfaßte Urteil wird ohne weiteres publiziert (2 XXIX).
Wie man schon früher für geringschätzige Sachen, "graven, zeune und plaggenmath betreffend", ein abgekürztes Verfahren in einem einzigen Termin hatte3.24, so werden auch nach der LGO. privilegierte Sachen in einem kurzen, mündlichen oder schriftlichen Verfahren von zwei oder drei Terminen erledigt. Privilegiert sind Klagen auf Lohn oder Unterhalt, Handelssachen, Klagen mit einem Streitgegenstande von unter 20 Taler Wert, Klagen wegen Wuchers, wegen eingebrachten Gutes nach Auflösung der Ehe, alle "reinen possessorisachen", Klagen von armen Witwen und Waisen, auf Bauverbot, auf rückständige Pachtgelder, alle Zwangsvollstreckungssachen und Exekutionsinterventionsklagen (2 XXIII).3.25
Das Versäumnisverfahren wird folgendermaßen gehandhabt. Ist der Beklagte zweimal ausgeblieben, so wird ohne ihn verhandelt, er selbst aber zu keiner Einrede mehr zugelassen, falls er wieder erscheinen sollte (2 XXVI Abs. 4). [Seite 330 [Seite: 330]] Will der Kläger dieses Verfahren nicht, so kann er immissio ex primo decreto verlangen (2 XXVI, Abs. 6-8). Zahlt der Beklagte dann nicht innerhalb Jahresfrist Kosten und Schäden mit dem Anerbieten, "die sach wie recht auszuführen", so kann der Kläger immissio ex secundo decreto verlangen, wodurch er vollkommener Besitzer wird, "dem die abnutzung der guter zugehört" (2 XXVI, Abs. 11 bis 14). Der Kläger kann auch ein Monitorium, "Gebottsbrief", auswirken, durch welchen dem Beklagten unter Androhung einer Geldstrafe geboten wird, im Gericht zu erscheinen und zu verhandeln (2 XXVI, Abs. 15).3.26
Der Ungehorsame kann bei jedem Stande des Prozesses wieder zugelassen werden, und es wird sogar das bis dahin Erkannte "als nichtig abgethan und revoziert", falls er eine genügende Entschuldigung seines Fortbleibens vorbringt 2 XXX, Abs. 2).
Dieses schlaffe Verfahren ist ein ganz natürlicher Rückschlag gegen die bisher geltende strenge Kontumazierung.
Das Urteil wird in zehn Tagen nach seiner Eröffnung rechtskräftig. Nur innerhalb dieser Zeit kann "in schrifften vor Gericht oder sonst vor Notarien und gezeugen mit angezeigten Ursachen der Beschwerung" appelliert werden (2 XXX, Abs. 2).
Die Appellation zeigt tiefgehende Unterschiede von der Schelte: sie steht nur den Parteien zu, sie führt zu einem vollständig neuen Verfahren mit beliebig neuem Vorbringen3.27, sie ist nur möglich gegen Endurteile und solche "Bescheidt und gerichtliche Beschwerungen, so durch die Appellation von der Endurtheil in der Hauptsachen nicht [Seite 331 [Seite: 331]] repariert werden mögen" (2 XXX), sie geht nicht mehr an ein anderes Gogericht, sondern, soweit sie nicht "an ein Stadt, Fleck oder Wigboldt gehörte", an das Hofgericht3.28 und weiter an das Reichskammergericht.3.29 Am Hofgericht wird nach der Hofgerichtsordnung prozediert, die 1571 zusammen mit der LGO. verkündet wurde.
Für die Kostenfestsetzung hat die LGO. ein vollständiges Verfahren mit Einrede und Replik, Aktenversendung und Urteil eingesetzt (2 XXXII).3.30.
Die Gerichtsgefälle (1 XVI) bestehen nicht mehr aus Naturalien, sondern ausschließlich aus Geld.
Zur Zwangsvollstreckung muß man sich nach Rechtskraft des Urteils Executoriales erbitten, in welchen, wie schon früher üblich, dem unterlegenen Teil bei einer namhaften Geldstrafe befohlen wird, dem Urteil "in zwölff, fünfftzehen, zum lengsten aber dreissig Tagen" nachzukommen (2 XXXIV). Geschieht dies nicht, so wird die Exekution vollzogen nach Maßgabe der gemeinen Münsterischen Landtordnung von 1571.
Einen allgemeinen Verweis auf das gemeine Recht, wie KGO. LIV und Hofgerichtsordnung 1 III, kennt die LGO. nicht.
Im ganzen genommen ist die LGO. als eine für ihre Zeit achtenswerte Leistung zu bezeichnen. Zwar kann sie auf Selbständigkeit keinen allzu großen Anspruch machen — wie wir sahen, ist sie in der äußeren Form und in einzelnen Bestimmungen der Mainzer Untergerichtsordnung und der Kölner Reformation nachgebildet, inhaltlich stark von der Reichsgesetzgebung abhängig — aber durch das [Seite 332 [Seite: 332]] Ganze geht doch ein erfrischender Zug und ein gutes Empfinden für gesunde Entwicklung. Überall zeigt sich das redliche Bestreben, Neues wie Altes auf seine Brauchbarkeit unparteiisch zu prüfen. Da wir schon an den einzelnen Stellen darauf hingewiesen haben, erübrigt es sich, im einzelnen aufzuzählen, wieviel altes Recht man in der LGO. beibehalten und maßvoll weiterentwickelt hat, wie weit man andrerseits über die allerdings etwas rückschrittliche KGO. von 1555 hinausgegangen ist. Während diese, schon äußerlich ein ganz barockes Bauwerk, zu sehr der italienischen Doktrin folgte und in übertriebener Ängstlichkeit der Prozeßverschleppung Tür und Tor öffnete3.31, versuchte die LGO. mit Erfolg den Prozeß in einfache, klare Formen zu bringen, die einen raschen Gang der Geschäfte gewährleisteten. Darum griff man an zwei Stellen auf die KGO. von 1521 zurück, darum konzentrierte man das Beweisverfahren, darum führte man ein besonderes Verfahren für die vermehrten außerorden tlichen Sachen ein. Die Speyerer Beschlüsse von 1570, die für den kammergerichtlichen Prozeß die sofortige Artikulierung bei Vermeidung gewisser Rechtsnachteile geboten3.32, zeigten später, wie verständig dieses Vorgehen gewesen ist.
Auch sonst hat die LGO. trotz mancher ungesunder, von der Reichsgesetzgebung übernommener Grundgedanken — es sei nur erinnert an die Häufung der Eide und an das Versäumnisverfahren — doch manchen der in W. Ldr., I, S. 150ff. aufgezählten Mißbräuche beseitigt, auch manchen anderen Vorteil gebracht, wie z.B. ein geordnetes Kostenfestsetzungsverfahren und die Einsetzung eines ständigen Gerichtsschreibers.
Schließlich hat die LGO. gewiß auch viele örtliche Verschiedenheiten des Verfahrens beseitigt. Nur das Gogericht auf dem Desum und seine Untergerichte erhielten [Seite 333 [Seite: 333]] 1578 auf unablässiges Bitten der Eingesessenen eine besondere "Vechtische Gerichtsordnung"3.33, die von der LGO. allerdings nur in der Gerichtsverfassung, aber nicht im Verfahren abweicht.
Für die Rechtsentwicklung des Stiftes bedeutet die LGO. den Anbruch der Neuzeit. An die Stelle der niederdeutschen tritt die hochdeutsche Sprache. Das Volksgericht wird von dem sich zum Staate ausbauenden fürstbischöflichen Territorium unter seine Fittiche genommen und teilt mit ihm Licht und Schatten. Zwar ist für vieles jetzt besser gesorgt, aber es ist auch der selbstbewußte, harte und freie Sinn zum guten Teil verloren gegangen. Wie ein Symbol mutet es an, zu lesen, daß das Gericht nicht mehr unter freiem Himmel, sondern in der Ratsstube stattfinden soll, "damit alle gerichtshandel und der Partheyen notturfft desto bestendiger und bequemer auffgeschrieben, registriert und bedacht werden möge" (2 I, Abs. 3). Früher hatte man die Unbilden der Witterung nicht gescheut, um dem Gedanken des offenen, freien Gerichtes Ausdruck zu geben3.34; nun fordern Schreibwerk und Aktenwesen gebieterisch den geschlossenen, das heißt überdeckten Raum. [Seite 334 [Seite: 334]]
Ehe gesondert für das Prozeß- und das materielle Recht untersucht werden soll, welche Umstände die Aufnahme des römischen Rechtes gefördert oder gehemmt haben, mögen zunächst allgemein die dem Fremdrechte günstigen Bewegungen im Stift Münster kurz nachgewiesen werden.
Wie die anderen Territorien, so hat auch Münster nicht gesäumt, seine Söhne schon früh an die Universitäten zu senden und Jurisprudenz studieren zu lassen. Bei den regen Beziehungen zwischen Münster und Köln4.1, sowie bei der eifrigen Pflege, die das römische Recht schon früh in Köln fand4.2, lag es nahe, daß viele junge Münsteraner dorthin gingen, um das neue Recht zu erlernen. So sehen wir, daß in den Jahren 1389-1466 im ganzen 77 Stiftseingesessene, deren Namen nach Keussen4.3 in der Anlage A aufgezählt sind, in Köln jura oder leges studiert haben. Ferner erfahren wir, daß in den Jahren 1466 bis 1559 aus den Städten Bocholt, Emden, Coesfeld, Münster und Warendorf im ganzen 672 Studenten in [Seite 335 [Seite: 335]] Köln immatrikuliert waren, wovon 119 ad jura, 4 ad leges.4.4 Diese Zahlen sind bei weitem nicht als vollständig anzusehen, denn zunächst sind alle stud. decr. oder can. weggelassen, von denen auch wohl noch viele leges studiert haben mögen. Weiter sind in der Matrikel viele Münsteraner ohne Fakultätsbezeichnung und viele Juristen oder Legisten ohne Heimatsbezeichnung aufgeführt, weshalb sicher eine große Anzahl münsterischer Juristen und Legisten in dem Verzeichnis der Anlage A fehlt. Erwägt man dazu noch, daß manche Juristen sich zunächst in der artistischen Fakultät eintragen ließen, wie z.B. im Jahre 1450 der Tute oder 1445 der Joh. von Münster, so muß man die Zahl der Münsteraner, die in Köln juristische Bildung genossen haben, als sehr groß annehmen. Daß nicht nur die als Legisten Bezeichneten, sondern auch ein großer Prozentsatz der einfach als Juristen Genannten das weltliche Recht studiert haben, ersieht man aus der großen Zahl der leges dozierenden Professoren.4.5
Unter Bischof Johann von Hoya wurde der Verkehr mit der Kölner Juristenfakultät noch reger. Der erste Advokat bei dem Hofgericht in Münster, Johannes Havik-Horstius4.6, war 1564 als lic. jur. Rektor der Universität in Köln gewesen.4.7 Als Johann Beisitzer für sein Hofgericht suchte, wandte er sich gleichfalls nach Köln. Die darüber gepflogene Korrespondenz ist teilweise erhalten.4.8 Aus Köln stammt auch das Gutachten des Professor Tossanus und des lic. Gierlich W.-Ldr. I, S.121f. [Seite 336 [Seite: 336]]
Indes nicht nur nach Köln führten die nachbarlichen Beziehungen junge Westfalen zum Rechtsstudium. Auch die berühmte Rechtsschule von Bologna zählte unter ihren Studierenden Söhne der roten Erde.
In der Anlage B sind die Namen derjenigen Münsteraner bezw. Westfalen genannt, die in den Jahren 1289-1368 in Bologna immatrikuliert worden sind. Ihre Zahl beträgt 20. In der späteren Zeit finden wir dort keine westfälischen Studenten mehr; diese besuchten jetzt nur mehr die deutschen Universitäten.
Die Namen derjenigen Westfalen, die in Erfurt, Heidelberg, Marburg und Wittenberg immatrikuliert gewesen sind, hat Heldmann4.9 zusammengestellt. Unter diesen befinden sich etwa 130 Stiftseingesessene, die in den Jahren 1392-1543 in Erfurt, 25, die in der Zeit von 1386-1553 in Heidelberg, 45, die in den Jahren 1527-1585 in Marburg, 52, die in der Zeit von 1502-1590 in Wittenberg immatrikuliert waren. Diese Zahlen sind viel zu niedrig angesetzt, da einmal sämtliche bloß als Westfalen Bezeichneten nicht mitgezählt worden sind, ferner das Niederstift als nicht zu Westfalen gehörig von Heldmann nicht berücksichtigt worden ist.
Die Beziehungen Münsters zu sämtlichen Universitäten zu untersuchen, würde zu weit führen; einige Stichproben werden genügen. Diese ergaben, daß 1409-1419 in Leipzig 10 Stiftseingesessene immatrikuliert waren, 1495-1560 in Bonn 13, 1511-1656 in Perugia zwei.4.10 Auch diese Zahlen dürften jedoch wegen der mangelhaften Heimatsbezeichnung wohl viel zu gering sein.
Infolge seiner Lage war Münster besonders dem Einflusse Hollands ausgesetzt. Drum ist auch sicher mancher [Seite 337 [Seite: 337]] Münsteraner nach Löwen gezogen, wo der erste Rektor der Universität, im Jahre 1429, ein Kölner Legist war, oder nach Leiden, wo Donellus im Jahre 1576 römisches Recht las.4.11
Die Untersuchung darüber, welche Stellungen die westfälischen Jünger des römischen Rechtes im Stift eingenommen haben, darf sich nicht auf die Leute mit dem Doktor- oder Lizentiatentitel beschränken. Nach den sorgfältigen Angaben in der Kölner Matrikel muß nämlich angenommen werden, daß es nur ein nicht allzu großer Teil der Studenten zu einem akademischen Grad gebracht hat.
Während die geistlichen Gerichte naturgemäß vorwiegend mit Kanonisten besetzt waren, fanden die Legisten, vor allem die Doktoren, gute Stellungen in der Verwaltung. Der gewiß nicht unbeträchtliche Rest der Juristen muß dann wohl in den Gogerichten verwandt worden sein. So sehen wir z.B. im Jahre 1553 einen lic. Averdunk als Richter in Recklinghausen4.12, 1584 einen gewissen Graminetus, der Rechten lic., als Gograf an dem Stuhl von Sandwell.4.13 Weiter findet sich zum Jahre 1570 ein Th. Ernest Wenner, jur. utr. Dr., als eines Münsterischen Domkapitels Gograf erwähnt.4.14 Im 17. Jahrhundert waren fast sämtliche Gografen graduiert.
Erwägt man dann, daß der erste Hofrichter des neu errichteten Hofgerichtes, Engelbert von Langen, der berufen war, über zwei Doktoren den Vorsitz zu führen, vorher einfacher Gograf an einem Untergericht4.15 gewesen war4.16, daß ferner mehrere Gografen Adelige waren, bei denen die Neigung zum Besuch der Universitäten stets sehr groß gewesen [Seite 338 [Seite: 338]] ist, so kann man als gewiß annehmen, daß mancher Gograf römischrechtliche Kenntnisse besessen hat.
Aus dem Satz der Hofgerichtsordnung 1 IV, daß die Advokaten Doktoren oder Lizentiaten sein müssen, läßt sich schließen, daß schon früher studierte Advokaten die Parteien außerhalb des Prozesses beraten und den Vorsprechen fremdrechtliche prozessuale Einreden angegeben haben, wie wir sie z.B. in einigen ungedruckten Höltingsakten4.17 finden.
Doch die Universitäten waren nicht der einzige Weg zur Erlernung des römischen Rechtes. In Münster wurde 1498 die bekannte Humanistenschule gegründet, die sich auch mit der Pflege der Rechtswissenschaft abgab.4.18 In Osnabrück studierte man zur Zeit Bischof Johanns an den Stifts-, Stadt- und Klosterschulen neben Theologie, Scholastik und Dialektik auch Jurisprudenz. Der Kanonikus Gresel legte sogar denjenigen, die an seinem Stipendium teilnehmen wollten, die Pflicht auf, in Osnabrück Vorlesungen über die Institutionen zu halten.4.19 Noch größeren Vorschub leisteten die humanistischen Anstalten dem römischen Recht durch weite Verbreitung der lateinischen Sprachkenntnisse. So lesen wir von dem Gografen von Bevergern4.20, er sei "tom dele congruus in latine" gewesen, ein anderer prunkt damit, daß er die vierte Klasse besucht habe. Von den Gografen von Aschendorf und Haren heißt es4.21, sie seien "temelich gelehrte gesellen na dieser landardt".
Über den Bildungsstand der Notarien geben uns die seit 1571 geführten Notariatsregister4.22 guten Aufschluß. Die meisten von ihnen nennen sich Kleriker4.23, was ein [Seite 339 [Seite: 339]] Universitätsstudium vermuten läßt, fast alle schreiben lateinisch, einer trägt sogar zum Beweise seiner Rechtskenntnisse eine lateinische Definition der stipulatio in das Register ein. Da sie durch den Offizial und Siegler oder die Ordinari-Hofrichter und Beisitzer geprüft wurden4.24, die doch sämtlich Romanisten waren, so dürfen wir bei ihnen wohl als Mindestbildung Kenntnis des Lateinischen und eine praktische Ausbildung, vielleicht auch Erlernung der Notariatskunst an einer Universität, annehmen.
Wer aber die lateinische Sprache beherrschte, der konnte auch ohne Universitätsbesuch sich eine gewisse, natürlich nicht allzu tiefe Kenntnis des römischen Rechtes durch eigenes Studium aneignen. Wie verbreitet die lateinischen Rechtsbücher waren, können wir vermuten nach den Angaben Küsters4.25 über bedeutende juristische Büchereien, die sich im 16. Jahrhundert in Münster befanden: besonders die von Schelversche, die des Hofgerichtsassessors lic. utr. jur. Michael Tegeder und die des Domdechanten G. von Raesfeld.
Schließlich konnte man auch ohne Kenntnis des Lateinischen das fremde Recht aus der populären Literatur kennen lernen. Gobler, ein vielgenannter Schriftsteller auf diesem Gebiete, war im Jahre 1546 Kanzler des Bischofs von Münster. Die naheliegende Vermutung, daß seine Werke im Stift sehr verbreitet waren, wird bestätigt durch ein Exemplar des "Rechten-Spiegel"4.26, das laut Inschrift einem Gerichtsschreiber in Warendorf gehört hat. Ein in Osnabrück befindliches Exemplar der LGO.4.27 ist zusammengebunden mit der Schrift eines Dr. jur. Lersener: "Ob es [Seite 340 [Seite: 340]] besser sey, nach gewissenen beschriebenen ... Rechten ... oder nach eigener Vernunft ... zu urtheylen", Frankfurt 1595. Darin wird ganz naiv das geschriebene Recht dem römischen gleichgesetzt und dessen unbestreitbare Vorzüge allein dem letzteren zugerechnet. Der Sachsenspiegel wird mit folgenden Worten abgetan: "Wann auch Herr Eck von Repkaw das Kleydt, damit sein Sachs angezogen ist, wider abziehen und es den Röm. Keyser Rechten, darauß es genommen, wider folgen lassen solte, wie gar bloß ungestalt würde es doch stehen? Es haben wol auch andere Länder und Stätt ihre besondere Rechte, worauß aber sein die genommen, dann auß dem Zeughauß der Röm. Rechten?"
Alsdann führt Lersener — recht bezeichnend — an der Hand der zehn Gebote die Vorteile des römischen Rechtes aus, ohne natürlich die entsprechenden deutschen Rechtsgedanken auch nur zu erwähnen. Wäre es zu verwundern gewesen, wenn das Volk, die Schöffen und Richter sich hierdurch hätten gewinnen lassen?
Zahlreich waren also die Wege, auf denen das fremde Recht in die Gerichte eindringen konnte.
Das eben Ausgeführte bietet noch keine ausreichende Erklärung für die Frage: Wie kommt es, daß die Stände, die wir bei der Entstehungsgeschichte der LGO. als gut deutschrechtlich gesinnt erkannt haben, zu dem romanisierten Prozeß ihre Zustimmung gaben?
Zunächst ist hierbei zu beachten, daß Laien auf dem Gebiete des Prozeßrechtes nicht so wie im materiellen Recht die Tragweite der einzelnen Bestimmungen absehen können, daß sie bei äußerlicher Ähnlichkeit die oft völlig verschiedenen zugrunde liegenden Prinzipien nicht erkennen. Wie wir schon bei dem Bericht der Burgmänner von Vechta4.28 und an anderen Stellen betonten, wies das neue [Seite 341 [Seite: 341]] Verfahren so viele Ähnlichkeiten mit dem alten auf, daß die nicht juristisch gebildeten Mitglieder der Stände die fundamentalen Unterschiede zwischen beiden gewiß nicht in ihrem ganzen Umfange erkannt haben. Dazu kam, daß man stets Anknüpfungspunkte an das alte Recht gesucht hatte, indem man z.B. die Schöffen auch Kurgenossen, den Richter auch Gograf nannte, daß man nach Möglichkeit die lateinischen Ausdrücke verdeutscht hatte4.29, wie z.B. litis contestatio in Kriegsbefestigung, daß man auch den Fürsprechen anbefahl, sich stets der deutschen Sprache zu bedienen (1 V, Abs. 2). Durch alles dieses wurde der Übergang natürlich sehr erleichtert.
Daneben enthielt die LGO. aber auch noch sehr viel kerndeutsches Recht, wie z.B. die Einrichtung des Godinges, die in den Nachbargebieten schon lange eingeführte Schöffenverfassung, die Gliederung des Prozesses in drei Abschnitte und außerdem manche Einzelbestimmung. Andere Vorschriften der LGO. waren nur Weiterentwicklungen der alten Formen; so hatte man schon früher neben dem Eid mit Zeugen den einfachen Zeugenbeweis gekannt, man war schon gewohnheitsmäßig zur teilweisen Schriftlichkeit des Verfahrens gekommen, die Eventualmaxime hatte ihre Anfänge schon im alten Prozeß, ja selbst der so völlig undeutsch anmutende Kalumnieneid fand eine Parallelle im Sachsenspiegel, wo von dem Schelter der Eid verlangt werden konnte, daß er nur um des Rechtes willen und nicht aus Verzögerungsabsicht das Urteil schelte.4.30 Schließlich ließen zahlreiche Mängel, z.B. bezüglich der Ladung oder der Gerichtskosten4.31, die sich auch ohne Änderung des ganzen Verfahrens hätten beseitigen lassen, die LGO. als einen bedeutenden Fortschritt erscheinen. [Seite 342 [Seite: 342]]
Im Zuge der Zeit lag es, daß man dem Landesherrn eine immer größer werdende Machtbefugnis zuerkannte. Gewohnheitsmäßig hatte der Bischof das Recht erworben, das Urteil eines Gogerichtes aufzuheben, wenn eine Partei sich an die fürstliche Kammer wandte.4.32 Nach der LGO. hatten die Parteien ein Recht auf das, was ihnen bisher als Gnade gewährt worden war, nämlich auf die Appellation. Eine weitere Stärkung der Gerichtsgewalt des Bischofs bestand darin, daß die LGO. die Wahl der Schöffen durch den Stuhlherrn — dies war bei den meisten Gogerichten der Bischof — vornehmen ließ4.33, daß sie die Stellung des von ihm abhängigen Richters erhöhte, daß sie ihm auch das Recht gab, die Schöffen "auß redlichen Ursachen" wieder abzusetzen. Der Übergang vom Volksgericht zum Staatsgericht war eine Folge der gesamten Zeitverhältnisse, nicht erst ein Produkt der Rezeption. Darum ist es auch nicht zu verwundern, daß der sonst ganz absolutistisch gesinnte Bischof auf die Reform, die doch zweifellos in romanistischem Sinne erfolgen mußte, kein so großes Gewicht legte wie die Stände. Er erwartete offenbar von dem römischen Recht nicht mehr an Macht, als er schon besaß. Aus dem Landtagsabschiede vom 14. Mai 15674.34 ersehen wir, daß die Anregung zur Reform von den Ständen ausgegangen ist. Der Bischof erklärte sich wohl bereit, den wiederholten Bitten der Stände nachzugeben, daß er aber nicht mit derselben Freude wie sonstige Reorganisationen auch diese in die Hand nahm, ersieht man aus dem Memorial der Hofräte4.35, wo es heißt, daß "I.f.G. des Justizienwerks Reformation als ein hochnotwendigkeit nit widerachten". Auch in der Proposition zum Landtag vom April 1569 heißt es, daß trotz der fleißigen Bitten der Stände "biß daher [Seite 343 [Seite: 343]] ein jeder abscheuens davon gehapt, sich dessen zu unterwinden".
Daß die Stände nicht allein durch die Mängel des alten Verfahrens veranlaßt wurden, so dringend um die neue Gerichtsordnung zu bitten, kann man aus der Vorrede zur Kölner Reformation entnehmen. Dort wird die Notwendigkeit der Reform unter anderem damit begründet, daß "die Partheien, so die Sachen durch Appellation an uns oder das Keyserlich Chammergericht erwachsen, von wegen der untüchlichkeit und nichtigkeit der prozessen, in nit geringe beschwerniß gefürt werden". Da zu vermuten ist, daß die bischöfliche Kammer, an die vor 1571 die Appellation ging, und das Kammergericht die Prozesse dann stets als nichtig aufgehoben haben, wenn sie nicht den Vorschriften des gemeinen oder des Reichsrechtes entsprachen, so war damit ein Übelstand geschaffen, der dringend der Abhilfe bedurfte. Eine deutschrechtliche Wissenschaft gab es nicht; man war darum nicht in der Lage, ein System des deutschen Prozeßrechtes aufzustellen, das in den Augen der Kammerrichter Gnade gefunden hätte. Was lag da näher, als daß der Bischof, der selbst Präsident am Kammergericht gewesen war, durch seinen Kanzler Dr. Steck eine Ordnung verfassen ließ, die sich im wesentlichen an die Reichsgesetzgebung anschloß? Daß diese mehr deutsches Recht enthalten würde, als tatsächlich der Fall ist, konnten die Stände unter diesen Umständen nicht erwarten. Auch war man schon durch die Karolina an manche Einzelheiten des neuen Verfahrens, wie die Schöffen, die Artikelform, den Zeugenbeweis gewöhnt worden.
Als Resultat ergibt sich, daß man keineswegs von einem Bankerott des deutschen Prozesses reden kann. Er hatte gewiß seine Mängel, aber er zeigte sich auch sehr entwicklungsfähig. Hätte die Entwicklung ihren ruhigen Lauf nehmen können, so wäre er gewiß auf eine ebenso hohe Stufe gelangt, wie der gemeine Prozeß. Beweis dafür [Seite 344 [Seite: 344]] ist seine Ausbildung bei den Brandenburger und Magdeburger Schöffenstühlen.
Hatten wir es bei der Rezeption des Prozeßrechtes mit einem leicht zu übersehenden gesetzgeberischen Vorgange zu tun, so läßt sich die Aufnahme des materiellen römischen Rechtes, die in unscheinbaren Einzelakten vor sich ging, nur schwer nach Zeit und Umfang nachweisen.
Auch für Münster gilt, was Stölzel neuerdings4.36 ausgesprochen hat: "Nirgends ist ein Gesetz gegeben, das die Aufnahme des römischen Rechtes von einem bestimmten Tage ab ausspricht, ja, es gibt selbst kein deutsches Gesetz, das generell ausspricht: überall da, wo kein Landesrecht entgegensteht, soll römisches Recht subsidiär gelten".
Wohl müssen nach der Hofgerichtsordnung Hofrichter und Beisitzer schwören (1 III): "zu richten nach gemeinen beschriebenen Rechten, deß heiligen Reichs Constitutionen und Abschieden, diesen, und anderen Ehrbaren guten Ordnungen, Statuten, und gewonheiten, so vor sie bracht werden"; in der LGO. 1 I heißt es aber, daß Richter und Schöffen nur "der Peinlichen Halßgerichtsordnung, und sonst des Stiffts wohlherbrachter gebrauch, gewonheiten und gerechtigkeiten zur nothturfft erfahren" sein müssen.
Diese beiden Bestimmungen erläutern trefflich die laxe Auffassung der damaligen Zeit über die Verbindlichkeit des geschriebenen Rechtes, eine Auffassung, die dem deutschen Recht wie dem von Scholastik durchtränkten gemeinen Recht in gleicher Weise zu eigen war. Wie das Volk aus seinem naiven Rechtsbewußtsein4.37, so schöpften die Romanisten ihr [Seite 345 [Seite: 345]] Recht vorzugsweise aus den Definitionen und Distinktionen des Bartolus und Baldus.4.38 Das jus positivum ist beiden nur "ein zusatz und gehülff des natürlichen Rechtens".4.39 Bei der Rechtsprechung wurde darauf geachtet, daß die gefällten Urteile nicht nur "dem Landgeprauch wie gleichfalß den gemeinen beschribenen Rechten", sondern "auch natürlicher Pilligkeit äinlich", wie es in einem Rechtsgutachten von 16194.40 wiederholt heißt. Hält man sich diese Auffassung stets gewärtig, so wird man besser erkennen, welche Umstände die Einführung des Fremdrechtes gefördert oder gehindert haben.
Wenig Bedeutung hatte das Bewußtsein, daß der Kaiser der Nachfolger der römischen Cäsaren sei; denn wie man eine Privatarbeit, den Sachsenspiegel, ebenso hoch stellte wie die Gesetze des Reiches oder Landes, so machte es auch nur wenig Unterschied, ob das Fremdrecht die kaiserliche Autorität für sich hatte oder nicht.
Sehr bedeutend war dagegen der Einfluß der romanistisch geschulten Richter und Anwälte. Infolge der Anschauung, daß alles Recht zur Findung eines guten Urteils nützlich sein könne, falls es nur natürlicher Billigkeit entspreche, stand der Heranziehung des römischen Rechtes nichts im Wege. Indem die Landgerichtsordnung auch bei den Gerichten erster Instanz das schriftliche Verfahren einführte, ermöglichte sie eine tiefgehende Beeinflussung der Richter und Schöffen durch Schriftsätze, welche die Parteien bei den gelehrten Juristen anfertigen ließen. Dazu [Seite 346 [Seite: 346]] kam, daß naturgemäß auch die Gerichte ihre Rechtsbelehrung gern bei den Romanisten einholten. Eine solche wurde aber nicht allein für den gerade vorliegenden Fall gegeben, sondern so abgefaßt, daß sie auch für ähnliche Fälle als Vorlage benutzt werden konnte.4.41
Von großer Wichtigkeit war es auch, daß im 16. Jahrhundert die Appellation aufkam, welche an die fürstliche Kammer, später in der Regel an das Hofgericht ging.4.42 Dieses war mit zwei Doktoren und zwei bis vier Räten oder Gelehrten besetzt und kannte nur Doktoren oder Lizentiaten als Advokaten.4.43
Wie groß der Einfluß des Hofgerichts und weiterhin des Reichskammergerichts auf das materielle Recht gewesen sein muß, läßt sich leicht ermessen; denn wenn einmal ein dem gemeinen Recht widersprechendes Urteil als dem natürlichen Recht zuwider aufgehoben worden war, so sah sich der Unterrichter gezwungen, das nächste Mal nicht mehr nach deutschem, sondern nach gemeinem Recht zu urteilen.
Bei den engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche wie auch zwischen dem gemeinen Recht und der Scholastik ist es klar, daß römische Rechtsgedanken durch die geistlichen Gerichte weite Verbreitung fanden, und zwar um so mehr, als der Archidiakon stets bestrebt war, den Kreis der ihm zustehenden Gerichtsbarkeit zu vergrößern. Dies können wir ersehen aus dem Bericht des Richters von Sendenhorst vom Jahre 15714.44, worin er sich beschwert, "daß der her officiael des geistligen hoveß zu Munster den burgern binnen Sendenhorst mit inhibitionis, cassationis, penalitatis mandatis ... bemoiet und daß man unangesehen furgebrachten dokumenten preventionis selden Sachen an [Seite 347 [Seite: 347]] sein befollen gericht ... kann remittiert krigen". Noch deutlicher erkennen wir die wachsende Macht der geistlichen Gerichte, wenn wir vergleichen die Bestimmungen des im Jahre 1576 zwischen dem Domkapitel und der Regierung des Stifts Münster geschlossenen Vertrages4.45 und die einer Handschrift der constitutio Ernestina (um 1585 erlassen) entnommenen "Casus et puncta, in quibus D.D. Archidiaconorum Jurisdictio partim de jure, partim de consuetudine, partim ex privilegio fundata est".4.46
Dem äußerlichen Unterschiede zwischen beiden — letztere zählen im ganzen 90, ersterer nur 13 Punkte — entspricht der innere. Die gewiß zum größten Teil auf Gewohnheitsrecht beruhenden casus et puncta boten dem Archidiakon reichlich Gelegenheit, in das bürgerliche Recht einzugreifen. So konnte sich z.B. bei Nr. 16 (si quis mortuorum testamenta vel ultimas voluntates supprimat vel occultet) die Frage erheben, wann ein rechtsgültiger letzter Wille vorliege; bei Nr. 20 (si qui foenus aut usuras exerceant) konnte zur Erörterung kommen, inwieweit ein Rentenkauf gegen die kanonischen Zinsverbote verstoße. Sehr auffallend ist Nr. 88: Si ii, quos certa in pagis officia vulgo Bauer-Richter aliaque ad pium usum quovis modo spectantia obire, ratione praediorum aut alias ab antiquo decet, illa acceptare et incumbentia eidem onera praestare detrectent.
Daß sämtliche Mitglieder der geistlichen Gerichte akademische Bildung genossen haben, dürfen wir ohne weiteres annehmen. War doch schon im Jahre 1303 vom münsterischen Domkapitel verordnet worden, daß kein Kanoniker rezipiert werden würde, der nicht in Bologna, Paris oder einer anderen Universitätsstadt Frankreichs oder der Lombardei ein Jahr lang studiert hätte.4.47 [Seite 348 [Seite: 348]] Daß die geistlichen Gerichte auch sonst mit den Universitäten in engen Beziehungen gestanden haben, ist sehr wahrscheinlich. Im Jahre 1439 schlossen z.B. die Augustiner zu Bödeken mit dem Dompropste von Paderborn einen Kompromiß, wodurch sie sich in einem Streit über Sendhafer dem Ausspruche des Domkapitels unterwarfen, aber die Bedingung hinzufügten, daß zuvor das Gutachten der Juristenfakultät zu Köln oder Erfurt einzuholen sei. Tatsächlich wurde auch die Fakultät in Erfurt deswegen angegangen.4.48
Alle Umstände waren also danach angetan, dem römischen Rechte zum Durchbruch zu verhelfen, so daß man annehmen sollte, es habe alle Gerichte überschwemmt, das heimische Recht ganz vernichtet. Tatsächlich läßt sich aber ein Eindringen des fremden Rechtes nur in mäßigem Umfange feststellen.
Die Grundlage der Verfassung des Stifts, das Privilegium patriae, blieb bei seiner Erneuerung im Jahre 15704.49 rein deutsch, ausgenommen die eine Bestimmung, daß es für die feuda extra curtem "nach dem Buchstaben gemeiner beschriebenen Lehnrecht gehalten werden soll".
Einflüsse des römischen Privatrechts treten in den zahlreich erhaltenen Landurteilen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts4.50 fast nicht zutage. Auch in den wenigen bislang veröffentlichten Privaturkunden aus dem 16. Jahrhundert4.51 wie in den "Gohdings-Artikeln" des Domkapitels von 17154.52 findet sich nur deutsches Recht.
Während im Herzogtum Westfalen das römische Dotalrecht [Seite 349 [Seite: 349]] eingeführt wurde4.53, blieb noch bis zum 1. Januar 1900 in Münster das System der allgemeinen Gütergemeinschaft in Geltung.4.54 Auch das Recht auf das Heergewäte und die Gerade erhielten sich sehr lange. In den Ämtern Vechta und Kloppenburg wurde es erst am 28. November 1716 durch den Bischof ausdrücklich aufgehoben.4.55
Die am 18. Januar 1592 erlassene, im Jahre 1742 revidierte Polizeiordnung der Stadt Münster4.56 ordnete in den Kapiteln VI und IX das Erb- und Vormundschaftsrecht in vorwiegend deutschem Sinne; nur das Beneficium inventarii wurde dem gemeinen Recht entnommen. Formale Erleichterungen, die das römische Recht für Verfügungen von Todeswegen zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern kannte, wurden dagegen ausdrücklich abgelehnt. Schon die gemeine münsterische Landordnung von 15714.57 hatte bestimmt, daß die Vormundschaft nicht, wie nach römischem Recht, schon mit dem 12. bezw. 14. Lebensjahre endigen, sondern "nach gelegenheit dieser Landtsart" bis zum 17. bezw. 20. Lebensjahre dauern sollte. Die Polizeiordnung von 1592 trug auch den alten Anschauungen über die Obervormundschaft der Sippe nach Möglichkeit Rechnung.4.58
Im Jahre 1725 erging eine Verordnung4.59, wonach beim [Seite 350 [Seite: 350]] geistlichen Hofgericht der bis dahin in lateinischer Sprache geführte Prozeß in causis civilibus künftig in der den Untertanen verständlichen deutschen Sprache gehalten werden solle.
Die Münsterische (Leib-)Eigentums-Ordnung von 17704.60 und die Münsterische Erbpacht-Ordnung von 17834.61 enthalten beide kein römisches Recht. Erstere betont ausdrücklich in der Vorrede, daß "von dem Jure civili Romano kein sonderlicher Gebrauch zu machen wäre wegen des großen Unterschiedes zwischen der ehemaligen römischen Dienstbarkeit und dem gegenwärtigen Zustande der Leibeigenschaft". Welches Recht subsidiär im Stift galt, sehen wir aus einem Bericht, den das münsterische Hofgericht im Jahre 1802 an die preußische Organisationskommission erstattete.4.62 Darin heißt es:
"Wenn in allen vorgemeldeten Landesverordnungen über die zu entscheidende Frage nichts entschieden ist, auch kein rechtsbeständiges Herkommen oder Gewohnheit, welche Gesetzes Kraft hat, vorgebracht und erwiesen wird, so dient das allgemeine deutsche Recht und die Reichskonstitutionen oder Abschiede zur Entscheidung." Da die LGO. noch im Jahre 1802 galt, so steht zu vermuten, daß unter dem "Gewohnheitsrecht, welches Gesetzes Kraft hat", die kodifizierten Erkenntnisse der Godinge zu verstehen sind, die nach LGO. 2 II "für ein Landtrecht publiziert und gehalten werden sollen". Weiter heißt es in dem Bericht:
"Wenn aber diese dazu nicht ausreichen, so dient das Jus Canonicum und Civile Romanum zur Entscheidung." Es kann demnach von einer Aufnahme des materiellen römischen Rechtes nur in ganz beschränktem Umfange gesprochen werden. Mag auch, was hier nicht festgestellt werden kann, das Schuldrecht stärker von dem Fremdrecht [Seite 351 [Seite: 351]] beeinflußt, mag auch das gemeine Recht besonders in den höheren Gerichten zur Auslegung des eigenen Rechtes benutzt worden sein, im wesentlichen hat man im Stift Münster stets an dem eigenen Rechte festgehalten.
Wie ist es nun zu erklären, daß die Untergerichte so wacker dem anstürmenden römischen Recht standgehalten haben?
Eine Kodifikation des eigenen Rechtes hatte man nicht. Nur einzelne Landurteile waren gesammelt und um die Mitte des 16. Jahrhunderts systematisch geordnet worden. In Agrarsachen stand ein ziemlich einheitliches Gewohnheitsrecht zur Verfügung.4.63 Das Familien- und Erbrecht im Stift war dagegen sehr zersplittert, ein Zustand, der sich zwar später gebessert, aber doch in einzelnen Güterrechten bis in das 19. Jahrhundert4.64, ja, im Anerbenrecht (teils Minorat4.65, teils Majorat4.66) bis in das 20. Jahrhundert hinein erhalten hat.
Das gemeine Sachsenrecht, dessen Widerstandskraft gegen das römische Recht sehr groß war, galt in Münster nicht. Zwar finden wir im westfälischen Landrecht einige Anklänge an den Sachsenspiegel4.67, davon aber, daß er "in allen Gerichten Norddeutschlands als Gesetz rezipiert worden sei"4.68, ist im Stift nichts zu merken.4.69 Darum vermissen wir hier auch den starken Schutz, den das Sachsenrecht in anderen Territorien an seinen Oberhöfen fand.
Auch der Hinweis auf die vorwiegend bäuerlichen Verhältnisse des Münsterlandes genügt nicht allein zur Erklärung für die Zähigkeit des heimischen Rechtes, denn [Seite 352 [Seite: 352]] gerade auf dem flachen Lande drang, wie selbst Stobbe4.70 zugeben muß, das römische Recht früher ein als in den Städten.
Der Grund der Nichtrezeption ist der, daß im Stift Münster noch ein starkes Rechtsbewußtsein, ein festüberliefertes Gewohnheitsrecht lebte, als der Zusammenprall der beiden Rechtsanschauungen erfolgte. Die Kodifikationen, die sich in den meisten deutschen Territorien unter dem Einflüsse der romanistischen Rechtsprechung und dem Verlangen nach geschriebenem Recht vollzogen, zeigen deutlich, wie sehr dort das heimische Recht dem Gedächtnis der Massen entschwunden war.4.71 Ganz anders in Münster! Zwar schlugen die Hofräte in ihrem Memorial von 15674.72 vor, die "guten alten Gewohnheiten" zu kodifizieren, die Stände scheinen aber nach hartnäckigem Kampfe4.73 diesen Vorschlag abgelehnt zu haben. Von einer Aufzeichnung ist weiter keine Rede, dafür finden w ir aber in der LGO. 2 II die Bestimmu ngen über das Goding, wonach künftig die Landurteile "in ein Ordnung gebracht und folgends für ein Landtrecht der Ort publizieret und gehalten werden sollen". Man sah ein, daß zu einer sofortigen Kodifikation das schwer zu fassende Gewohnheitsrecht nicht genügte und daß man zu seiner Ergänzung viel römisches Recht hätte heranziehen müssen. Es beweist einen hohen Grad der Selbstzucht, daß man, um den Wunsch nach Kodifizierung zu befriedigen, sich nicht dem römischen Recht in die Arme warf, sondern statt dessen den beschwerlicheren Weg der allmählichen Fixierung des Gewohnheitsrechtes einschlug. Als Vorbild mag hierbei das in den Städten schon lange üblich [Seite 353 [Seite: 353]] gewesene Verfahren zur Festsetzung der Statuten gedient haben.4.74
Natürlich war das heimische Recht dort, wo es aufgezeichnet war, um so widerstandsfähiger gegenüber dem römischen Recht, es diente aber auch zugleich dem Bedürfnis nach Rechtseinheit — ein Beweis dafür, daß eine Befriedigung dieses Bedürfnisses nicht bloß durch römisches Recht zu ermöglichen war. So fand das in der Münsterischen Polizeiordnung von 1592 enthaltene Güterrecht allmählich im größten Teile des Stifts Anwendung; so galten die Sandweller Urteile bis über das Stift Münster hinaus, z.B. in Herford als subsidiäres Recht.
Es ist noch darzustellen, wo das Rechtsbewußtsein sich zeigen konnte, wo die Quellen seiner Kraft waren. Vor allem war das Goding der rechte Hort des angestammten Rechtes. Hier hörten die Jungen, was ihre Altvorderen stets für Recht gehalten hatten, und ehrerbietig beugten sie sich dem alten Brauche. Steter Zusammenhang mit dem lebendigen Rechtsbewußtsein des Volkes, dieses selbst wieder genährt durch die häufige Anwesenheit bei Gericht und durch die Beratung der Urteilsfinder mit dem Umstande, eine natürliche Auslese der Tüchtigsten — dies waren ganz unbestreitbare Vorzüge des Godings. Und in der Tat finden wir oft dieselben durch Kenntnisse und Fähigkeiten hervorragenden Leute als Urteilsfinder oder Fürsprechen, die gefundenen Urteile sind knapp und klar abgefaßt, überall zeigt sich eine gesunde Anschauung, wir hören keine Klagen über schlechte oder ungerechte Urteile. Besser als in Schriften wurde im Bewußtsein des Volkes das kostbare Gut des eigenen Rechtes behütet4.75, und zwar nicht starr und [Seite 354 [Seite: 354]] unverändert, sondern durch stete Übung und Anwendung erneuert, bereichert und fortgebildet. Man hatte darum nicht nötig, etwaige Lücken durch römisches Recht auszufüllen.
Während andere Territorien ihr Sonderrecht nur insoweit vor dem Reichskammergericht geltend machen konnten, als es schriftlich aufgezeichnet war, konnten die Münsterländer über jedweden Rechtssatz einen Beweis in Gestalt eines Landurteils erbringen, wie es z.B. noch im Jahre 16634.76 geschah.
Auch noch nach ihrer Beschneidung durch die LGO. entfalteten die Godinge, vor allem am Sandweller Stuhl, eine rege Tätigkeit. Man gab Urteile nicht nur über "graben und zäunen, sähen und mähen, Wege und Stege, von Mißt- und Pfluggerechtigkeit", wie in der LGO. vorgeschrieben war, sondern auch über Erbrecht4.77, Tierhalter4.78, über Zehnte4.79 und Leibzucht.4.80 Die zahlreich erhaltenen Sammlungen der Sandweller Urteile, die sogar in einigen angrenzenden Gebieten als subsidiäres Recht galten4.81, zeigen die Bedeutung der Godinge für die Stärkung des deutschen Rechtes. Hier war noch eine starke, schöpferische Rechtskraft, welche die durch die LGO. ihr gezogenen Dämme immer wieder überflutete.
Wie lange die Godinge tätig gewesen sind, ist im einzelnen noch nicht festgestellt worden. Daß im Jahre 1619 am Stuhl zum Sandwell in einer Sitzung 13 Urteile allein über Triftgerechtigkeiten gefragt wurden4.82, zeigt, daß um diese Zeit noch dieses Goding viel angegangen wurde. Der Desumer Stuhl hielt noch bis zum Jahre 1622 regelmäßig die vier jährlichen Gerichtstage ab, später fanden nur mehr [Seite 355 [Seite: 355]] vereinzelte Sitzungen, aber allerdings bis zum Jahre 1803, statt.4.83
Die Schöffenverfassung war in vielen Gegenden Deutschlands in Verfall geraten, jedoch nicht überall. Schon Stölzel4.84 bemerkt, daß in Württemberg und Kur-Köln die Schöffengerichte sich sehr lange erhalten haben, und er sucht die Ursache hierfür in der unverständigen Gesetzgebung, "die ihre Zeit nicht verstand und die gesunden Bahnen außer Acht ließ". Sollte dies der wahre Grund dafür sein, daß noch nach der Rezeption in Köln, Geldern, Württemberg, Hannover, Kleve-Mark, Ravensberg, Krefeld Schöffen waren?4.85
Sollte dies der Grund dafür sein, daß die LGO., die doch den besten und modernsten Gesetzen nachgebildet war, die Schöffenverfassung völlig neu in Münster eingeführt hat? Gerade für das letztere gibt es nur die eine Erklärung, daß die Gesetzgebung mit dem kraftvollen Rechtssinn des Volkes rechnen mußte und durfte. Sie mußte es, weil das Volk sich nicht aus den Gerichten hinausdrängen lassen wollte, sie durfte es, weil die Schöffen sich stützen konnten auf eine ausgiebige und gut gepflegte Überlieferung. Gerade dasjenige, dessen Fehlen Sohm4.86 mit Recht als den Hauptgrund für den Verfall der Schöffengerichte in weiten Gebieten Deutschlands ansieht, der Konnex der Schöffen mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes war in Münster besonders stark ausgeprägt. Goding und Schöffengericht stützten und stärkten sich gegenseitig, und gewiß wurde niemand als Schöffe gewählt, der sich nicht schon im Goding hervorgetan und dadurch bewiesen hatte, daß er mit der Rechtsüberlieferung völlig vertraut war. Daher ist es denn auch [Seite 356 [Seite: 356]] nicht zu verwundern, daß bis ins 19. Jahrhundert hinein keine Klagen über schlechte Rechtsprechung gehört wurden.4.87
Den Romanisten waren diese rein deutschen Gerichte natürlich ein Dorn im Auge, und es ist köstlich, wie z.B. Gobler4.88 über sie schilt. Auf einem Bilde sehen wir eine Schöffensitzung dargestellt, im Hintergrunde verbrennt ein Mann die römischen Rechtsbücher. Darunter heißt es dann: "Zudem auch solche unbericht und ungeschicke Leut noch gemeynlich an ihnen den mangel haben, daß sie von andern sich nit underweisen lassen, sonder alles besser wissen wöllen".
Der beste Beweis für die Güte der Rechtsprechung ist der, daß im Stift Justiz und Verwaltung in den unteren Instanzen stets getrennt geblieben sind.4.89 Zwar sehen wir, daß der Amtmann oder Drost häufig Kornote oder später Schöffe im Gogericht ist, auch steht ihm ein Aufsichtsrecht über dieses zu, nie jedoch finden wir, daß die Parteien zum Amtmann gehen, um vor ihm ihre Streitigkeiten auszutragen, auch in der LGO. fehlte jede Andeutung für ein derartiges Güteverfahren. Deshalb behielten die Schöffengerichte auch ihre volle Bedeutung, und römisches Recht konnte nicht durch den Amtmann in das Volk und in die Rechtsprechung gebracht werden.
So sehen wir einen sich ständig wiederholenden Kreislauf: weil noch ein starkes Rechtsbewußtsein im Volke lebte, [Seite 357 [Seite: 357]] so büßten auch die alten deutschen Gerichtsformen nur wenig von ihrer Kraft ein, und es war kein Raum für ein außergerichtliches Verfahren vor dem Amtmann, keine Gelegenheit für das römische Recht, unbemerkt in die Rechtsprechung einzudringen. Weil aber Goding und Gogericht noch ihre volle Bedeutung hatten, so blieb das Volk in steter Übung und Erneuerung seiner Rechtskenntnisse. [Seite 358 [Seite: 358]]
(Die Zahlen bedeuten die Seiten.)
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