Das österreichische Landesrecht ist — wie bekannt — in zwei Redactionen überliefert, deren Grundcharakter von Siegel dahin festgestellt wurde, dass die kürzere Redaction das Recht gibt, wie es galt, die längere das Recht, wie es nach Absicht der Dienstmannen in Zukunft gelten sollte.1.1 Dieser Unterscheidung zwischen "Rechtsaufzeichnung" einerseits, "Entwurf" andererseits pflichtet auch v. Luschin bei, obwohl er den Entwurf nicht — ebenso wie die Aufzeichnung — mit Siegel in das Jahr 1237, sondern in das Jahr 1298 setzt.1.2 Auch wir halten im folgenden an diesen unterscheidenden Bezeichnungen fest.
Die Ueberlieferung der Rechtsaufzeichnung ist hier näher zu betrachten. Nach den bisherigen Forschungen sind von ihr vorhanden:1.3 1. eine Handschrift des Linzer Museum Francisco-Carolinum (zuerst abgedruckt von Meiller, im Archiv f. Kunde österr. Geschichtsquellen X, 148 ff.); 2. eine Handschrift der [Seite 2] Lübecker Stadtbibliothek; 3. eine Handschrift des Stiftes Hohenfurt. — Alle drei Handschriften stammen aus dem 15. Jahrhundert. 4. Die dem Drucke des Ludewig2.1 zu Grunde liegende Handschrift, welche bisher nicht aufgefunden wurde. — Hasenöhrl hat in seiner Ausgabe die Varianten aller dieser Texte ersichtlich gemacht.
Im niederösterreichischen Landesarchiv befindet sich nun eine weitere Handschrift des österreichischen Landesrechts in der Gestalt der Rechtsaufzeichnung. Diese Handschrift ist Herrn Hofrath Professor Dr. Heinrich Siegel bereits seit Jahrzehnten bekannt und eine Abschrift derselben in seinen Händen. Der Verfasser dieser Zeilen kann somit nicht das Verdienst der ersten Auffindung in Anspruch nehmen. Da er aber unabhängig davon bei seinen Archivstudien derselben Handschrift begegnete, und bisher nichts über sie in die Oeffentlichkeit drang, hält er sich durch diese Umstände für persönlich legitimirt, über die Handschrift zu berichten.
Ueber den Ursprung der Schönkirchnerbücher, dem der in Betracht kommende Codex angehört, meldet das Archivrepertorium: "Schönkirchen, Herr Hans Wilhelm von, Rath, Erbthürhüter in Oesterreich unter der Enns und im Niederösterreichischen Landesausschuss hatte diese Actenstücke gesammelt und selbe in 23 Bänden anno 1615 den Ständen angeboten; nach dessen Tod wurden sie durch ständischen Beschluss am 15. Mai 1653 dessen Söhnen um 2000 fl. abgekauft". Der in Frage kommende Band dieser Sammlung (34 Cm. hoch, 22 Cm. breit, 9 Cm. dick) ist in Leder gebunden und trägt die Archivbezeichnung "No. 27 Schönkirchnerbuch AA" am Rücken aufgeklebt. Eine durchlaufende Foliirung fehlt, weshalb dieselbe vom Verfasser besorgt wurde. Einschliesslich der unbeschriebenen zählt hienach der Band 514 Blätter. Dem Inhalte nach stellt er sich als Vereinigung von Concepten, Abschriften und einzelnen Originalien verschiedenen Inhalts dar, welche aus dem 16. und dem Anfange des 17. Jahrhunderts herrühren. Die Materien zusammengehörigen Inhalts sind — von einzelnen Unterbrechungen abgesehen — mit fortlaufenden [Seite 3] arabischen Zahlen numerirt, beginnend mit "3", schliessend mit "146".
Eine vollständige Anführung des bunten Inhalts würde zu viel Raum beanspruchen. Es genüge die Mittheilung, dass der Band mit Processacten aus dem 16. Jahrhundert beginnt, in weiterer Folge Landtagsacten aus dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, ferner Rechtsgutachten bringt, dann wieder Processacten und Privilegien der Stadt Wien betreffend die Durchfuhr ungarischer Weine; endlich nach weiteren Processacten eine Abschrift des Testaments der Freiin zu Völs, de dato 16. Januar 1595.
Hierauf folgt fol. 142a-152b unserer Foliirung mit der alten Bezeichnung "63" die Abschrift des österreichischen Landesrechtes, geschrieben von einer Hand des 16. oder 17. Jahrhunderts, beginnend mit den Worten: "Das sindt die Recht nach gewonnhait dess Lanndts bey Hertzog Leopoldten von Össtereich."
Die Materien, welche hierauf folgen und Folio 514 den Band schliessen, sind ebenso verschiedenen Inhalts, wie die vorangegangenen. Es sind abermals Rechtsgutachten, eine Abhandlung von Bernhard Walther über Gerichtsprocess v. J. 1552, Müller-, Bäcker-, Ungeld-, Fischerei-Ordnungen, Landtagsacten, Testamentsabschriften u. A. m. in bunter Folge.
Eine Vergleichung des Textes unserer Handschrift mit den in der Ausgabe Hasenöhrl's ersichtlichen Varianten der bisher bekannt gewordenen vier Texte der Rechtsaufzeichnung ergab die relativ grösste Uebereinstimmung unserer Handschrift mit dem Ludewig'schen Drucke. Fast alle unterscheidenden Merkmale dieses Druckes finden sich auch im Texte der Handschrift, insbesondere fast alle Abweichungen dieses Druckes von dem Texte der ihm sonst ähnlichsten Hohenfurter Handschrift.
Es wiederholen sich nämlich in unserer Handschrift fast alle Textauslassungen, welche dem Ludewig'schen Drucke eigenthümlich sind. Es sind dies die Textauslassungen in den §. (bei Ludewig a. O.) II, VI, XXXI, XXXVII, XXXVIII, XL, XLI, XLIV, L, LII, LVI; vgl. in der Ausgabe Hasenöhrl's die entsprechenden Artikel 2 (n. 8); 7 (n. 15); 40 (n. 12); 47 (n. 7); 49 (n. 5, 21); 50 (n. 13); 51 (n. 5); 55 (n. 11); 63 (n. 7, 9, 23); 65 (n. 19); 69 (n. 19). [Seite 4]
Es wiederholen sich ferner die wichtigsten sonstigen Abweichungen und sinnstörenden Fehler des Ludewig'schen Textes, wie sie Hasenöhrl bei den Artikeln 3 (n. 12, 16, 22, 27); 12 (n. 2); 13 (n. 2 und 8); 15 (n. 26); 21 (n. 14); 50 (n. 17); 55 (n. 6); 70 (n. 4) ersichtlich gemacht hat.
Wir fügen als Resultat eigener Vergleichung eine Reihe höchst bezeichnender Fehler der Handschrift hinzu, die im Drucke des Ludewig wiederkehren: Art. 27 bei Hasenöhrl: "hausgenossen" — hingegen bei Ludewig §. XIX und in der Handschrift: "namensgenossen"; Art. 28 bei Hasenöhrl: "mannen" — hingegen bei Ludewig §. XX und in der Handschrift: "namen"; Art. 39 bei Hasenöhrl: "an sein er redt" — hingegen bei Ludewig §. XXX und in unserer Handschrift: "an seiner redt"; Art. 44 bei Hasenöhrl: "die das lehen mit im ungetailet habent" — hingegen bei Ludewig §. XXXIV und in der Handschrift: "die mit dem leben ungetailet habent"; Art. 45 bei Hasenöhrl: "des behauster man er ist" — hingegen bei Ludewig §. XXXV: "des behauster männer ist"; Art. 62 bei Hasenöhrl: "niemant" — hingegen bei Ludewig §. XLIX und in der Handschrift: "nerzen"; schliesslich Art. 63 bei Hasenöhrl: "an wem der hanntfrid zeprochen wirt" — hingegen bei Ludewig §. L und in der Handschrift: "an schweren der hanntfrid zeprochen wirt".
Ergibt sich aus dieser Vergleichung eine grosse Uebereinstimmung unserer Handschrift mit dem Drucke des Ludewig, so zeigt andererseits diese Vergleichung beider Texte auch eine Reihe von Abweichungen: §. XII bei Ludewig (Art. 18 bei Hasenöhrl) heisst es: "zuziechen", in der Handschrift aber: "inziechen" —; §. XLV bei Ludewig (Art. 56 bei Hasenöhrl) heisst es: "damit im die münss nit gefelschet werde". Dieses "nit" fehlt aber in der Handschrift —; §. LIII bei Ludewig (Art. 66 n. 35 bei Hasenöhrl) heisst es "aigentlich", in der Handschrift aber: "aigenleuth".
Diese Abweichungen werden kaum so belangreich erscheinen, dass sie nicht — gleich andern, minder beträchtlichen — dem Abschreiber zugemuthet werden könnten. Die Hinzufügung des "nit" im §. XLV könnte freilich nur absichtlich geschehen sein.
Als wichtiger muss es gelten, dass an drei Stellen im Drucke Textauslassungen vorkommen, während die Handschrift [Seite 5] den betreffenden Text bringt. Es ist dies der Fall in den §. bei Ludewig: I (vgl. Hasenöhrl, Art. 1, n. 29), XIII (vgl. Hasenöhrl, Art. 20, n. 2) und LIII (vgl. Hasenöhrl, Art. 66, n. 44). Sollte unsere Handschrift dem Drucke zu Grunde gelegt sein, so wären diese Auslassungen nur durch ein grobes Versehen verständlich. Im Falle des §. LIII konnte das Versehen allerdings dadurch hervorgerufen sein, dass in der Handschrift die wiederkehrenden Worte "vatter" unter einander stehen, und der Blick um so leichter von der oberen zur unteren Zeile hinabgleiten konnte. Ein zwingender Gegenbeweis gegen die Benutzung der Handschrift würde nur dann vorliegen, wenn im Drucke Textstellen vorhanden wären, welche in der Handschrift fehlen. Hier aber verhält es sich umgekehrt. Erinnern wir an die oben nachgewiesene Uebereinstimmung der Handschrift mit allen sonstigen besondern Merkmalen des Drucks, so bliebe die Benutzung dieser Handschrift durch Ludewig doch immerhin möglich.
Einzelne Umstände scheinen diese Möglichkeit näher zu rücken. Ludewig verdankte nämlich die Auffindung des Rechtsdenkmals dem späteren Reichshofrathspräsidenten Grafen Wurmbrand, der dem Gelehrten einen Wiener Codex übermittelte,5.1 in welchem das damals verschollene5.2 österreichische Landesrecht enthalten war. Graf Johann Wilhelm Wurmbrand, geboren 18. Februar 1670, gestorben 17. oder 27. December 1750, wurde 1694 Niederösterreichischer Landrechtsbeisitzer, 1697 wirklicher kaiserlicher Reichshofrath und 1728 oder bereits 1727 Reichshofrathspräsident.5.3 Graf Wurmbrand war ein [Seite 6] eifriger Historiker und Sammler urkundlichen Materials. Er wurde — wie erwähnt — im Jahre 1694 Niederösterreichischer Landrechtsbeisitzer, und dieser Umstand mag dazu beigetragen haben, dass zwei von ihm im Jahre 1705 veröffentlichte Werke einen grossen Theil ihres archivalischen Materials dem Niederösterreichischen Landesarchive entnehmen.6.1
Unter solchen Umständen könnte die Annahme nahe liegen, dass Graf Wurmbrand den von uns beschriebenen Codex bei seinen Forschungen im Niederösterreichischen Landesarchive aufgefunden und dem Gelehrten Ludewig zur Verfügung gestellt hat.
Andererseits spricht Ludewig (a. O. praefatio, S. 3) von einem "codex vetustissimus in bibliotheca Viennensi", der ihm übermittelt wurde. Mit diesen Worten scheint auf einen Codex hingewiesen zu sein, der sich damals in der Wiener Hofbibliothek, nicht im Landesarchive zu Wien befand. Sollte die Bemerkung des Gelehrten in diesem Sinne zu verstehen sein, dann ist die Annahme ausgeschlossen, seinem Drucke habe die beschriebene Handschrift zur Vorlage gedient.