Was meinte Zwingli mit „Tut um Gottes willen etwas Tapferes“?

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[Editorial]

Ulrich Gäbler war Professor für Kirchengeschichte und Rektor der Universität Basel. – Der Text stützt sich auf einen Aufsatz des Verfassers in der Zeitschrift „Archiv für Reformationsgeschichte“, Jg. 113, 2022.

Was meinte Zwingli mit „Tut um Gottes willen etwas Tapferes“?

Am 4. Juni 1529 erlebte der Grosse Rat von Zürich einen denkwürdigen Auftritt. Der Kopf der reformatorischen Bewegung Berns, Niklaus Manuel, sprach eine Stunde den Ratsherren zu, die über Krieg oder Frieden entscheiden mussten. Wenige Tage zuvor hatte der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli die Zürcher zu einem Krieg gegen die papsttreuen Innerschweizer „Orte“ (heute Kantone) Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug aufgerufen. Eine Stunde lang widersprach der Berner Zwinglis Plänen und führte neben politischen Erwägungen religiöse Gründe an. Gottes Wort ziele auf Frieden und Eintracht, mit Gewalt könne man den „Glauben“ nicht durchsetzen. Um des Leidens Christi willen sollten die Zürcher nicht hitzköpfig sein. Kein anderer Schweizer Zeitgenosse auf protestantischer Seite hat sich jemals so direkt und eindringlich Zwingli entgegengestellt. Der Reformator musste erkennen, dass Manuels Ansprache gegen ihn und seine kriegswilligen Anhänger gerichtet war. Der Rat liess sich beeindrucken. Er folgte Zwingli nicht und sprach sich für Friedensverhandlungen aus.

Krieg oder Frieden

Danach überschlugen sich die Ereignisse. Zwingli kündigte seinen Rücktritt an, am nächsten Tag werde er Zürich verlassen. In dem mit Zürich verbündeten Bern drehte sich der Wind, der dortige Rat desavouierte den abwesenden Manuel, sagte Zürich Unterstützung zu und machte mobil. Zwingli blieb. Die Zürcher ihrerseits beschlossen den Auszug der Truppen. Eine innereidgenössische kriegerische Auseinandersetzung stand zu erwarten. Am 9. Juni 1529 brach die militärische Hauptmacht auf, begleitet von Zwingli, hoch zu Ross und mit einer Hellebarde auf der Schulter. Man zog bis Kappel, an der Grenze des Zürcher Gebiets. Auf der anderen Seite, etwa eine Wegstunde entfernt, lagerte in Baar die Innerschweizer Streitmacht. In einem gedruckten Manifest versuchten die Zürcher einen Angriff auf ihre Miteidgenossen zu rechtfertigen. Noch war es nicht so weit, denn das verbündete Bern sagte Zürich wohl Unterstützung zu, wenn es angegriffen werde, doch von einem sofortigen Losschlagen wollte man nichts wissen. Man forderte stattdessen erneut Friedensverhandlungen. Zwingli stand diesem Vorgehen äusserst skeptisch gegenüber. Für ihn lag der Schlüssel des innereidgenössischen Konflikts bei den katholischen Innerschweizern. Dort herrsche eine katastrophale Sittenlosigkeit, welche die gesamte Eidgenossenschaft in Gefahr brächte. Dieser Zustand müsse beendet werden. Das waren keine Argumente des Augenblicks, wohl aber das Ergebnis einer Entwicklung, die sich seit den Anfängen von Zwinglis Wirken in Zürich verfolgen lässt. Sie gehören zum Kern der politischen Theologie des Reformators.

Zwinglis politische Theologie

Zwinglis Kritik richtete sich auf die Praxis der sogenannten „Fremden Dienste“. Die Teilnahme von Schweizer Söldnern an auswärtigen Kriegen, vor allem südlich der Alpen, hatte Anfang des 16. Jahrhunderts stetig zugenommen. Ein eigentliches Militärunternehmertum entstand. Ausländische Mächte beauftragten einheimische Angehörige der Führungsschicht mit der Rekrutierung von Truppen und entschädigten sie mit Jahrgeldern oder „Pensionen“. Diese Praxis hatte erhebliche Konsequenzen. Die eingeführten Gelder förderten die Bildung einer wohlhabenden Elite („Pensionenherren“), die sich von der übrigen Bevölkerung abhob. Auch die Söldner verfügten über finanzielle Mittel in einem Ausmass, wie es sonst in der bäuerlichen Bevölkerung unbekannt war. Warnende Stimmen prangerten die Abhängigkeit vom Ausland ebenso an wie Kriegslust, luxuriösen Lebensstil, Müssiggang, Eigennutz, Bestechlichkeit. Die traditionellen Eigenschaften der Vorväter würden verleugnet. Genügsamkeit, Bescheidenheit, Gemeinschaftssinn und Frömmigkeit seien kaum mehr zu finden.

Diese Kritik nahm Zwingli auf und fügte den Vorwürfen eine religiöse Komponente hinzu. Seiner Ueberzeugung nach ist das Israel des Alten Testaments ein verbindliches Vorbild für Geschichte und Wesen der Eidgenossenschaft. Das fremde Geld habe zu Verderbnis der Sitten, Verfall von Recht und Gerechtigkeit, zur Gottvergessenheit beigetragen. Der Eidgenossenschaft werde es wie Israel ergehen, das Mahnungen von Propheten in den Wind schlug und als Strafe die Babylonische Gefangenschaft erleiden musste. Am Beispiel des Alten Israel fand Zwingli ein Muster geschichtlicher Entwicklung, das für die Eidgenossenschaft gelte: Verstösst ein Volk gegen Gottes Gebot, treten Propheten auf und rufen zur Umkehr. Nützt dies nichts, folgt das Strafgericht. Diesen biblisch begründeten Geschichtsablauf konnte Zwingli nur behaupten, weil er, im grundsätzlichen Gegensatz zu Manuel, die rechtlich-politische Auffassung vertrat, die Eidgenossenschaft als Ganze sei nicht nur die Summe ihrer Teile, sondern ein „Volk“. Der Reformator sah sich als Eidgenosse für das Wohl des ganzen Volkes verantwortlich. Diese Aufgabe ist zutiefst mit seinem Lebensgefühl verknüpft, denn die Eidgenossenschaft galt ihm als Vaterland, und nicht seine Toggenburger Heimat oder Zürich. Mit diesen Erkenntnissen fand Zwingli nach alttestamentlichem Vorbild sein reformatorisches Ich in der Rolle eines Propheten.

In Zürich liess sich das Verbot der Fremden Dienste nicht lückenlos durchsetzen. In einer Predigt warf Zwingli dem Rat deshalb Versäumnisse bei der Ausmerzung des Pensionenwesens vor. Auf diese Unterlassung werde Gottes Gericht folgen. Um ihm zu entgehen, rief er unter Hinweis auf das Alte Testament (Deuteronium 17, 7) dazu auf, „die Pensionenherren aus unserer Mitte zu entfernen“. Tatsächlich machte der Rat dem angesehenen und betagten Ratsherren Jakob Grebel wegen der Annahme von Pensionen den Prozess. Zwingli begrüsste das Vorgehen und trat als Zeuge auf. Das Verfahren endete mit der Hinrichtung des Angeklagten. Der Reformator war überzeugt, er habe mit seiner Predigt von Gottes Wort das Pensionenwesen zu Fall gebracht und so dem Willen Gottes gehorcht. Daraus folgerte er, die um ihren Wohlstand fürchtende Führungsschicht in der Innerschweiz leiste deshalb energischen Widerstand gegen die Reformation.

Friede ärger als Krieg

Nachdem die gegnerischen Heere Stellung bezogen hatten, wiederholte Bern in unwirschem Tone die Forderung an Zürich, Friedensverhandlungen zuzustimmen. Zwingli fürchtete erneut ein Nachgeben der reformatorischen Bündnispartner. Deshalb sandte er am 11. Juni 1529 aus dem Feldlager von Kappel ein leidenschaftliches Schreiben an seine Obrigkeit. Nachdrücklich ermahnte er die Ratsherren, „tapfer“ zu bleiben im Kampf gegen die Pensionen. Fünfmal fordert er sie zum „Tapfersein“ auf, eine singuläre Häufung in Zwinglis Schrifttum. Beschwörend fügt er hinzu, Gott werde die zerstrittene Eidgenossenschaft noch einmal aufrichten, wenn die Zürcher „tapfer“ seien mit der Beseitigung des Innerschweizer Pensionenwesens. Man werde einen Feldzug gegen die Innerschweizer allein mit dem Ziel führen, die Pensionenherren an Leib und Gut zu strafen. Keineswegs wolle man „Rauben, Brennen und Schlachten“. Es gehe vielmehr darum, Unrecht zu beseitigen und dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Auf freundliche Worte der Gegenseite solle man nicht vertrauen, ein darauf gestützter Friede sei ärger als Krieg.

Am Tag nach Zwinglis Schreiben begannen unter Einschaltung neutraler Vermittler direkte Friedensverhandlungen zwischen den beiden Heeren. Auf zürcherischer Seite war dafür ein Kriegsrat verantwortlich, der sowohl Ratsherren wie Truppenführer umfasste. Gelegentlich zog man Zwingli bei. Die letzte Entscheidung über Krieg und Frieden blieb bei den Räten in Zürich. Die Aussicht auf einen Frieden schien günstig. Von Kriegsbegeisterung konnte keine Rede sein. Die Heerführer der Streitparteien kannten sich von gemeinsamen Feldzügen auf den italienischen Kriegsschauplätzen. Der oberste Zürcher Hauptmann verlangte eindringlich eine friedliche Lösung, Kriegsknechte verbrüderten sich, Nahrungsmittelmangel auf beiden Seiten dämpfte die Kampfeslust.

Um die Verständigung zwischen den beiden Seiten zu fördern, machten die Mittelsmänner einen bemerkenswerten Vorschlag. Sie empfahlen gegenseitige öffentliche Auftritte von Gesandtschaften im anderen Heerlager. Am 14. Juni 1529, um acht Uhr früh, kam eine Delegation der Inneren Orte nach Kappel. Die Krieger gruppierten sich um eine Rednerbühne. Von dort aus riefen Vermittler zum Frieden auf, Zürcher Redner kritisierten Innerschweizer Praktiken, der Luzerner Schulthess - selbst ein Pensionennehmer - warnte davor, sich ins Unglück zu stürzen. Zwingli griff ihn direkt an und hielt an seiner Grundüberzeugung fest, ohne Abschaffung der Pensionen werde es in der Eidgenossenschaft nie Frieden geben. Beide Parteien kamen überein, die weiteren Verhandlungen den Schiedsmännern zu überlassen und währenddessen nichts gegeneinander zu unternehmen.

Bern seinerseits bemühte sich um eine Bereinigung seiner Differenzen mit Zürich. Deshalb sandte der Rat dorthin eine Liste mit Friedensbedingungen und schickte eine Delegation unter der Leitung von Niklaus Manuel hinterher. Bei den Verhandlungen in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni wollten die Berner von den zentralen Forderungen Zürichs und Zwinglis – wie Abschaffung des Pensionenwesens und Bestrafung der Geldnehmer – nichts wissen. Zürich hielt an den bisherigen Bedingungen fest und beauftragte den Kriegsrat in Kappel, mit den Bernern einen Ausgleich zu suchen. Am Vormittag des 16. Juni kannte Zwingli die Beschlüsse. Zu dieser Zeit war auch Manuel aus Zürich bereits in Kappel eingetroffen.

Am selben Tag besuchte die Zürcher Delegation das Innerschweizer Lager. Zwingli gehörte ihr nicht an. Dabei habe sie, wie ein Innerschweizer Bericht festhält, Beschuldigungen vorgebracht und sich in einer langen Predigt besonders mit den Pensionen beschäftigt. Der Auftritt ergab dasselbe Ergebnis wie in Kappel. Gegen Mittag kam die Delegation ins eigene Lager zurück.

Tapferes

Die Nachrichten des Tages mussten Zwingli in mehrfacher Hinsicht beunruhigen. Zwar stützte der Zürcher Rat noch immer die Friedensbedingungen des Reformators, doch die erfolglosen Gespräche mit Bern liessen nichts Gutes erwarten. Die Uebertragung der Verhandlungskompetenz auf den Kriegsrat schwächte wegen des verbreiteten Friedenswillens im Feldlager Zwinglis Position. Schliesslich war von den Vermittlern zu erwarten, dass sie mit aller Kraft auf eine einvernehmliche Lösung hinarbeiten würden. An diesem Mittwoch, 16. Juni 1529, zu Mittag schrieb Zwingli seinen Brief an Bürgermeister und Rat von Zürich mit der Formulierung „Tut um Gottes willen etwas Tapferes“. Das Schreiben beginnt mit der Mitteilung, soeben sei die Delegation aus Baar zu zurückgekehrt. Die Innerschweizer redeten nur schöne Worte, die Zürcher sollten sich dadurch nicht beeindrucken lassen. „Tapfer“ mögen die Herren sein und sich nicht selbst schaden. Nach einer kurzen, nicht zur aktuellen Situation gehörenden Notiz, folgt kurz vor Schluss des Briefes der Satz: „Tut um Gottes willen etwas Tapferes, ich will Euch bei meinem Leben nicht verführen noch etwas geheim halten.“

Aus diesem Brief spricht die grosse Sorge um den weiteren Verlauf der Unterredungen, ebenso wie die feste Ueberzeugung, das Richtige zu tun - und vom Rat zu erwarten - bekräftigt durch die beschwörende Wendung „bei meinem Leben“.

Letzte Sicherheit darüber, was mit dem „Tapferen“ gemeint ist, lässt sich nicht gewinnen. Zwingli hat seinen Aufruf kaum nur auf die Stellungnahme des Rates zu dem Ergebnis der Verhandlungen in Kappel gemünzt. Vielmehr dürfte er ein gewaltsames Vorgehen der Zürcher gegen die Innerschweizer empfohlen haben. Für diese Annahme sprechen seine befürwortenden Aufrufe in den vorangegangenen Wochen, und auch später, sowie seine Ueberzeugung, den Geboten Gottes in der ganzen Eidgenossenschaft Anerkennung verschaffen zu müssen. Zwingli tritt keineswegs für einen „Krieg“ im herkömmlichen Sinne der eidgenössischen Erfahrungen ein. Bis in das Spätmittelalter hinein ging es bei diesen „Kriegen“ um Landgewinn, wie zum Beispiel beim sogenannten „Alten Zürichkrieg“, 1446-1450, zwischen Zürich und Schwyz. Weil der Reformator die üblichen Gewalttaten eines Feldzuges vermieden wissen will, geht es ihm um eine begrenzte Strafaktion nur gegen die Pensionenherren.

In den Friedensverhandlungen setzte sich schliesslich die Berner Position durch. Vom Pensionenwesen war keine Rede mehr. Zwingli beklagte Zürichs Zugeständnisse. Im Jahre 1531 kam es zu einer vergleichbaren Konfrontation zwischen den beiden konfessionellen Lagern wie 1529. Bern hielt sich erneut zurück und mahnte zum Frieden. Zwingli seinerseits drängte wiederum auf eine gewaltsame Lösung. In der Schlacht von Kappel am 11. Oktober 1531 erlitt Zürich eine vernichtende Niederlage. Zwingli verlor sein Leben, nach einem zuverlässigen Bericht „ist er tapfer kämpfend gefallen“.

Ulrich Gäbler. Datum: 2025-02-11