Rudorff, Processus iuris :: Transkription Speer 2017

Rudorff, Processus iuris :: Transkription Speer 2017

[Editorial]

Ausgabe: Ueber den Processus juris des Johannes Andreaͤ. Von Rudorff. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. Bd. XI (1842) S. 100-109. [Bei Aktivierung des Links lädt sich die PDF-Datei automatisch herunter.]

Ueber den Processus juris des Johannes Andreaͤ. Von Rudorff.

Vorstehenden Beiträgen zur Literärgeschichte des Prozesses im zwölften und dreizehnten Jahrhundert mögen sich einige Bemerkungen über ein kleines prozessualisches Werk anschließen, welches zwar etwas jünger, aber seines allgemeinen und dauernden Ansehens wegen nicht minder bemerkenswerth ist.

Johannes Andreä, geboren nach 1270, seit 1302 Professor des canonischen Rechts zu Bologna, seit 1307 zu Padua, von 1309 bis an seinen Tod wieder in Bologna, gestorben am 7. Julius 1348, hielt schon in den ersten Jahren seines Lehramts Vorlesungen über die Decretalen, aus welchen demnächst seine größeste und berühmteste Arbeit, die unter dem Namen Novella bekannte [Seite 100] neue Glossencompilation hervorgegangen ist1. In der auf uns gekommenen Überlieferng beschäftigt sich dieses Werk einzig mit Auslegung der einzelnen Stellen, die Einleitungen in jedes Buch bestehen nur noch aus wenigen Zeilen, die ausführlicheren Inhaltsübersichten sind wahrscheinlich schon vom Verfasser selbst abgetrennt und als für sich bestehende Werke publicirt worden. Vermuthlich ist die kleine Schrift de clericis habentibus privilegium clericale, welche Fantuzzi unter den Werken des Johannes Andreä anführt2, nichts Anderes, als die Summe zum dritten Buch der Decretalen, die Identität der Übersicht des Eherechts und der Summe des vierten Buchs wird längst nicht mehr bezweifelt, durch eine neuere Untersuchung ist auch die des Processus iuris und der summa super secundo libro decretalium außer Frage gestellt worden3. So selten die Schrift über den Clerus ist, so vielfach sind die Einleitungen in das Eherecht und den Prozeß in Handschriften und Ausgaben erhalten. Man hat sogar aus jeder dieser beiden sehr praktischen Materien einzelne besonders wichtige Abschnitte ausgewählt und durch separate Abdrücke vervielfältigt. Auf diesem Wege sind die Summen de consanguinitate und de testibus entstanden, [Seite 101] von denen vorzüglich die erstere in zahlreichen Ausgaben überliefert ist.

Die Abfassung der Summe über den Prozeß, bei welcher wir stehen bleiben, scheint in die Zeit des zweiten und bleibenden Aufenthalts des Johannes Andreä in Bologna gesetzt werden zu dürfen. Eine Baseler Papierhandschrift des funfzehnten Jahrhunderts (C. IV. 11.) hat nämlich in der Formel des Definitiverkenntnisses noch die Jahreszahl 1346. Man könnte diese Zahl für eine später erfundene halten. Es läßt sich aber nachweisen, daß dergleichen Data im Allgemeinen mit dem Alter der Handschriften und Ausgaben fortgehen. So nennt dieselbe Handschrift in einer andern Formel Papst Gregor, worunter ohne Zweifel der Zwölfte dieses Namens gemeint ist, welcher nebst seinem Gegenpapst Benedict XIII. 1409 auf dem Concilium zu Pisa abgesetzt wurde. Dagegen führt die Oppenheimer Duodezausgabe von 1503 [HS.: Kein Digitalisat, nur VD16-Eintrag] in derselben Formel Alexander VI. (1492-1503), die Nürnberger Ausgabe von 1510 und 1512 Julius II. (1503-1513) als Papst auf. Offenbar hat sich also jene Jahrszahl 1346 aus einer ältern Quelle der Baseler Handschrift erhalten, und es wird kaum zu bestreiten seyn, daß sie von dem Verfasser selber und aus der Zeit der ersten Abfassung des Ordo iudiciarius herstammt.

Mit der Benutzung des vorhandenen Materials ist kaum der Anfang gemacht worden, das längst bekannte Metzer Manuscript4 und die Cölnischen alten [Seite 102] Drucke5 sind unter andern noch gar nicht eingesehen, dennoch geht schon aus den bis jetzt verglichenen Handschriften und Ausgaben eine weit verbreitete und dauernde Herrschaft unsers Buchs besonders in Deutschland hervor. In jenen Überlieferungen nämlich sind die Formulare der verschiedenen Prozeßhandlungen durch nähere Angaben der Diöcesen ausgefüllt, in welchen die Handschriften entstanden sind. Zwei dieser Bisthümer, Valence und Viviers in der Kirchenprovinz von Vienne, gehören der gallicanischen Kirche an, alle andern Citate, namentlich des Prager, Mainzer, Speyerschen, Halberstädter und Hildesheimer, so wie des Cölner, Lütticher und Münsterschen Sprengels, beziehen sich auf die Prager, Mainzer und Cölnische Provinz der deutschen Kirche6. In Deutschland sind daher auch die ältesten unter den höchst merkwürdigen Übersetzungen entstanden, durch welche man den wohlgeordneten und von Johannes Andreä lichtvoll dargestellten geistlichen Prozeß über seine natürlichen Grenzen hinaus zu erweitern und in die Gerichte der verfallenen weltlichen Macht einzuführen bestrebt war.

Auf eine dieser Uebertragungen, welche man die oberdeutsche nennen kann, habe ich schon früher und anderswo aufmerksam gemacht7. Sie ist am bekanntesten unter dem Seite 103] Namen Liber iudiciarius oder Gerichtsbüchlein, unter welchem sie in Senckenbergs Sammlung mittelalterlicher deutscher Rechtsquellen aus einer in Österreich erworbenen Handschrift gedruckt ist8. Es erhellt nicht ganz deutlich, ob diese Bezeichnung auf Auctorität oder Erfindung beruht, gewiß aber ist, daß dieselbe in keinem unter den zahlreichen, zum Theil sehr alten Drucken angetroffen wird9. Hier hat das Werk vielmehr entweder noch seinen alten lateinischen Namen Processus juris, oder einen entsprechenden deutschen, wie Ordnung des Gerichts, Ordnung des Rechtens oder es führt einen umschreibenden, eigentlich nur auf den Anfang bezüglichen Titel, von welchem sogleich die Rede seyn wird. Von dem lateinischen Original des Johannes Andreä weicht es durch Weglassung sämmtlicher Formulare und durch einige interessante Zusätze ab. Dem Prozeß selbst nämlich ist eine Anleitung zur gerichtlichen Beredsamkeit und zum richtigen Gebrauch der Curialien vorausgeschickt, welche in den ältesten Augsburger und Eßlinger [Seite 104] Abdrücken "Ordnung zu reden und besonders zu angedingten (Senckenberg hat unrichtig "ungedingten") freundlichen Rechten", in den Ausgaben von 1490 und 1498 aber "Eine Ordnung und Unterweisung, wie sich ein Jeder halten soll vor dem Rechten" genannt wird. Sie ist aus einer deutschen Rhetorik genommen, deren Alter über die seit dem letzten Viertel des funfzehnten Jahrhunderts gedruckten zahlreichen Formularbücher hinauf reicht. Erst mit den Worten "Hernach folgt, was ein Gericht, ein Richter sey und wer dazu gehöre" beginnt die Übersetzung des Johannes Andreä. Aber auch in dieser finden sich zweierlei Einschaltungen: Erklärungen einzelner lateinischer Kunstwörter und deutsche Prozeßgrundsätze. Zu den letzteren gehört unter andern das System der Zeitbestimmungen von dreimal funfzehn Tagen bei der Ladung. Der merkwürdigste Zusatz dieser Art aber steht in der Lehre vom Ungehorsam. An der Stelle nämlich, wo das lateinische Original die Bannformel gegen den Ausbleibenden hat, werden in der Übersetzung folgende Fälle ehehafter Noth aufgezählt: "ungefährlich Gefängniß, Siechthum, der weder zu Kirchen noch zu Straßen mag gehen, Herren-Noth und wilde Wasser und der bei dem Lande nicht wäre ungefährlich". Diese Zusammenstellung der Ehehaften ist wörtlich aus Kaiser Ludwig’s Rechtsbuch von 1346 Tit. I. No. 7. abgeschrieben10. Nur eine nähere Bestimmung des [Seite 105] Begriffs der Abwesenheit ist weggeblieben. Das Rechtsbuch erklärt Jeden für außerhalb Landes abwesend, der sich außerhalb der vier Wälder befindet. Die vier Wälder aber sind der Thüringer Wald, Böhmer Wald, Schwarzwald nnd Scharnitz. Eine so locale, bloß auf Baiern anwendbare Bestimmung konnte natürlich von einem "Tichter" nicht aufgenommen werden, welcher den geistlichen Prozeß für die Fürsprecher und Schöffen der weltlichen Gerichte überhaupt und ohne Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet popularisiren wollte.

Einen ganz andern Charakter als diese oberdeutsche hat die friesische in der Utrechter Diöcese der Cölnischen Kirchenprovinz entstandene Übersetzung, welcher der neuste Herausgeber friesischer Rechtsquellen den Titel "Verfahren der Sendgerichte" gegeben hat11, obgleich sie in den Handschriften "Processus iudicii" oder "Fortgongh des gastelika riuchtes" heißt und in der That eine viel wortgetreuere Übertragung der Summe des Johannes Andreä enthält, als die oberdeutsche Bearbeitung. In ihrer ältesten Gestalt erscheint sie in in einer Wolfenbüttler Abschrift, deren Original, zufolge einer Angabe am Schluß, im Jahre 1457 im Reiderland geschrieben und wahrscheinlich für die Emdener Propstei bestimmt gewesen ist: wenigstens deuten die wiederholten Erwähnungen des Propstes Johannes zu Emden als comissarischen Richters und die Ortsnamen Aurich, Loge bei Leer, Ostel bei Norden und Wirdum in der Oster Vogtei [ Seite 106] des Amts Gretsyhl auf diese Örtlichkeit hin. Die Zeit der Entstehung dürfte noch höher hinauf als das verlorne Original der Oelrichsschen Abschrift und gleichzeitig mit der oben erwähnten Baseler Papierhandschrift zu setzen seyn, denn wie in dieser wird auch hier, in der Formel des päpstlichen Rescripts an den Propst Johannes zu Emden Gregor XII. als Papst erwähnt. — Eine etwas jüngere Überarbeitung dieser Emdener Übersetzung hat Hettema aus einer Oxforder Handschrift theilweise abdrucken lassen. Sie gedenkt in der so eben erwähnten Formel Statt Gregor's XII. Nicolaus V. und dürfte demnach zwischen l447 und 1455 abgefaßt seyn. Aus der Erwähnung des Dechanten Andreas zu Franeker, des Vicarius Douwa zu Franeker, und des Pfarrers (persona) Dowa zu Tzum im Franekeradeel geht ihre örtliche Beziehung auf den Westergo des westerlauwerschen Frieslandes hervor. — Die jüngste Redaction der friesischen Übersetzung endlich findet sich in einer Leeuwardener Handschrift eines größern romanisirenden Rechtsbuchs, von dem Johannes Andreä's Prozeß nur das das erste Viertheil ausmacht. In dieser Umgebung ist zugleich seine Bestimmung eine andere geworden. Er beschränkt sich hier nicht mehr auf ein bestimmtes geistliches Gericht, ja nicht einmal auf die geistliche Gerichtsbarkeit im Allgemeinen, der Prozeß erscheint vielmehr fast ohne alle örtliche Beziehung. Dieser allgemeinen Tendenz gemäß ist in dem Abschnitt über die Gerichtsferien auch ein Satz aus dem friesischen Recht aufgenommen, welchen die andern Bearbeitungen nicht haben. [Seite 107] Dagegen fallen in den Formeln alle Bezeichnungen von Personen, so wie alle Orts- und Zeitbestimmungen weg und für die ausgeschriebenen Namen treten willkürlich gewählte Anfangsbuchstaben ein. Bloß in der Formel der Ladung finden sich Bestimmungen, aus welchen Ort und Zeit der Abfassung hervorgehen. Diese Formel nämlich gedenkt eines Bürgers von Staveren und ist datirt von Bolsward anno domini 1480, altere die post translationis Martini.

Einen ähnlichen beschränkten Zweck, wie die ältere friesische, hat auch eine dänische Übersetzung des Processus iuris von Johannes Andreä, welche neuerdings Kolderup-Rosenvinge herausgegeben, aber als solche ebenfalls nicht erkannt hat12. Sie ist in einer Duodez- und einer Quart-Handschrift, Nr. 447 und 28 der Arne-Magnäischen Sammlung zu Kopenhagen erhalten. Erstere gehörte laut einer Bemerkung am Schluß ursprünglich dem Jens Kaas zu Starupgaard im Stift Viborg. Die Formel des Definitiv-Erkenntnisses ist datirt vom Tage Mariä Heimsuchung (2. Juli) 1499. Dazu scheint freilich nicht zu passen, daß nach den erhaltenen Stammtafeln der Kaasischen Familie jener ursprüngliche Besitzer schon 1489 gestorben seyn soll. Indeß beruht die letztere Angabe wahrscheinlich auf einer Verwechselung, dergleichen sich in diesen Geschlechtstafeln mehrere finden sollen. Das zweite Manuscript ist am Anfang und Ende [Seite 108] unvollständig und hat weder jenes Definitiv-Urtheil noch irgend eine andere Formel, aus der man etwas über seine Geschichte entnehmen konnte. Als Verfasser der durch beide Handschriften überlieferten Übersetzung wird am Schluß der ersteren ausdrücklich Bischof Knud von Viborg angegeben, derselbe, welcher als Verfasser der Glosse zum Jütischen Lowbuch bekannt ist und noch 1477, ja vielleicht noch 1481, in dem zuerst sein Nachfolger Niels Gleb genannt wird, dem Viborgschen Stift vorstand. Seine Arbeit war, wie ebenfalls am Ende von Nr. 447 hervorgehoben wird, zum Unterricht der Ungelehrten bestimmt. Der Herausgeber zieht daraus den Schluß, daß sie keine Übertragung eines fremden Originals, sondern nur ein eigenes Werk des dänischen Bischofs seyn könne. Das Vorkommen von Weingärten und Sclaven, die es in Dänemark nicht giebt, sucht er aus einer Rückübersetzung oder Benutzung fremder Formulare zu erklären. Allein auch in dem lateinischen Original findet sich in den Worten "iura non allegantur — propter imbecillitatem discentium, ad quorum perfectionum haec summula conscripta est" eine ähnliche Schlußbemerkung wie in der dänischen Übersetzung, und im Ganzen ist in dieser das Werk des Johannes Andreä noch genauer als in der friesischen wiedergegeben.

Für die Geschichte des römischen Elements in unserm Prozeß sind diese Thatsachen nicht ohne Interesse. Sie beweisen, daß eine der faßlichsten Übersichten desselben ein Ansehen genoß, dessen sich außer der [Seite 109] gewöhnlich dem Bartolus zugeschriebenen Summe des Arnulphus13, außer dem Buch des Nikolaus de Tudeschis, endlich außer der geschmacklosen Darstellung des Jacobus de Teramo kein anderes prozessualisches Werk aus dem Mittelalter zu rühmen hat. Wäre dieser allgemeine Eindruck ein vorübergehender gewesen, so würden die gegebenen Notizen freilich mehr nur die Natur einer literar-historischen Curiosität an sich tragen. Aber wenigstens in Bezug auf Deutschland müssen wir dem Werke des Johannes Andreä einen dauernderen, bis in die neuere Zeit fortwirkenden Einfluß zugestehen. Den gangbarsten Handbüchern des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts, am meisten dem sogenannten Petrus Termineus, liegt augenscheinlich noch immer die Summe des Johannes Andreä zum Grunde, nur daß ihr einfaches System hier mehr ausgeführt erscheint und mit zahlreicheren und stärkeren Zusätzen aus dem einheimischen Prozeßrecht versetzt ist, als deren in den älteren Bearbeitungen nachgewiesen werden können.

Fußnoten
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6.
Wunderlich l.c. p. XIV.
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8.
Corpus Iuris Germanici — e bibliotheca Senckenbergiana — curavit — Gustavus Georgius Koenig de Koenigsthal. Francof. 1760. Tom. I pars 2. pag. 147-155. — Inwiefern die Wiener Handschriften eines Rechtsgangbuchs, Mss. bist. profan. 59 Mss. theolog. 235. 399., hierher gehören, vermag ich gegenwärtig nicht anzugeben.
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9.
1206612073. Einen neuen Abdruck der Senckenbergischen und Heidelberger Ausgabe von 1490 nebst der Nürnberger Ausgabe des lateinischen Originals von 1510 enthältfolgende Schrift: Jo. Andreae Processus iudiciarius, nebst seinen Übersetzungen, Senckenberg's Gerichtsbüchlein und Ordnung — Rechten. Zusammengestellt und herausgegeben von Hubert Horn. München 1837. 8.
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12.
Om Rettergangsmaaden ved de Geistlige Retter af den Viborgske Biskop Knud. Udgivet af D. Kolderup-Rosenvinge. Kjöbenhavn 1832. 4.
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13.
Die Summe des Arnulphus (S. 84) und Bartolus Tractat de ordine iudiciorum sind dasselbe Werk. Die Herausgeber haben es nur durch eine andere Einleitung unkenntlich gemacht und dann unbedenklich den berühmten Namen des Bartolus vorangeschrieben. Daher auch der Streit über den wahren Autor. Cf. Bartoli tr. de ordine iudiciorum ed. G. A. Martin. Ien. 1826 p. 12.
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