Stelzer, Anfänge des gelehrten Rechts in Kärnten (1977) :: Transkription Speer 2014

Stelzer, Anfänge des gelehrten Rechts in Kärnten (1977) :: Transkription Speer 2014

[Editorial]

Quelle: Winfried Stelzer, Die Anfänge des gelehrten Rechts in Kärnten im 13. Jahrhundert [Bericht über den dreizehnten österreichischen Historikertag in Klagenfurt, veranstaltet vom Veband Österreichischer Geschichtsvereine in der zeit vom 18. bis 21. Mai 1976. Veröffentlichung des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 21)] 212 - 215.

Digitalisiert mit freundlicher Genehmigung durch den Autor von Heino Speer 2014 [Seite: 212]

Univ.-Ass. Dr. Winfried Stelzer (Wien):
"Die Anfänge des gelehrten Rechts in Kärnten im 13. Jahrhundert"

Wenn hier das Problem der Anfänge des gelehrten Rechts in Kärnten angeschnitten wird, so kann es sich selbstverständlich nur darum handeln, einen örtlich begrenzten Abschnitt jenes umfassenden, das ganze Abendland ergreifenden Prozesses der Ausbreitung des gelehrten Rechts skizzenhaft vorzuführen. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts war an den Rechtsschulen in Bologna und Paris auf der Grundlage der Quellen zunächst des römischen, dann auch des kanonischen Rechts eine neue Rechtswissenschaft ausgebildet worden. In der Praxis trat bald das in den geistlichen Gerichten angewandte römisch-kanonische Prozeßverfahren in Erscheinung, für das seit den 1170er Jahren der iustinianische Prozeß und damit auch die legistischen Traktate subsidiär Berücksichtigung fanden. Der maßgebliche Anteil an der Verbreitung des gelehrten Rechts fiel der Kirche zu. Nur im geistlichen Bereich verfügte man zu der Zeit in unserem Raum über die lateinische Schriftkultur, die unumgänglich erforderliche Voraussetzung und zugleich das wichtigste Element dieses "neuen" Rechts. Von hier aus entfaltete sich in der Folge eine vielgestaltige Wirkung, die keineswegs auf die geistliche [Seite: 213]Gerichtsbarkeit beschränkt war, sondern auch den Boden für wesentliche Wandlungen des Rechts- und Verfassungslebens bereitete. Auf völlig neue Aspekte wurde von Othmar Hageneder in seinem Vortrag über "Das Rechtsstudium und die Ausgestaltung des institutionellen Flächenstaates" (vgl. in diesem Band 49 ff.) hingewiesen. Daß die Pflege des gelehrten Rechts zugleich einen wesentlichen Bestandteil der Wissenschafts- und Bildungsgeschichte und ganz allgemein der Kulturgeschichte darstellt, braucht kaum eigens betont zu werden.

Wenn wir uns nun dem eigentlichen Thema zuwenden, so dient uns als vorzügliches "Sensorium" der urkundliche Niederschlag der päpstlichen Delegationsgerichtsbarkeit. Im Gericht der päpstlichen iudices delegati kam selbstverständlich das römisch-kanonische Prozeßverfahren zur Anwendung. Es war daher von vorneherein nur sinnvoll, solche Persönlichkeiten als Richter zu nominieren, die einen Prozeß den Vorschriften entsprechend zu führen vermochten. Der Personenkreis, bei dem die Kenntnis des gelehrten Rechts vorausgesetzt werden darf und der als Träger der Entwicklung anzusehen ist, läßt sich somit im allgemeinen schon aus den Adressen der päpstlichen Delegationsmandate umgrenzen. Hatte man sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch auf einen Personenkreis außerhalb Kärntens als potentielle delegierte Richter stützen müssen, so vermochte man seit den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts auf Persönlichkeiten aus dem eigenen Lande zurückzugreifen. Für die Pontifikate Innocenz' III., Honorius' III. und die ersten Jahre Gregors IX., also die Zeit von 1198 bis in die Mitte der dreißiger Jahre, in der der Grund für die Frührezeption des gelehrten Rechts — zumindest des Prozeßverfahrens — gelegt wurde, finden wir da — ohne Vollständigkeit anzustreben — Bischof Dietrich von Gurk, wiederholt Gurker Dompröpste (zu denen man auch den nachmaligen Bischof Konrad von Brixen zählen darf), zu wiederholten Malen die Äbte von Millstatt, Ossiach, St. Paul und Viktring, verschiedene Pröpste von Maria Saal und Völkermarkt, verschiedene Kärntner Archidiakone bzw. Archipresbiter, darunter die von Völkermarkt und Zeltschach, den Millstätter Mönch Hermann, die Pfarrer von Gurschitz, von Molzbichl, St. Veit und Tiffen, Dekane von Maria Saal und Völkermarkt. Gewiß wurden in dem hier geschilderten Zeitraum auch nicht aus Kärnten stammende Prälaten und Kleriker zu delegierten Richtern postuliert und bestellt, aber man erkennt deutlich, daß ein ausreichendes Reservoir an geeigneten Persönlichkeiten im Lande vorhanden war.

Termini technici und ganze Wendungen des gelehrten Rechts begegnen uns schon in den ersten der leider nur in sehr geringer Zahl auf uns gekommenen Urkunden delegierter Richter: Exceptiones, die res iudicata, liti cessare, testes idonei, litigium sedari (1202 in einer Urkunde, durch die zwei Delegierte kundtun, daß in dem Streit um eine Kapelle die eine Prozeßpartei freiwillig vom Prozeß zurückgetreten sei), advocatus, liti abrenuntiare, in possessionem mittere, introductorem dare, finem canonicum imponere, peremptorie citare, sentenciam petere, probationes, exceptiones, contumax usw. usf. in einer hochinteressanten Urkunde aus [Seite: 214] dem Jahre 1203, die zugleich in aller Deutlichkeit vor Augen führt, daß vor einem solchen Forum ein mit dem gelehrten Prozeßverfahren nicht voll vertrauter Prozeßgegner ohne Advokat nicht mehr in der Lage war, seine Sache im Gericht erfolgreich zu vertreten. Der Einbruch des neuen Rechts muß allen Beteiligten und den zahlreichen Anwesenden eindrucksvoll zu Bewußtsein gekommen sein, nicht zuletzt auch durch die Betonung, mit der in der Argumentation der Richter die consuetudo des römischen Stuhls neben die consuetudo terre gestellt wurde. Die Breitenwirkung eines solchen Prozesses wird man gar nicht hoch genug einschätzen können.

Auch aus weiteren Urkunden gewinnt man den Eindruck, daß das neue Verfahren geläufig gehandhabt wurde. Gewiß haben auch die traditionelle Verbindung zum Süden und die dadurch zwangsläufige Konfrontation — oft genug auch in Prozeßverfahren — mit der wesentlich stärker ausgeprägten Schriftlichkeit im Patriarchat Aquileja das Ihre beigetragen. Dabei ist insbesondere auch die Institution des Notariats in Rechnung zu stellen, die im Patriarchat eine Selbstverständlichkeit war, nördlich der Drau hingegen erst Generationen später Fuß fassen sollte. Die Praxis des Rechtslebens der südlichen Nachbarschaft und die in den ständigen unmittelbaren Kontakten selbstverständlich erhobenen Ansprüche haben sicherlich in vielfältiger Weise stimulierend gewirkt. Daß sich daraus oft genug auch Kompromisse ergaben, lehren nicht zuletzt eigenartige Phänomene wie etwa die diplomatische Zwitterform des besiegelten Notariatsinstruments, auf die Redlich aufmerksam machte.

Eine Übersicht der in Kärnten überlieferten Handschriften des gelehrten Rechts bzw. der in Bibliothekskatalogen faßbaren Texte, die ich etwa für die Zeit vom Decretum Gratiani bis zum Liber Extra Gregors IX. für den Bereich des babenbergischen Herzogtums Österreich bzw. der Diözese Passau zu bieten versucht habe, steht leider noch aus; erwähnt sei immerhin, daß am Ende der fünfziger Jahre des 13. Jahrhunderts Propst Hartwig von St. Virgilienberg in Friesach dem Gurker Domkapitel testamentarisch ein Decretum Gratiani und Dekretalen — wohl eine Handschrift des Liber Extra — vermachte. Auf jeden Fall wird man den Direktkontakt mit Bologna sehr hoch einschätzen müssen. Das schönste Beispiel dafür enthält die Summa de matrimonio des bedeutenden Rechtsgelehrten Tancred von Bologna: Sie ist dem Gurker Dompropst Otto gewidmet. Wenn man der Vorrede glauben darf, so hat Otto das Werk angeregt und Tancred hat seine Summa de matrimonio geradezu für den Gurker Dompropst abgefaßt: Hac itaque consideratione permotus — heißt es wörtlich nach der sachlichen Begründung — ego Tancredus Bononiensis et vestris postulationibus, venerande pater Otto Gurcensis preposite, satisfacere cupiens, summulam vobis de matrimonio compilavi. Die Aufforderung, den Text gegebenenfalls freundlich zu verbessern, die sich unmittelbar anschließt, wird man eher als höflichen Ergebenheitstopos, allenfalls als Schmeichelei auffassen dürfen. Daß der Dompropst selbst ein gelehrter Jurist gewesen sei, läßt sich nicht direkt nachweisen. Die spärlichen Nennungen im urkundlichen Materiale erlauben darüber kein Urteil. Wesentlich scheint hingegen zu sein, daß er sich durch den [Seite: 215] Gurker Notar Gebeno, der seine erstaunlichen Fähigkeiten durch eine Reihe von erst durch Jaksch entlarvten Fälschungen unter Beweis gestellt hatte, die Würde eines Archidiakons für den gesamten Bereich des Bistums Gurk verschaffen ließ. Das Streben nach dem Archidiakonat darf jedenfalls als Zeichen eines ausgeprägten Interesses an der Jurisdiktion interpretiert werden. Zudem scheint auch die Widmung Tancreds auf die feste Absicht Ottos hinzuweisen, in Eheprozeßfällen — und doch wohl nicht nur in diesen — nach dem neuesten Stand der gelehrten Rechtswissenschaft vorzugehen.

Kärnten hat indes zu der Zeit auch einen einheimischen Kanonisten aufzuweisen! Der auch als päpstlicher delegierter Richter belegte, 1264 verstorbene Propst Ulrich von Völkermarkt, Archidiakon von Kärnten, hat drei populäre Werke verfaßt, die gewiß einem allgemeinen Bedürfnis entsprachen. Das 1251 entstandene "Breviarium pauperum", von dem ich zwei Handschriften kenne, bringt eine metrische Übersicht über den Liber Extra, die Dekretalensammlung Gregors IX. Ulrich faßte aber auch — wohl in der Zeit zwischen 1251 und Herbst 1253 — den Inhalt der Novellen Papst Innocenz' IV. in Versen zusammen; dieses Werk ist vor allem für die Überlieferungsgeschichte des innocentianischen Rechtsstoffes wertvoll, da eine sehr frühe Zusammenstellung der Novellensammlung zugrundelag. Das dritte opus, der wohl 1260 verfaßte "Cursus titulorum", bringt nach der Ordnung des Liber Extra die allgemeinen Sätze, Definitionen und Regeln. Alle Werke verfolgen den erklärten Zweck, den rechtsunkundigen Prälaten und Seelsorgern, also Nichtjuristen zu dienen, übrigens die ersten Werke dieser Art überhaupt! Die fünf bzw. sechs in österreichischen Klöstern überlieferten, zum Teil noch im 14. und 15. Jahrhundert kopierten Handschriften des Cursus, zu denen sich eine weitere in Nürnberg gesellt, lassen erkennen, daß das Werk durchaus geschätzt wurde und seinen Zweck erfüllte.

Die Gründe, die im einzelnen zur Ausbreitung des gelehrten Rechts in Kärnten führten, können hier nicht diskutiert werden. Dazu bedarf es noch verschiedener weiterer Vorarbeiten, vor allem der eingehenden Untersuchung der Salzburger Verhältnisse. Die Institution des Archidiakonats und die Tatsache, daß sich mehrere Archidiakone aus dem Kreis der erzbischöflichen Kapelläne rekrutierten, spielt jedenfalls eine bedeutende Rolle. Hier konnte indes nur aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß das gelehrte Recht bereits im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts in Kärnten etabliert war. Daß Verbindungen zu Bologna bestanden, daß man schließlich im Lande über Kanonisten verfügte, die in Bologna studiert hatten und selbst — noch dazu für ein nichtjuristisches Publikum — publizierten, muß ebenso unterstrichen werden wie die Tatsache, daß selbst der Kärntner Herzog Bernhard sich mindestens zweimal um die Bestellung einer Kommission delegierter Richter an die päpstliche Kurie wandte. Durch all dies wurde der Boden bereitet für die souverän geführten Prozesse der 1260er Jahre, die schon von der sozusagen nächsten Generation von gelehrten Juristen verhandelt wurden; ihnen stand bereits eine Fülle von Spezialliteratur und Prozeßhandbüchern zur Verfügung.



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